Die Deutschen lieben schwere, dickleibige Bücherkost, nicht wahr? Das sind dann ihre „Dichter und Denker“. Die Deutschen bilden sich eine Menge ein. Meist das Falsche. Deswegen verpassen sie ihre Chancen, kämpfen um Gartenzwerge und Knallerbsensträucher und merken nicht, dass die Freude am Denken etwas mit Spritzigkeit, frechen Gelüsten und dem Mut zu tun hat, sich selbst auf den Arm zu nehmen. Und das Seltsame ist: Deutschland hat solche Gesellen, die das können.

Sie bekommen in der Regel keine Buchpreise (weil die nun einmal für dicke, schwere Romane verliehen werden), werden nicht in Talkshows eingeladen oder als Gewissen der Nation befragt, wie Herr A. und Frau C. Aber es gibt kleine, tapfere Verlage, die ihre Kopfnüsse und Kopfgeburten veröffentlichen. Denn dafür gibt es natürlich ein Publikum. Eins, das sich tierisch freuen kann, wenn in kurzen Sätzen die menschliche Fehlbarkeit durch den Kakao gezogen wird. Immer wieder. Mit neuer Lust.

Einer Lust, die die Kenner der deutschen Literatur seit Georg Christoph Lichtenbergs „Sudelbüchern“ kennt. Keine langen Pamphlete schreiben, sondern Behagen und Unbehagen mit Witz auf den Punkt bringen. Zu Lessings Zeiten (der konnte das auch) hieß das noch Sinnsprüche. Heute steht Aphorismus auf der Buchverpackung und die Liebhaber der leichten und spritzigen Medizin wissen, woran sie sind.

Und greifen zu. Und merken dann vielleicht, dass einer der fleißigsten Aphoristiker der deutschen Gegenwart in Leipzig lebt. Unerkannt natürlich. Sascha Heße heißt er und ist eigentlich jeden Tag unterwegs, um die vielen kleinen, so herrlich spitzen Wahrheiten einzusammeln, die im menschlichen Mit- und Umeinander so anfallen, von den meisten Leuten unbemerkt, weil sie ganz und gar in ihrem närrischen Tun gefangen sind.

Und auch nie gelernt haben (auch weil das in der Schule nie drankam), dass die Sprache doppelbödig ist. Voller liebenswerter Fallstricke und unverhoffter Begegnungen.

Die Freude an de Fehlbarkeit

Manches klingt so einfach, braucht aber genau das, was Aphoristiker von Besserwissern unterscheidet: nämlich das Wissen darum, fehlbar wie jeder andere Mensch zu sein, manchmal über die eigenen Füße zu stolpern und trotzdem ein ganzes Leben in herrlichster Unvollkommenheit zu durchschreiten.

Eigentlich die ganze Zeit verblüfft darüber, dass die ernsthaften Leute nicht mal merken, welche Perlen da auf ihrem Weg herumliegen. So eine zum Beispiel – für all die Narren, die ihren Lebenserwerb daraus beziehen, ständig nur die Fehler andere Leute anzuprangern: „Etwas völlig richtig zu machen, ist manchmal der größte Fehler.“

Was hat der Bursche da eigentlich studiert? Komposition, Philosophie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Kulturwissenschaften in Weimar und Leipzig, verrät der Verlag. Die Mischung macht’s. So schaut einer aus vier Richtungen gleichzeitig auf sich und die Welt. Im Mittelpunkt immer: der Mensch, das irrende und fehlerhafte Wesen.

Wir hätten es eigentlich seit Lichtenberg wissen müssen, der es uns genüsslich unter die Nase rieb: Dass wir fehlbar sind und am ehesten noch auszustehen, wenn wir zu unserer Fehlbarkeit stehen. Na gut: Für Politiker gilt das augenblicklich nicht. Da wählen wir lieber die Rechthaber, die nie im Leben einen Fehler zugeben würden. Aber so ist das Leben nicht. Und so ist der Mensch nicht.

Und in Heßes neuester Aphorismen-Sammlung (Er produziert immer wieder neue Säckel davon.) kann man es nachlesen. Da sind wir gemeint. Wir selbst, als wenn wir mal ohne Samtaugen in den Spiegel schauen würden: So sind wir ohne Schminke.

Oder mit dem, was Heße als Quintessenz aus seinem Philosophiestudium mitgenommen hat: „Hohe Schule der Philosophie: Verständnis für das Selbstverständliche aufbringen lernen.“ Er muss wirklich einen guten Philosophieprofessor gehabt haben. Oder eine Professora, die ihr Lehrhandwerk bei Lichtenberg gelernt hat.

Das Selbstverständliche.

Weg-Werfgesellschaft

Für die meisten Leute ist das nicht mal der Rede wert. Sie trampeln darauf herum und halten sich für auserlesen. Und merken nicht mal, wie wertvoll diese kleine Danke ist, mit dem einem andere Menschen mitteilen, dass sie unsere höfliche Geste wahrgenommen haben. Heße: „Dankbarkeit empfinden zu können, sollte uns mit Dankbarkeit erfüllen.“

Man bleibt dran kleben an diesen so leichthin geschriebenen Sätzen. Und es fallen einem tausende Bilder ein. Manche verteufelt und bitter, weil wir den Moment verpasst haben, diese Dankbarkeit zu spüren. Sind wir alle undankbar geworden? Wahrscheinlich nicht. Und trotzdem kneifen wir die Mäuler zusammen, rüpeln herum, setzen die Ellenbogen ein.

Weil irgendwer uns einredet, das stünde uns zu. Wir gehen mit anderen Menschen um, als wären sie ersetzbar. Als wären menschliche Beziehungen ein Wegwerfartikel. So wie wir mit der Welt umgehen, gehen wir auch mit uns selbst um. Oder mit Heße gesprochen: „Nur eines wirft die Wegwerfgesellschaft nicht weg: sich selbst.“

Es sind so hingetuschte Sätze, die mehr erklären als dicke Ratgeber. Sie zeigen uns in unserem Dilemma, ungeschminkt. Ohne Pose. Denn die Grundfrage lautet nun einmal: Wie gehen wir miteinander um? Und wie nicht? Darum geht es. Das braucht keine Revolutionen. Das braucht nur diesen aufmerksamen Blick des Burschen, der um die Viel-Deutigkeit unserer Sprache weiß. Und deshalb auch weiß, wie Sprache verrät und enthüllt. Selbst wenn es der Sprecher gar nicht so gemeint hat. Kurzer Anruf bei Telekom und Co.: „Wie einen Menschen erreichen, der permanent erreichbar ist?“

So sind diese Sätze. Bei denen man merkt, wie es auch in Heßes Kopf knisterte und der Bursche übers ganze Gesicht grinste, weil er wieder so ein Stück Wahrheit über uns in Worte gefangen hat, das natürlich stimmt. Nur: Wie sagt man das den ständig Erreichbaren, dass sie stutzen und mal ihren Kopf einschalten, statt immer nur das Handy? Hallo? Ist da jemand?

Das Unverhoffte

Und man merkt eben auch, dass man diese Situationen kennt, dass Heße nicht über eine anderte Welt schreibt, sondern über diese hier. Und seine garantiert oft selbst frustrierenden Begegnungen mit diesen Ohrstöpseln der dritten Art. Da begegnen ihm auch tröstliche Formulierungen, die den Blick aufs Große und Ganze richten – das Leben eben: „Wer sich auf dem Weg zu sich selbst nicht findet, kann immer noch auf den Rückweg hoffen.“

Das klingt so tröstlich. Es ist auch ein Büchlein für Suchende. Auch für einsame Trostsucher im Café, die damit die Blicke der Umsitzenden einfangen wollen. Was liest der da? Es könnte sein, dass das kleine Büchlein mehr Eindruck schindet als alle Bestsellerromane. Denn es macht aufmerksam. So aufmerksam wie wir meistens gar nicht mehr sind, weil irgendein Mulch aus dem Nachrichtengewaber des Tages unseren Kopf zumüllt. Und wir das Kleine und Unverhoffte vor unserer Nase nicht sehen: „Das Glück hat keine Termine frei? Vielleicht triffst du es an, wenn es gerade Kaffeepause macht!“

Erwin Strittmatter hätte es Selbstermunterungen genannt. Aber der konnte nicht so schön kurz und knapp. Denn Kürze braucht den Mut zum Zuspitzen. Zum Formulieren von Dingen, die im großen Alle-wollen-Mitreden sonst keinen Platz haben. Das kleine Glück – es kann einem schon am Briefkasten begegnen, wenn keine Postsendung darin liegt: „Ein guter Tag ist der, an dem du die Leere deines Briefkastens als Abwesenheit schlechter Nachrichten interpretierst.“

War da was?

Das liest sich wie hingehaucht. Aber wer sich noch an Zeiten erinnert, als man sich über Post im Briefkasten freute, der kann mit solchen Sätzen etwas anfangen. Der weiß, wie sich die Welt verändert, wenn Miesepeter alles auf Rendite trimmen und das kleine Glück in ihren großen Werken keine Rolle mehr spielt. Was dann – zwangsläufig – eine Menge unglücklicher Menschen produziert, die gar nicht wissen, warum sie eigentlich so unglücklich und schlechtgelaunt sind. Und da nicht mehr herausfinden. Nicht einmal Pralinen helfen.

Obwohl: Bei Pralinen kommt es auf die Füllung an. Und mit diesem Büchlein darf ohne Hemmungen genascht werden. Durchaus portiönchenweise. Denn hinter jedem Aphorismus lauert ein kleines Stutzen. So eins, das einen umdrehen und den Weg noch einmal laufen lässt. Weil da was war, was ganz leise an unser Gehirnkästchen geklopft hat.

Sachte um ein bisschen Aufmerksamkeit klopfte. Denn ist dein Leben, durch das du gerade läufst, den Kopf voller Ablenkungen und Mutmaßungen. Und dann hilft ab und zu so ein Stutzen, so ein Stehenbleiben und den Kopf schütteln. War da was? Natürlich. Es braucht immer nur einen, der es auch bemerkt. Und dann mit breitem Grinsen in seiner Brieftasche sammelt. Oder wo immer man die kleinen Erleuchtungen des Lebens sammelt, wenn man unterwegs ist nach fremder Leute Uhrzeit.

Und dann, wenn die Brieftasche voll ist: „Wer seine Gedanken nicht länger als Eigentum beanspruchen will, sollte die Möglichkeit ergreifen, sie einem Buch zu überschreiben.“

Sascha Heße ergriff die Möglichkeit. Denn so wie wir ihn inzwischen kennen, ist er längst dabei, die nächste Brieftasche zu füllen mit Aufgelesenem und Zugefallenem. All den kleinen Splittern, die von unseren Leben hienieden erzählen. Oder unseren wilden Vemeidungsstrategien. Es könnte ja sein, wir lernen was dabei. Owei! Nicht auszudenken.

Sascha Heße „Pralinen mit Menschengeist“ Parodos Verlag, Berlin 2025, 10 Euro.

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