„Dumm kannste sein, du musst dir nur zu helfen wissen.“ Wer kennt ihn nicht, diesen Oma-Spruch – wahrscheinlich ist er noch älter als sie selbst. Viel älter. Taugt jedoch nicht in allen und für alle Situationen.

Manchmal merkt das Publikum, wenn ich auf den Bühnen oder Präsentiertellern dieser Welt meinen Text nicht sicher beherrsche. Oder mein Gegenüber, wenn ich zu flunkern beginne. Oder ich in „Sekunden der pädagogischen Herausforderung“ (altes DDR-Pädagogen Schlagwort) nicht weiß, was ich machen oder sagen soll. Nach-Denken hilft da in dem Moment wenig, weil er ja da schon vorbei ist, der herausfordernde Moment und ich erst danach ins Grübeln komme.Bin ich auch zuletzt gekommen, als mich der „Neue“, die junge Nachwuchskraft an der Schule, ein studienfrischer Fachkollege, ansprach. In einer der wenigen, so ungesunden Raucherpausen hinter dem Hof des Schulhofes. Mit „Konny“, eigentlich Konstantin*, kann man sofort einen auf ungezwungen machen, da entsteht automatisch ein „Du“.

Menschen, die einen gleich „sehen“, erkennen, dass man miteinander reden könnte und sollte. Durchaus angenehm. Wie auf einem wilden, reißenden Fluss, auf dem man alleine herumrudert; plötzlich erblickt man einen Ebenfalls-Ruderer, er sich auch ins Rennen um den pädagogischen Erfolg ins kalte Wasser gestürzt hat.

„Du sag mal, wie mache ich das konkret … (fragendes Gesicht auf beiden Seiten) – Was? Na, das mit dem Schiller und den ‚Wahn-Worten‘ und dass man es ‚in sich selbst suchen müsste‘? Wenn der eine mich blöde anquatscht in der Stunde oder noch besser: Gar nicht mit mir redet? Soll ich ihn dann einfach ‚machen lassen‘ und nichts sagen?“ (wiederholt fragende, danach denkende Gesichter beiderseits).

Wäre ja immerhin eine Möglichkeit, denke ich. Um Gotteswillen, sei als Lehrer nicht so inaktiv, du muss doch pädagogisch „wirksam“ sein, oder zumindest werden, kann doch nicht nichts tun … Denke ich auch.

Und vergiss dabei nicht, in welchem „System“ du dich befindest. Und das nennt sich so auffordernd wie einschüchternd: Leistungs-Gesellschaft. Und die lässt beim lebenslang geforderten Lernen oftmals zwei Dinge nicht zu, oder hat sie schlichtweg nicht: Zeit und Raum zur Veränderung.

Etwas zu unterlassen, „sein“ zu lassen – vom scheinbar bewährten Kurs, auch vom vorher durchdachten Plan abzuweichen, ist oftmals schwerer als gedacht. Konny erzählte mir begeistert von seinen jungen und jüngsten Erfolgen beim Unterrichten der „Aufklärung“. (Dem gesellschaftlich-bürgerlichen Standardthema der geisteswissenschaftlichen Lehrpläne.)

Wie er ihnen Dialektik erklärt habe, den „Großen“ im Gymnasium. Mit Kant. Mal nicht immer das Auswendiggelernte abfragend, so genial wie schwer zu verstehen: „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen …“.

Die Leipziger Zeitung, Ausgabe 96. Seit 29. Oktober 2021 im Handel. Foto: LZ

Konny erzählte mir strahlend und triumphierend, dass ihm spontan in der Philosophiestunde der Einfall kam, im Internet ein Bild vom Grabstein des Königsberger „Philosophen-Gottes“ zu zeigen …

Dort zeigte es sich schon recht erfolgreich, das vom Wege-Abweichen, von der schnurgeraden Richtung des „Ich-erkläre-euch-das-mal-Vermittelns“. Vielmehr schien ein Pfad gefunden zu sein, beim Erklären die Welt selbst und in dem Fall totes Gestein für sich selbst „sprechen“ zu lassen.

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ (Immanuel Kant, 1724–1804).

Aufklärung – so hatte es der junge Absolvent seinen Schützlingen erklärt – muss notwendigerweise immer ihr Ziel verfehlen, wenn sie „von außen“ an die aufzuklärenden Objekte im Lehr- und Lernprozess herangetragen wird.

Weil sie die Schranke der fremden Belehrung kaum zu durchbrechen vermag. Es muss schon der Eigenwille vorhanden sein, den gilt es zu aktivieren, um dauerhaften Lernerfolg zu garantieren. Und „Garantien“ gibt es im Leben ohnehin nicht, dafür müsste man die Zeit anhalten können, meinte sein „bester Streber“, wie Konny schmunzelnd hinzufügte.

Na bitte, sagte ich zu Konny, da hast du doch schon die „halbe Miete“ drin. Wieso? Fragte er. Na „… in mir.“ Steht bei Kant ganz zuletzt auf dem Königsberger Grabstein. Damit hast du doch die Antwort auf deine Frage und das Rätsel gelöst.

Du selbst hast es in der Hand, im Kopf und bestenfalls im Gefühl, wie du in schwierigen Situationen der „pädagogischen Bewährung“ (auch wieder ein alter DDR-Pädagogik-Slogan) reagieren kannst. Hab keine vorschnellen Antworten und Lösungen parat und dabei, bringe es selbst immer neu hervor.

Was denn? Den Glauben, dass man, dass du verstanden wirst, dass du vor den Augen der Schülerinnen und Schüler, deine Vorbereitung, deinen Plan im Kopf und auf dem USB-Stick beiseitelegen kannst. Eine neue Idee reifen lässt, ihr Zeit und Raum lässt, wenn du kannst.

Und dich nicht beklagst und beschwerst, dass du sie im nächsten, neuen Moment wieder nicht schnell und zügig haben wirst. Und Konny – sagte ich ihm – so hatte ich es mit dem auch kurzen Schiller-Hinweis gemeint. Zur Erinnerung noch einmal seine „Worte des Wahns“, aus dem Jahre 1799 …

„…und den himmlischen Glauben bewahre. Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn, es ist dennoch, das Schöne, das Wahre! Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor,
es ist in dir, du bringst es ewig hervor.“

„Bertolts Bruch und Friedrichs Fiasko: Dieses ewige Hervorbringen“ erschien erstmals am 29. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 96 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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