Woran denken Dichterinnen und Dichter, wenn sie das Wort Tanz hören und die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik sie auffordert, dazu Gedichte einzusenden? Geht da die Fantasie mit ihnen durch oder werden glühwarme Erinnerung zum lyrischen Text? Tauchen die einen in die Faszination erlebter Ballettabende ab und die anderen in ihre hämmernden Gefühle bei einem Besuch in der Diskothek – früher, als das ganze junge Leben noch glühte? Beides ist geschehen. Aber nicht nur das.
Denn das poetische Verhältnis des Menschen zur Welt hat viele Zwiebelschalen. Und die Aufforderung zum Tanz kann viel tiefer gehen, weit hinter die angestrahlten Kulissen des Märchenballetts, auch wenn viele Autorinnen und Autoren, die ihre Texte zu diesem neuen Poesiealbum neu beigetragen haben, die Gelegenheit nutzten, ihre poetischsten Bilder vom Tanz einzusenden.
Oft verbindet sich ja damit ja ein Bild in der Erinnerung, in dem das eigene Dasein tatsächlich als ein Eintauchen in Poesie erlebt wurde. Was man als Bewohner der hektischen Gegenwart ja oft tatsächlich nur erlebt, wenn man sich wirklich einmal wieder einem Tanz hingibt, abhebt, loslässt, schwebt.
Tanzen und Träumen
Oft erleben wir ja die Poesie unseres Lebens erst dann, wenn wir alle Automatismen, nach denen wir funktionieren, ausschalten. Und Tanzen hilft dabei ungemein, ob nun direkt auf der Tanzfläche oder einfach (völlig losgelöst) mitten im Alltag. „Die Beine tun, als wären sie nicht meine / sie schreiten, gleiten, rutschen ins Imaginäre“, beschreibt Martina Bilke dieses Loslassen in „Traumtänzer“.
Denn oft genug tanzen wir ja nur im Traum, gestehen uns diese Leichtigkeit im durchgetakteten Alltag nicht zu. Oft müssen wir gar erst die Orte verlassen, wo uns jeder kennt. Könnte ja peinlich sein, dabei erwischt zu werden (wie es 2022 Finnlands Regierungschefin Sanna Marin passierte), wenn man auf der Straße einfach mal ausgelassen tanzt, wie im Gedicht von Eva-Naria Berg.
Oder wie bei Carmen Jaud in „Izola“ oder Gisela Veges in „Und dann …“ Oder oder. Gerade die Dichterinnen haben Texte beigetragen, die den Tanz in die Fremde verlegen, dorthin, wo man nicht so streng observiert wird, wie man sich verhält. Was das Traumhafte des Tanzens natürlich verstärkt.
„Am Abend bei Sonnenuntergang / Setzt der Herzschlag der Stadt ein“, heißt es z.B. bei Charlotte Ueckert in „Djemma el FNA“.
Deutlicher kann man kaum benennen, dass Deutschland ein ziemlich unpoetisches Land geworden ist, schwerfällig und unlustig. Träumen kann man da nur noch in der Ferne. Oder beim „tanztee“, wie ihn Johanna Hansen beschreibt. Eine Rückzugsnische für diesen Wunsch, einfach mal mit seinem Körper wieder leichtfüßig zu werden.
Das Gegenbild hat Sabine Brandl geliefert mit „Maitanz“ und zwei jungen Leuten, die eigentlich gar nicht auf der Bühne stehen wollten: „beide hatten es nicht gewollt / Zu brav, um sich zu widersetzen …“ Für den Jungen wurde dieses aufoktroyierte Erlebnis zu einem lebenslangen Tanzstreik, das Mädchen wurde zur Dancing Queen.
Der Puls der Erde
Was auch den Widerspruch deutlich macht: Ist man beim Tanzen ganz bei sich und einem das Urteil der Welt egal? Oder fühlt man sich beobachtet und bewertet? – Es ist schon erstaunlich, wie das Thema Tanz die Verkrustungen unserer emotional ausgedörrten Gesellschaft deutlich macht.
Kein Wunder, dass einige Autoren in diesem Band dann doch lieber noch tiefer hinabtauchten, in die Imagination all der Tänze, die unser Leben ausmachen – vom kosmischen Tanz der Sterne bis zum Tanz unseres Lebens – wie Marianne Beese in „Tanz“: „Die schwierigen Zusammenhänge, / die uns das Leben / auferlegt, / lösen sich auf im Tanz …“ Man muss ja nur die Sinne öffnen, wie es Petrus Akkordeon in „an guten tagen“ tut: „an guten tagen / pulsiert die erde / man kann das spüren / wenn man wurzeln / geschlagen hat …“
Man kann sich einklinken in den Tanz des Lebens, der Jahreszeiten, in die eigene Endlichkeit, wie sie Andreas Köllner in „Totentanz“ beschwört: „In der Akzeptanz / irdischer Sterblichkeit / liegt eine seltsame /Ruhe ….“ Es sind diese Ausreißer unter den Texten, die sichtbar machen, dass wir alle auch ohne den Mut, auf die Tanzfläche zu gehen, in große Tänze verwoben sind.
Manche wehren sich dagegen, schließen die Augen davor. Und andere lassen sich ein auf diesen Tanz, weil er unser ganzes Dasein bestimmt. Eigentlich sind wir nur da, wenn wir in diesen Tänzen kreisen. Alles andere ist wie nicht-gelebt, nicht-geträumt, nicht-geliebt.
All unsere Tänze
Und wir spüren das, täglich, weil es uns hin und her reißt zwischen bloßem Abarbeiten und Leben-mit-allen-Sinnen. So wie in Magnus Tautz’ Gedicht „Fragile Umrisse“: „Unsere Glieder sind Rhythmen, in / Nachrichten zerlegt. Jede Durchsage / reißt an unseren Nerven. Zahlen baumeln / in unseren klatschnassen Seelen …“
Man merkt schon: Da haben sich einige wirklich auf dieses Stolperwort Tanz eingelassen. Haben ihm nachgespürt, wissend eigentlich, dass Leben Tanzen heißt. Und wir tot sind, wenn wir unser Leben nicht tanzen. Mal vom Balztanz abgesehen, den Jula Hils in Worte fasst: Und es sind nicht nur die Vögel, die da balzen, sondern auch der Mensch.
Auch das gehört zur Spanne unserer Gefühle: Der eine tanzt sein Leben „wie eine unterwasserpflanze“, so wie in Nicole Drudes Gedicht „sich bewegen“, der andere braucht die Aufmerksamkeit, das Gefühl, gesehen und bewundert zu werden. Erst in der Aufmerksamkeit der anderen wird das Gefühl greifbar, nicht ganz unsichtbar zu sein.
Und so blättern alle, die ihre Gedichte zu diesem neuen Poesiealbum neu beigesteuert haben, lauter verschiedene Facetten des Tanzes auf, oder besser: all unserer Tänze. Denn es gibt ja nicht nur den einen beim Dorffest oder im Berghain oder die grazilen Gestalten im Scheinwerferlicht des Balletts. Viele empfinden ihr ganzes Leben als Tanz, lassen sich darauf ein und spüren dabei auch, dass sie von Anfang an Teil viel größerer Tänze sind.
Man kann sich tatsächlich darauf einlassen. Sollte es vielleicht auch, so wie Helmut Blepp, der mit diesem Lebenstanz auch die Zweisamkeit artikuliert, ohne die der Tanz kein richtiger Tanz ist: „du in meinen Spuren / ich in deinen / bis uns schwindelt / beim Tanz von Baum zu Baum …“
Poesiealbum neu „Bolschoi oder Berghain“, Edition kunst & dichtung, Leipzig 2025, 10 Euro.
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