Es sind kleine Schatztruhen für geschichtsinteressierte Leipziger, diese Jahrbücher für Leipziger Stadtgeschichte, die Geschichtsverein, Stadtarchiv und Stadtgeschichtliches Museum seit vier Jahren gemeinsam herausgeben. Jeder Band ist auch eine kleine Reise durch die Geschichte. In lauter kleinen Kapiteln, die bis jetzt in der Stadtforschung unbearbeitet waren oder gar kleine Rätsel. Oder Opfer von falschen Erzählungen wie die Bücherverbrennung von 1933, die in Leipzig tatsächlich nie stattgefunden hat. Warum, das erklärt Thomas Keiderling in seinem Beitrag.

Wolfgang Metz widmet sich der ersten Leipziger Schwimmanstalt, die eher aus Versehen an der Weißen Elster entstand und heute fast vergessen ist. Christian Schart erzählt vom ebenso fast vergessenen Leipziger Altertumsverein und Sabine Zinsmeyer von sechs längst verschwundenen Grabplatten von Dominikanern aus der Paulinerkirche, deren Zeichnungen aber im Zeichenbuch eines einstigen Leipziger Studenten aus der Lausitz überdauert haben. Es ist – so scheint es – ein geradezu winziges Thema.

Aber es ermöglicht einen Blick in die Geschichte der Paulinerkirche, bevor sie zur Universitätskirche wurde. Denn hier wurden auch die Dominikaner beerdigt, die das Kloster an dieser Stelle bis zur Reformation betrieben. Obwohl die Vermutung im Raum steht, dass nicht jeder Mönch auch ein würdiges Begräbnis in der Kirche bekam. Denn die Bildnisse deuten darauf hin, dass es wohl eher nur die Führungspersonen des Ordens waren, die hier einen Platz in der Gruft fanden.

Was eben auch deutlich macht, wie Geschichtsforschung arbeitet. Sie sammelt nicht nur „Sensationen“, sie versucht die Fundstücke immer auch einzuordnen in ihre Zeitbezüge, versucht Daten einzuordnen und parallele Quellen zu finden. Denn Geschichte ist komplex. Und wird gern unterkomplex erzählt.

Die offenen Enden der Geschichte

Was Andreas Schneider anhand der „Erklärung der Leipziger Radikaldemokraten“ von 1849 zu zeigen versucht, ein Text, der den Blick auf die späten revolutionären Ereignisse in Leipzig lenkt, die oft vernachlässigt werden, wenn es um den Leipziger Teil der Revolution von 1848 geht. Denn da war Robert Blum, die zentrale Figur der Leipziger Ereignisse, längst in Wien erschossen worden. Und oft lesen sich die Verweise in der populären Geschichtsschreibung so, als wäre damit auch das revolutionäre Gären in Leipzig beendet gewesen.

Aber dem war nicht so. Und Andreas Schneider nutzt die „Erklärung“ und die polizeilichen Aktenfunde dazu, um einige der Männer, die auch 1849 noch für eine radikale Demokratisierung des Landes kämpften, aus der Anonymität zu holen. Und es ist nicht der einzige Text in diesem Band, mit dem Persönlichkeiten aus der Leipziger Geschichte wieder einen Namen und eine Biografie bekommen, die in der landläufigen Stadtgeschichtsschreibung bislang schlicht ignoriert wurden. So wie die Künstlerin Philippine Wolf-Arndt, der Conny Dietrich einen Beitrag widmet, oder der Buchhändler Christian Gottlob Hilscher, den René Misterek ins Bild bringt.

Während sich Alexandra Uhlisch auf die Spurensuche nach Paul und Marie Heinze macht, deren Namen auf einem Gedenkstein im Knauthainer Schlosspark zu lesen sind und Generationen zu wilden Vermutungen animiert haben. Nur ist der Gedenkstein gar kein Gedenkstein. Er steht auch gar nicht mehr, wo er ursprünglich stand. Und was laut den Daten wie ein tragisches Ende einer unglücklichen Liebe aussieht, entpuppt sich beim Blick in die Archive als eine durchaus glückliche Ehe – die aber aus anderen, durchaus tragischen Gründen endete. Und gleichzeitig lernt man auch mit Marie Heinze eine – fast vergessene – Künstlerin kennen.

Die Nöte der Archivare

Und wer mit den Vorgängerbänden so ein Gefühl dafür bekommen hat, was für eine pusselige Arbeit das Quellenstudium in den Archiven ist, aus denen Historikerinnen und Historiker immer neue Erkenntnisse und Lebensgeschichten zu Tage fördern, der erfährt mit Anett Müller, was für eine Herkulesaufgabe es ist, ein Stadtarchiv vor der Zerstörung zu retten und dafür immer wieder neue Orte zu finden, an denen das „Gedächtnis einer Stadt“ nicht von Mäusen zernagt, vom Schimmel gefressen oder vom Feuer verzehrt wird.

Sie erzählt die komplette Geschichte des Leipziger Stadtarchivs von 1867, als es noch in den Räumen des Alten Rathauses war, bis 2019, als es – nach einer Unterbringung in der Torgauer Straße – endlich in neue und größere Räumlichkeiten auf der Alten Messe umziehen konnte.

Zwischendurch gibt es jahrzehntelange Kapitel, in denen besorgte Archivleiter verzweifelt darum rangen, das immer weiter wachsende Archiv endlich in sichere und dauerhafte Räumlichkeiten verbringen zu können. Eine Geschichte, die über 100 Jahre stets mit emsigen Diskussionen in den Stadtgremien einherging, wo man die Kümmernisse der Archivare oft gar nicht zu verstehen schien und meist aus „Kostengründen“ Geld und neue Räumlichkeiten verweigerte.

Welche Schätze dann in diesen Metern archivierter Akten gefunden werden können, das führt Karsten Hommel beispielhaft am Bestand „Richterstube“ im Stadtarchiv Leipzig vor. Und ganz ähnlich tut es Doreen Wustig am Beispiel des Bestands des Polizeipräsidiums Leipzig im Staatsarchiv Leipzig, der auch daran erinnert, dass die Polizei einmal eine komplett kommunale Angelegenheit war und die völlig unterbesetzte Truppe aus „Polizeidienern“ bestand, die schon in den 1870er Jahren nicht mehr in der Lage war, Ordnung und Sicherheit in der wachsenden Großstadt wirklich zu gewährleisten.

Ein Thema, mit dem sich Benjamin Gallin in seinem Artikel zu den Leipziger Unruhen von 1873 beschäftigt. Nie davon gehört? Kann sein. Es ist nicht das einzige dieser die Gemüter bewegende Ereignisse, das aus dem eher populären Stadtgedächtnis verschwunden ist, obwohl es der Auslöser für die entscheidenden Debatten der Stadtväter war, die Leipziger Polizei endlich zu modernisieren und so auszustatten, dass man bei Tumulten nicht mehr auf das Militär aus der Pleißenburg angewiesen war.

Auch das so ein Thema, das aus heutiger Perspektive verblüfft: Wie selbstverständlich damals noch nach der Armee gerufen wurde, wenn die ungenügend ausgestattete Polizei mit Aufläufen und Randalen in der Stadt nicht mehr zurande kam. Wobei so nebenbei auch der ewige Spezialverdacht eine Rolle spielte, die Sozialdemokraten hätten hinter dem Aufruhr in der Pleißengasse gesteckt. Was einem dann wieder sehr vertraut vorkommt, wenn man heutige konservative Akteure bei ihren Weltdeutungen hört, bei denen sie die Unruhestifter immer wieder irgendwo links vermuten. War ja immer so. Wird sich wohl auch nicht mehr ändern ….

Aber es hat eben eine Menge mit einer eindimensionalen Sicht auf Geschichte zu tun. Auch deshalb sind die Jahrbücher für Leipziger Stadtgeschichte so anregend: Sie zeigen, dass selbst die unscheinbarsten Ereignisse in der Geschichte der Stadt Leipzig eingebettet sind in eine recht komplexe Gesellschaft und die Verantwortlichen oft in einem Gemengefeld der Interessen operieren, das so eindeutig nicht ist, wie es manches Märchenbuch erzählt.

Marcus Cottin, Uwe John (Hrsg.) „Jahrbuch für Leipziger Stadtgeschichte. 4/2024“ Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2024, 30 Euro.

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