Wir haben das Sterben zwar weitgehend aus unserem Alltag verdrängt. Aber wenn es uns dann trotzdem trifft, weil ein geliebtes Familienmitglied stirbt, dann berührt das unsere tief verdrängten Gefühle, sind wir ratlos, geschockt, merken, wie sehr uns die Beschäftigung mit dem Tod und der Vergänglichkeit fehlt. Doch wir alle haben nur eine Spanne Leben auf dieser Erde. Da könnte eine zeitige Beschäftigung mit der Sterblichkeit auch der liebsten Menschen helfen.

Und so beschäftigen sich die Autorinnen und Autoren im neuen Heft von „drunter + drüber“ mit einigen Aspekten dieser viel zu oft verdrängten Begegnung mit dem Verlust, den wir eigentlich nicht wahrhaben wollen. Ein Verlust, der schon ganze Zivilisationen beschäftigt hat.

Denn davon erzählt die Begräbniskultur selbst großer Zivilisationen wie die der Ägypter, die die Grabmale ihrer Pharaonen so mächtig in Stein bauten, dass sie noch heute die Reisenden beeindrucken. Und wie sehr das mit ihrem Verständnis von der Reise ihrer Toten im Jenseits zu tun hat, wurde inzwischen gut erforscht.

Aber selbst die Grablegen von Königen und Fürsten erzählen von diesem Wunsch, die Zeiten zu überdauern und der Familie einen Ort zu schaffen, an dem die Generationen ihre Ruhe finden – in Grüften zumeist. Die Wettiner haben ja gleich mehrere davon hinterlassen. Und man kann auch die Fürstengruft in Weimar besuchen, wo Goethe in seinem Sarg trotzdem recht einsam in der Ecke steht neben dem leeren Sarg von Schiller.

Die Gräber der Verehrten

Und schon da merkt man: Menschen brauchen solche Orte, um sich zu besinnen. Auch an den Gräbern und Särgen von verehrten Berühmtheiten. Was nicht nur die großen Dichter der Vergangenheit betrifft, zu deren Gräbern die Anhänger pilgern, sondern längst auch die Stars der Pop-Musik. Auch das findet man im Heft.

Was die Sache ein bisschen leichter macht. Denn wenn ein Todesfall die eigene Familie trifft, ist man sowieso völlig von der Rolle. Da helfen natürlich Rituale. Und in jedem „drunter + drüber“-Heft erzählen natürlich auch Bestatter aus der Region, wie sie Familien dabei helfen, mit dem Verlust umzugehen und einen würdevollen Abschied zu gestalten.

Wohl wissend, wie einschneidend manche Verluste sind. Etwa die von Angehörigen, die sich – wie aus heiterem Himmel – das Leben genommen haben. Kinder, die das erlebt haben, schlagen sich ein Leben lang mit Verlustgefühlen und einem Gefühl der Schuld herum.

Man fühlt sich ja immer verantwortlich für seine Nächsten, möchte eigentlich alles tun, damit es ihnen gut geht. Aber oft kann man nicht in ihren Seelenhaushalt hineinschauen. Und gerade in der DDR waren die Suizid-Raten deutlich höher als im Westen. Es war nicht nur ein Land, das seine Bewohner oft in seelische Nöte trieb. Es tabuisierte das Leiden an einer Gesellschaft regelrecht, die als die bessere und menschengerechtere angepriesen wurde.

Aber noch einschneidender ist natürlich der frühe Tod von Kindern, bis hin zu den Folgen von Fehlgeburten. Ein Thema, das erst in den letzten Jahren so langsam fassbar wurde. Denn lange Zeit ging man einfach davon aus, dass diese Kinderverluste ihre Eltern gar nicht so sehr bewegen dürften. Aber sie tun es doch. Selbst die Zeit der Schwangerschaft schafft schon enge Verbindungen, die man nicht einfach auflösen kann.

Und so wird in diesem Heft auch darüber gesprochen. Auch aus der Perspektive eines Geschwisterkindes. Da wird dann endgültig klar, wie vielfältig unsere Beziehungen unter Familienmitgliedern tatsächlich sind. Und es wird noch komplizierter, etwa wenn Juliane Streich über die Kinder schreibt, die sie nie bekommen konnte.

Auch das ist eine Fehlstelle in unseren Diskussionen über den Tod: Die Leerstelle, an der Kinder aus den verschiedensten Gründen gar nicht erst geboren wurden, obwohl sich die potenziellen Eltern diese gewünscht haben.

Mitten aus dem Leben gerissen

Und wie ist das mit den Situationen, in denen erwachsene Kinder mittenhinein kommen in die oft dramatischen Vorgänge, wenn ein Elternteil unverhofft stirbt? Geradezu im Treppenhaus, eben noch lebenslustig, auf keine Vorsorge bedacht, frisch von der Arbeit – und auf einmal ist alles aus. Bleibt nur das Bemühen der Rettungssanitäter und die Gewissheit: So schnell kann es passieren.

Während andere sich über Jahre quälen, eigentlich schon Abschied genommen haben, doch der Körper will nicht aufgeben. Was ja ebenfalls zu einem Drama in überforderten Familien werden kann. Gerade in unserer Zeit, wo es die einstige Großfamilie nicht mehr gibt, die Kleinfamilien übers Land verstreut sind, Kontakte oft nur noch sporadisch sind und ein völlig überlastetes Pflegesystem die gebrechlich gewordenen Alten nicht mehr aufnehmen kann.

Man ahnt, wie groß und brennend das Thema tatsächlich ist. Und wie sehr es gerade bei den Jüngeren auch mit Selbstvorwürfen und Gefühlen der Überforderung gepaart ist, weil sie sich nicht um ihre Eltern kümmern können, Geld und Kraft dazu nicht reicht. Und sowieso am Ende zu wenig ausgesprochen und geklärt ist. Und die Bekanntschaft mit unverhofften neuen Begleitern am Lebensabend – wie in Denis Bicacics Geschichte – eher die Ausnahme ist. Obwohl wir uns längst hätten Gedanken machen müssen über den Umgang mit den zunehmend vereinsamenden alten Menschen in einer Gesellschaft, die gerade demografisch kippt.

Da scheint es fast skurril, dass sich Menschen dann auch noch Gedanken über ihr Nachleben nach dem Tod machen, jene so gewünschte und doch so trügerische Hoffnung, die Kinder, Enkel und Urenkel würden sich noch an sie erinnern. Da ist der Schritt nicht weit zum Nachruhm berühmter Autoren, über den Tobias Prüwer schreibt. Und zwar konzentriert auf die Frage nach den postumen Veröffentlichungen aus den Hinterlassenschaften der berühmten Autoren.

Denn ist es nicht übergriffig, wenn Verleger aus dem Nachlass Bücher veröffentlichen, die der Autor eigentlich nicht zur Veröffentlichung vorgesehen hatte? Die exemplarischen Fälle: Byron, Kafka, Lindgren. Was wir Leser heute als Geschenk begreifen, war für die Autorinnen und Autoren oft genug direkte Privatsphäre. Da tun sich spannende Fragen auf.

Die Toten und die Lebenden

Wie also umgehen mit den Toten? Eine sehr familiäre Frage, weil sie auch die Frage einschließt: Wie gehen wir mit den Lebenden um? Wie sorgen wir vor, dass wir nicht mit lauter Schuldgefühlen am Grab stehen und uns vorwerfen lassen müssen, nicht genug getan zu haben, nicht genug gefragt, nicht richtig zugehört. Was sich immer auch auf unsere Beziehungen zu anderen Menschen auswirkt. Darauf geht z.B. Lara Schink ein.

Denn unser Verhältnis zu den Verstorbenen spiegelt nun einmal auch unser Verhältnis zu den Lebenden. Und der Tod kann unsere eh schon gestressten Beziehungsgefüge regelrecht zum Einsturz bringen. Wenn da keine Rückversicherung ist, kein Vertrauen, das einen jemand auffängt. Ein Thema, das gerade Alleinlebende heute umtreibt und das Jennifer Sonntag bearbeitet: „Was ist, wenn ich übrig bleibe?“

In gewisser Weise streift das ganze Heft das Dilemma einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder immer mehr zu Einzelkämpfern macht und damit letztlich einsam, hektisch allein in einem System, in dem alles auf Effizienz getrimmt ist und für starke menschliche Bindungen eigentlich kein Platz.

Weshalb die modernen Bestatter das Thema längst aufgegriffen haben und auf Messen wie „Leben und Tod“ auch zur Sprache bringen – mit Gesprächsangeboten für alle, die dieses Unbehagen umtreibt, weil es letztlich jeden betrifft. Denn davor haben letztlich die meisten Menschen Angst: Dass am Ende keiner da ist, wenn das letzte Stündlein geschlagen hat.

Und so wird auch hier deutlich, wie das Thema Sterben im Grunde die heillose Unbehaustheit unserer heutigen Gesellschaft deutlich macht. Und wie groß das Thema tatsächlich ist, auch wenn wir es im hektischen Alltag möglichst zu verdrängen versuchen.

drunter + drüber „Familie und Tod“, FUNUS Stiftung, Kabelsketal 2025, 11 Euro.

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