„Als Enkel des NS-Botschafters und Außenministers Joachim von Ribbentrop bin ich sozusagen per Geburt und ohne gefragt zu werden mit der deutschen Geschichte, dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah verbunden. Da komme ich nicht mehr raus“, schreibt Dominik von Ribbentrop gleich zum Einstieg in dieses Buch, mit dem er versucht, die Handlungsweise seines Großvaters zu verstehen, den er nie kennengelernt hat. Dass das ein Spagat werden würde, war ihm auch beim Schreiben bewusst.

Denn immer wieder vergewissert er sich auch im Dialog mit dem Leser, dass er nur ganz rational verstehen will, wie das NS-Reich funktionierte, wie Hitler tickte, warum dessen Denkweise Deutschland direkt in die Katastrophe führte, wie seine Kumpel tickten und die gewöhnlichen Deutschen. Und natürlich dieser Joachim von Ribbentrop, der eigentlich Unternehmer war, ein gut gehendes Unternehmen besaß und gute Geschäftskontakte nach Frankreich und besonders England. Er hätte sich den Nazis nie anbiedern müssen. Und ein geschulter Außenpolitiker war er auch nicht.

Er blieb auch in seiner Zeit als Botschafter und Außenminister ein Außenseiter – in der NS-Führung genauso wie in seinem eigenen Ministerium. Ab 1941 war er regelrecht isoliert. Und trotzdem schaffte er es nicht, sich zu lösen. Im Gegenteil: Selbst im Nürnberger Prozess zeigte er keine Reue. Seine Aufzeichnungen – die Dominik von Ribbentrop mehrfach zitiert – erzählen von einem Mann, der glaubte, sich ganz rational zu verhalten.

Und mehrfach stellt sich der Enkel die Frage: Was ging eigentlich im Kopf seines Großvaters vor sich? Denn wenn seine Erklärungen für sein Handeln stimmen, dann wäre er schon nach der Besetzung der Tschechoslowakei im Dissens mit Hitler gewesen, hätte fortan vergeblich versucht, Hitler zu Friedensverhandlungen zu bewegen.

Erfüllungsgehilfe für Hitler

In Erinnerung geblieben ist Joachim von Ribbentrop aber als Einfädler des Hitler-Stalin-Paktes, mit dem sich Hitler noch einmal freie Hand im Osten verschaffte, um seine nächsten militärischen Schläge vorzubereiten. Worauf kann man sich da verlassen? Ein wesentliches Problem ist, dass wohl die meisten persönlichen Dokumente Joachim von Ribbentrops verloren sind, genauso wie die Dokumente aus dem Außenministerium.

Der Autor muss seinen Großvater und seine Motive also irgendwie rekonstruieren aus den wenigen Dokumenten, die es aus dessen Leben noch gibt. Und aus den Zeitdokumenten, in denen andere den Mann schilderten, der sieben Jahre lang Außenminister des Deutschen Reiches war und den überfallenen Ländern höchst formell die Kriegserklärungen überbrachte.

Der aber auch Verhandlungen führte, mit denen die Probleme, die Hitler als solche betrachtete, in diplomatischen Gesprächen gelöst werden sollten, wie die zu Danzig und dem polnischen Korridor. Verhandlungen, die meist dadurch endeten, dass Adolf Hitler sowieso die militärische Lösung bevorzugte und nach seinen schnellen Erfolgen in Österreich, in der Tschechoslowakei und Polen regelrecht berauscht war von seiner Mission und überzeugt, tatsächlich ein unvergleichliches Genie zu sein, dem alles gelang.

Die gewonnenen „Blitzkriege“ schienen das zu bestätigen, auch wenn sie im Grunde alle nur gelangen, weil Hitler skrupellos vorging und das Völkerrecht systematisch ignorierte.

Was wollte er da also mit einem Mann wie Joachim von Ribbentrop, der zwar in der Anfangszeit, als es darum ging, Großbritannien zu beschwichtigen, ganz offensichtlich die Rolle eines braven Erfüllungsgehilfen spielte, aber spätestens 1938 nur noch eine Marionettenrolle im System Hitler spielte. Ein System, das Dominik von Ribbentrop anhand von Zeitzeugen-Erinnerungen genauer zu beleuchten versucht.

Denn es stimmt ja: Man kann das nationalsozialistische Deutschland nicht begreifen, wenn man nicht versteht, wie das NS-System funktionierte, sogar die Akzeptanz der meisten Deutschen fand, obwohl Hitlers Schergen von Anfang an brutal gegen alle Andersdenkenden, gegen Juden, Menschen mit Behinderung, alle Menschen, die nicht ins rassistische Weltbild der Nazis passten, vorgingen.

Ein gefühlskalter Mann oder nur eine Maske?

Da muss sich der Autor schon beim Schreiben gefühlt haben, als hätte er begonnen, ein riesiges verfitztes Wollknäuel aufzudröseln. Denn wenn man das Denken der Nazis verstehen will, muss man auch den Antisemitismus der Zeit verstehen und das auch in anderen Staaten gepflegte Denken über Rassen und „minderwertiges Leben“.

Aber man muss auch an die gewaltigen Wirtschaftskrisen denken, die die Weimarer Republik überschatteten und am Ende die Wähler zu den radikalen Parteien trieben. Die Frage schwingt immer mit: Wie tickt eigentlich der ganz normale Mensch, der gewöhnliche Deutsche, der irgendwie nur seine Ruhe haben will, ein sicheres Einkommen und das Gefühl, ein angepasstes, gesetzestreues Dasein zu führen?

Warum haben so wenige Menschen den Mut zu echtem Widerstand? Und wie viele Menschen neigen eigentlich dazu, so kriminell und menschenverachtend zu agieren wie die Verbrecher der NS-Zeit? Wo ist die Grenze zwischen Mitläufer und Mittäter?

Alles Fragen, die dem Autor beim Lesen der zugehörigen Erinnerungsliteratur gekommen sein müssen, als er sich in der Corona-Zeit hinsetzte und begann, das Leben seines Großvaters zu befragen. Wobei er ihn trotzdem schont. Vielleicht kann man als Enkel gar nicht anders. Der abweisende, kalte und unsympathische Joachim von Ribbentrop, wie ihn viele Zeitzeugen, die mit ihm zu tun hatten, schildern, kommt eigentlich nicht vor.

„Keine andere Führungsfigur des Dritten Reiches wurde sowohl im Inland als auch im Ausland so ablehnend beurteilt wie Ribbentrop“, fasst das z.B. Wikipedia zusammen. „Insbesondere die Mängel an sympathischen Zügen und sachlicher Kompetenz stießen auf Ablehnung.“

Das ist die Krux, wenn man so einen Mann zu verstehen versucht und das Menschliche an ihm sucht. Oder wenigstens die vernünftigen Motive, die ihn so handeln ließen, wie er das tat. Als hätte dieser von Ribbentrop sich bis zum Ende alle Mühe gegeben, die stahlharte Rolle genauso auszufüllen, wie sie Hitler von ihm erwartete. Und natürlich dreht sich alles um Hitler.

Hitler hat ihn zum Botschafter und zum Außenminister gemacht. Und Dominik von Ribbentrop schildert sehr anschaulich, wie das System Hitler funktionierte. Typisch für autokratische Systeme, in denen ein einziger Mann am Ende alle Fäden in seiner Hand hält, mit Manipulation und Angstmache dafür sorgt, dass seine Befehle ohne Widerspruch durchgeführt werden, und der sich letztlich völlig abschottet und in seiner eigenen Welt (sprich: Blase) lebt.

Wann kippt eine Demokratie in die Autokratie?

Es ist eine Welt, in der es kein Korrektiv mehr gibt und Widerspruch tödlich ist. Wobei de Autor sogar eine Szene schildert, in der sein Großvater hätte aussteigen können, sein Amt niederlegen und sich ins Privatleben zurückziehen können. Doch das hat er nicht getan. Er blieb bei der Stange. Und es hätte eigentlich nicht überrascht, wenn Dominik von Ribbentrop an dieser Stelle laut geschrien hätte: Ich versteh ihn nicht!

Er sieht zwar die späten Fotos seines Großvaters, die ihn verkrampft und verschlossen zeigen. Möglicherweise Zeichen dafür, wie unwohl und falsch er sich in seiner Rolle fühlte, vielleicht sogar depressiv wurde. Grund genug eigentlich, den Bettel hinzuschmeißen. Aber er blieb in seiner Rolle, als würde ihm etwas verbieten, den Posten zu verlassen.

Als hätte er die viel besungene „Wacht am Rhein“ regelrecht verinnerlicht. Wobei der Autor – auch im Gespräch mit dem Schriftsteller und Philosophen Rüdiger Safranski – versucht, das Mitläufertum der Deutschen irgendwie zu begreifen. Ist es wirklich die Faszination der von den Nazis geschaffenen „Gemeinschaft“, die Bewältigung der Wirtschaftskrise, der Abbau der Arbeitslosigkeit? Ist es wirklich allein die Wirtschaft, die dafür sorgt, dass eine Demokratie stabil bleibt und nicht in der ersten Krise in ein autokratisches System abrutscht?

Wobei von Ribbentrop im Gespräch mit Safranski versucht, die Vorgänge in der Gegenwart einzuordnen, denn in Vielem sieht er Parallelen zur späten Weimarer Republik. Kann das also heute wieder passieren? Rutscht die Demokratie ganz unversehens wieder in eine Autokratie, weil die Wirtschaft kriselt und sich die Leute von demokratischen Kompromissen überfordert fühlen?

Wirkliche Antworten finden sie natürlich nicht.

Das ungeschriebene letzte Kapitel

Vielleicht hätte Dominik von Ribbentrop gut daran getan, nach dem Kapitel „1941 – 1945: Wahnsinn statt Widerstand“ einen Punkt zu setzen und auf seine neun Anmerkungen „80 Jahre später“ zu verzichten. Denn sie fügen dem Leben seines Großvaters nichts hinzu, vor allem wirken sie wie eine Ablenkung von den letzten Lebensmonaten Joachim von Ribbentrops, in denen der sich den Verhören und den Nürnberger Verhandlungen stellen musste und am Ende zum Tod verurteilt wurde. Denn eigentlich ist dieses – nicht geschriebene – Kapitel noch viel verstörender als die Zeit davor. Es gibt zwar von Ribbentrops Rechtfertigungsschrift, mit der er sein Handeln im Dienste Hitlers zu erklären versuchte – teils durchaus rational.

Aber es ist, als könnte er einfach nicht aufhören, die Rolle des treuen Roland immer weiterzuspielen, kein Zeichen von Erschrecken, Trauer oder Bedauern zu zeigen. Als hätte er irgendwann beschlossen, nie wieder ein Gefühl zu zeigen, gar eins der Schwäche, das die Nazis ja regelrecht verachteten.

Es bleibt die simple Erkenntnis, dass es im Grunde keinen Zugang gibt zu diesem Mann, also eigentlich auch keinen Weg, ihn zu verstehen, so sehr sich sein Enkel auch bemüht. Zu recht bemüht, weil der Joachim von Ribbentrop vor 1932 tatsächlich ein andere gewesen zu sein scheint als der, der sich bereitwillig von Hitler einspannen ließ.

Dahinter – das stellt Dominik von Ribbentrop richtig fest – steckt ein psychologisches Problem. Wie weit geht ein Mensch, um sich das Wohlwollen von Autokraten zu erwerben? Der Autor formuliert es im Kapitel „Wahnsinn und Widerstand“ so: „Bei fast allen Menschen treiben Emotionen die meisten Entscheidungen, auch wenn sie selbst der Meinung sind, rational und vernunftgesteuert zu handeln. Die Zeit der NS-Diktatur war geprägt von großer emotionaler Kälte. Gefühle wurden als Zeichen von Schwäche gedeutet.“

Und so deutet er es: „Dieser Widerspruch zwischen innerer emotionaler Angreifbarkeit und einer nach außen hin demonstrierten Härte, der Spagat zwischen ‚das Gute doch wollen‘ und ‚Böse doch mitmachen‘, war ein teuflisches und unüberwindbares Dilemma für den Außenminister und vermutlich für den Großteil seiner Generation.“

Die Logik des Wahnsinns

Nur so am Rande: So ticken heutige Neonazis und ihre Mitläufer ja ebenfalls. Und sie begründen ihre fehlende Empathie genauso „rational“ – das geschlossene Weltbild von Nationalisten hat seine eigene, ebenfalls in sich geschlossene Logik. Die ein ganzes Land in den Wahnsinn treiben kann, wenn diese Logik Politik wird. Und Männer wie Joachim von Ribbentrop ganz offensichtlich in eine Situation treibt, in der sie keinen Ausweg mehr sehen als den, die einmal angenommene Rolle immer weiter zu spielen. Selbst dann noch, wenn es eigentlich angebracht gewesen wäre, Gefühle und damit „Schwäche“ zu zeigen.

Dass das „darwinistische“ Denken der Nazis einigen Erscheinungen der Gegenwart fatal ähnelt, wird ebenfalls in diesem Kapitel deutlich. „Die darwinistische Logik, die sich hier zeigte, derzufolge Humanismus und Anstand keine Chance gegen Gewalt und Kampf haben, bildet den Kern des Erklärungsmusters von Verfall und Absturz.“ Das dürfte auch dem Autor bekannt vorkommen. So agieren heutige rechtspopulistische Parteien. Mit derselben unerbittlichen Denkweise, nur mit etwas „modernisierten“ Begriffen.

So gesehen ist natürlich die Beschäftigung mit diesem Großvater höchst aktuell. Denn wenn man sein Agieren nur verstehen könnte, würde es vielleicht auch helfen, einige Vorgänge in der Gegenwart besser zu verstehen. Tatsächlich zeigt Dominik von Ribbentrop sehr viel Verständnis für diesen Mann, den er nie kennengelernt hat. Was nur zu verständlich ist. Man sucht auch als Nachkomme immer den Menschen zu verstehen, ihn zu begreifen in seinen Irrungen und Wirrungen.

Oder in diesem letztlich unverständlichen Ausharren in einem Amt, in dem sich Joachim von Ribbentrop schuldig machte und – wenn man seinen eigenen Niederschriften glauben kann – tatsächlich immer wieder gegen sein eigenes Gewissen agierte. Also bereitwillig die eisige Rolle ausfüllte, die ihm Adolf Hitler zugewiesen hatte, obwohl er mit dessen Agieren immer weniger einverstanden war.

So etwas brennt einen Menschen aus, entkernt ihn regelrecht.

Gewissen und Anstand

Am Ende bleibt nur noch die Rolle und der Mann, der im Gefängnis noch versucht, sein Handeln irgendwie rational zu erklären. Emotionslos, als wäre Diplomatie auch nur ein Jonglieren mit Machtgleichgewichten. Als hätten ihn all die brutalen Vorgänge im Land nicht berührt. Etwas, was sein Enkel so gar nicht versteht. Im Kapitel „Überheblichkeit und Zweifel“, das die Jahre 1938 bis 1941 behandelt, thematisiert er das und fragt sich selbst, in welchem Land er würde leben wollen.

Da geht es dann eben auch um so menschliche Fragen wie Gewissen und Anstand. Und damit letztlich auch um die Frage, warum dieser Joachim von Ribbentrop in dieser entscheidenden Phase, als Hitler sich an seinen Blitzkriegen berauschte, nicht einfach demissioniert hat?

Konnte er nicht mehr aus seiner Rolle? Die Frage beantwortet auch das Buch seines Enkels nicht, auch wenn es Dominik von Ribbentrop durchaus gelingt, die Rolle seines Großvaters im System Hitler greifbarer zu machen und damit auch das System Hitler ein bisschen besser zu verstehen. Gerade weil es auch heute noch immer wieder wie ein Mysterium verkauft wird, das da über die Deutschen gekommen ist.

Aber es hatte eben seine eigene Rationalität. Eine unerbittliche Rationalität, in der Anstand und Gewissen keine Rolle spielen durften. Und da wären wir wieder in der Gegenwart, wo es einmal mehr um diese menschlichen Tugenden geht, ohne die eine friedliche und gerechte Gesellschaft nicht zu haben ist.

Aber das setzt voraus, dass Menschen auch den Mut haben, sich anständig zu verhalten. Und sich nicht hinter Rollen verstecken und das Lied der Wölfe mitheulen, obwohl ihr Gewissen ihnen etwas anderes sagt. Nur bleibt eben offen, ob das bei Joachim von Ribbentrop so war. Sein Enkel würde es ihm gern zugestehen. Aber die wirklich persönlichen Äußerungen, die das bestätigen würden, fehlen. Oder hat es auch nie gegeben.

Aber auch deshalb sind diese „Anmerkungen eines Enkels“ erhellend. Viel näher kann man der verschlossenen Gestalt des Joachim von Ribbentrop wohl nicht kommen.

Dominik von Ribbentropr „Verstehen. Kein Verständnis. Anmerkungen eines Enkels“ Westend-Verlag, Neu-Isenburg 2025, 32 Euro.

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