Meist reicht es einfach nicht, wenn die Zeitungen und Sender über einen Kontinent wie Afrika, seine Länder und Menschen berichten. Sie können es nicht vermeiden, dass es dann immer noch der europäische Blick auf Land und Leute ist, nicht die Stimme der Menschen, die dort leben oder von dort kommen. Diese Stimmen macht der Leipziger Verlag Akono sichtbar, indem er konsequent afrikanische Literaturen veröffentlicht. Dazu gehört auch der Roman des in Douala in Kamerun geborene Max Lobe.

Heute lebt er in Genf, genauso wie seine Romanfigur Benjamin, der ebenso aus Kamerun kommt. Ein Land, in dem bis heute die koloniale Geschichte spukt. Bis zum Ersten Weltkrieg war Kamerun deutsche Kolonie. Danach kamen die Franzosen. Aber mit der Unabhängigkeitserklärung 1960 endete die koloniale Abhängigkeit nicht. Schon vorher hatten die Franzosen autoritäre Regime etabliert. 

Und dabei ist es auch nach der Unabhängigkeit geblieben. Auch wenn die Befreiungsbewegung nun schon lange her ist – auch in der Geschichte von Benjamins Familie lebt die Erinnerung noch. Gespickt mit Vorwürfen. Denn das ist ja jetzt eindeutig nicht die Freiheit, von der die Großväter träumten und für die sie starben. Hingemetzelt wurden wie Benjamins Großvater Wolfgang.

Oder hatten sie keine Vorstellung davon, wie man wirklich ein freies Land schafft? Eine Frage, die nicht ganz so beiläufig mitschwingt. Und man darf sich durchaus zurecht an unsere europäische Gegenwart erinnern und die Lust von Millionen Wählern, die Freiheit einfach wieder aufzugeben und autoritären Kraftmeiern die Macht zuzuschanzen. Autoritäre Regime sind so verlockend, weil sie den Menschen die „schwere Arbeit“ abnehmen, sich um den Erhalt ihrer Freiheiten (Mehrzahl) täglich tapfer zu bemühen. Autoritäre Regime brauchen keinen Mut. Sie leben von Feigheit und faulen Ausreden. Aber Freiheit braucht ihn.

Die Freiheit zu tanzen

Und wenn es nur die kleine Freiheit ist, die Benjamin in Genf leben kann: Die Freiheit als homosexueller Mann, der auch noch seinen Traum vom Tanzen verwirklichen kann. Natürlich lässt ihn die eigene Geschichte nicht los. Bei seinen Tanzübungen in der Wohnung blendet sie sich immer wieder ein, tauchen die Erinnerungen an die Kindheit auf, an Vater, Mutter und Geschwister.

An eine Kindheit, die am Ende Risse und Kratzer bekam, als der Vater Kundé merkte, dass sein Sohn anders war als die andern. Und davon, das zu akzeptieren, ist er weit entfernt. Im Grunde sind die Erinnerungen am Ende gespickt mit Abwertungen und Liebesentzug. Das liest sich so leicht, wie hingetanzt.

Im Grunde ist auch Lobes Roman ein einziger Makossa, ein Tanz, wie er in Kamerun populär ist. Er tanzt sich durch seine Geschichte. Denn der Tanz verbindet Benjamin auch im Guten mit seinem Vater, der meistens dann, wenn er sich gegen seine durchaus selbstbewusste Frau Estha nicht durchsetzen konnte, zum Makossa-Tanzen neigte.

Was durchaus lustig ausgesehen haben muss, da der Vater ein eifriger Biertrinker war und einen entsprechend gewaltigen Bauch hatte. Das Moderne mischt sich mit dem Alten, ein Geist von Freiheit mit alten, bornierten Männervorstellungen. Nur gut ist es am Ende eben nicht. Denn im Raum steht das letzte Wort des Vaters: „Du bist nicht mehr sein Sohn.“

Und man merkt – so leichthin dieser Benjamin das erzählt – wie tief die Kränkung sitzt. Und es kommt einem nur zu bekannt vor. So ticken auch viele bornierte weiße Väter, wenn ihre Söhne nicht genau so werden wie sie. Nur: Mit wem kann Benjamin das klären im fernen Genf? Mit der Tante, die ihm geholfen hat, in der Schweiz Fuß zu fassen, geht es nicht. Die hat selbst einen bornierten weißen Christen geheiratet.

Clovis könnte helfen, sein Freund, den er endlich gefunden hat und der ihn zu Protestdemos gegen Politiker aus Kamerun mitschleppt, die gerade die Schweiz besuchen. Demos, die jedes Mal eskalieren, weil die Polizei sofort mit Gewalt reagiert. Das aber ist nicht Benjamins Welt.

Was heißt Vergebung?

Seine eigentliche Sprache ist der Tanz. Und so sieht man ihn sich in seiner Wohnung strecken und dehnen und aus dem Fenster schauen. Von wo aus er auf den Balkon eines alten Mannes schaut, der eines Tages vor seiner Tür steht. Denn er hat eine Botschaft. Denn über mehrere Ecken ist auch er mit ihm und seiner Familie verwandt. Eine Botschaft von seinem verstorbenen Vater, die so gar nicht zu passen scheint zu dem, was Benjamin erlebt hat: „‚Eh ah, Benjamin, mein Sohn, ich liebe dich‘, das ist die Nachricht, die ich dir zu überbringen hätte.“

Eine Nachricht wie aus dem Jenseits. Aber wer sonst sollte Nachrichten der Versöhnung bringen, wenn nicht die Menschen, die selbst erlebt haben, was Hass und Abwertung anrichten. Oder das „Gift des Tribalismus“, das nicht mit dem Abzug der Kolonialtruppen verschwunden ist, sondern die afrikanischen Länder bis heute in blutige Auseinandersetzungen stürzt. Und das auch in Europa noch immer lebendig ist. Nichts anderes sind all die überall aufsprießenden populistischen Parteien, als Parteien eines uralten Tribalismus.

Es vermischen sich also die Geschichten – die politische Geschichte Kameruns und die Familiengeschichte Benjamins, für den die Vatergeschichte mit der Botschaft des alten Mannes nicht zu Ende ist. Im Gegenteil: Jetzt wird Max Lobe erst recht deutlich und zeigt all die Szenen, in denen sich Benjamins Vater dumm und rücksichtslos benommen hat.

Besessen von Männlichkeitsvorstellungen, die in Afrika genauso virulent sind wie in Europa. Und genauso viel Schaden anrichten, Familien zerstören, Hass säen. Denn nur oberflächlich nahm Benjamin die Beleidigungen durch seinen Vater hin. Tatsächlich hasste er ihn.

Vaterbilder

Er hat also mit seinem Vaterbild zu kämpfen. Und das ist nicht einseitig. Er will ihn auch verstehen. So, wie er verstehen will, wie in seinem Herkunftsland immer wieder aalglatte Diktatoren an die Macht kommen konnten. Leute, die auf den Fotos aussehen wie „der ideale Schwiegersohn“. Lassen sich Wähler davon beeindrucken? Genügt ihnen das schöne Bild? Oder vielmehr: der schöne Schein? Während nicht nur der Tribalismus weiter vor sich hin gärt, sondern auch das, was auch Benjamins Vater „die Sache der Weißen“ genannt hat. Als wären alle Freiheitskämpfe umsonst gewesen.

Und man merkt: Das hängt alles zusammen. Die große Freiheit eines Volkes, das seine Fesseln abwirft, mit der Freiheit jedes Einzelnen, seine Träume leben zu können. Aber auch seine Mutter Estha hat ihn gebeten, loszulassen: „Du musst deinem Vater vergeben, hm, mein Beni. Dein Vater bleibt dein Vater. Erst recht jetzt, wo er tot ist, musst du damit abschließen.“

Darum geht es am Ende. Denn wer nicht verzeiht und loslässt, wird nicht frei. Der bleibt gefangen in den Schatten der Vergangenheit. Das gilt im Persönlichen wie für eine ganze Nation. Auch wenn Benjamin nicht weiß, was er seinem Vater vergeben soll. Dabei ist die Liste lang. Aber es geht nicht um seinen Vater. Es geht um ihn selbst.

Das scheint er am Ende auch zu spüren. Wer in den alten Gefühlen feststeckt, hat keinen Platz für seine Gegenwart. Auch kein Mitgefühl, obwohl die ganze Geschichte letztlich tragisch ist. Auch die Geschichte Kameruns: „Wie tanzte Rudolf Duala Manga Bell, der Prinz? Und Ruben Um Nyobè, der Wortführer für die Freiheit eine ganzen Landes, mochte auch er den Makossa?“

Berechtige Fragen.

Reden mit doppeltem Boden

Jeder schleppt so seine Geschichte mit. Und natürlich bleibt die Geschichte offen. Wird immer offen bleiben, solange Menschen in ihren Vorurteilen hängen bleiben, den Hass schüren und die Verachtung. Selbst dann, wenn immer auch etwas anderes mitschwingt.

Man merkt es in den herrlich theatralischen Reden und Gesprächen, mit denen Max Lobe die Protagonisten in dieser Geschichte zu Wort kommen lässt und die Katharina Riebner-Cabald ganz offensichtlich mit richtiger Sprachlust aus dem kamerunischen Französisch ins Deutsche übertragen hat: So ganz eins sind die Sprecher mit ihren ganzen Vorurteilen nicht. Es gibt immer noch einen doppelten dreifachen Boden, der die Reden auch des Vaters oft so ungreifbar macht. Als hätte er es doch nicht so gemeint.

Gerade in diesem Drumherumreden steckt oft auch der Versuch zu erklären, was nicht wirklich zu erklären ist. Und letztlich ist es immer wieder Estha, die ihren Mann bändigt und die Konflikte entschärft. Auch entschärfen muss, denn so selbstbewusst und klug sie ist, muss sie sich dennoch einfügen in das alte Modell einer traditionellen Familie, das ihr Mann behauptet, als ginge es um seinen Ruf. Sein Bild nach außen und sein Bild von sich selbst. Kein Wunder, dass Benjamin diese Welt verlassen musste, um seine Träume leben zu können.

Und am Ende hilft ihm auch, dass er vergeben kann. Auch wenn er es so deutlich nicht sagt. Manchmal ist Vergeben einfach Zulassen, dass alles so war, wie es war. Um dann – erleichtert – in seine Sandalen zu schlüpfen. Wohl wissend, dass das vielleicht nicht so bleibt. Aber so ist das Leben. Es sind nicht die Anderen, die uns die Last von den Schultern nehmen. „Es fühlt sich an wie eine Erleichterung. Ich fühle mich leicht, aber für wie lange? (…) Aber gut, es ist Zeit, das hinter mir zu lassen.“

Max Lobe „Ein Funky-Makossa für die Freiheit“Akono Verlag, Leipzig 2025, 24 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar