„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, s i c h z u ä u ß e r n“. ‘Sich zu äußern’ bedeutet, sich auszudrücken: in Bild, Wort, Tat; es ist der Versuch, Selbstwahrnehmungen eine Form zu geben – eine Form aus dem Innersten des Selbst heraus nach Außen zu bringen.

Sich philosophisch zu äußern kann bedeuten, einem inneren Erlebnis metaphorisch ein Bild, einen Ausdruck zu verschaffen. Als Ausdruck ist das innere Erlebnis mitten in die Realität geworfen. Das Individuum setzt so einen Gedanken in die Welt, der zuvor allein in ihm existierte, der nun aus ihm herausgegriffen wird, nach außen gewendet.

So wird ein Teil des Innersten dieses Künstlers zum Gegenstand. Dieses ihm nun Gegenüberstehende – der Ausdruck – ist die Ausgeburt einer Eigenwelt und die Erweiterung derselben – als Äußerung. Sie ist ein Anfang, ja Geburt der Eigenwelt in eine neue Welt hinein. Sich auszudrücken bedeutet den Versuch, begreifen zu wollen, wer man selbst in der Welt der anderen ist.

Die offene Rede ist das Ausdruckschaffen des Parrhesiasten (1), der durch „Mut, Tatkraft, Entschlossenheit, Weitblick, Könnerschaft, aber auch Glück, den Zufall des Kairos ergreift“. Im Gespräch oder Interview lässt er ohne Scheu und Scham heraus, was ihm auf der Seele liegt – ungeachtet irgendwelcher möglicher Fremd- und Außenbewertungen, die ihm Rechtfertigung oder gar Rücknahme des Ausgedrückten abverlangen würden.

Es ist eine große Kunst, sich offen auszudrücken. Künstlerphilosophisch betrachtet sind Philosophie und Kunst als gleichursprüngliche Existenzialtriebe des Menschen zu verstehen, als Triebe, die seiner Fantasie- und seiner Schöpfungsmachtweltinnerlichkeit instinktiv entquellen. Die offene Rede, das Wahrsprechen, ist eine grundlegende Technik des Selbst.

Techniken des Selbst als individuell-existenzielle Stilisierungen des eigenen Lebens im Selbstentwurf, sind die Bedingungen der Möglichkeit, individuell erlebter und gelebter Freiheit grundlegend Raum in seinem Leben zu verschaffen. Es sind Techniken der Einübung in die individuell-existenzielle Freiheit.

Das Titelblatt der 111. und letzten Printausgabe der LZ, März 2023. Foto: LZ
Das Titelblatt der 111. und letzten Printausgabe der LZ, März 2023. Foto: LZ

Freiheit wiederum ist die Voraussetzung der Möglichkeit gemeinschaftlich-gesellschaftlicher und in diesem Sinne demokratischer Formen des Zusammenlebens einer Menschheit, die sich im einzelnen Achtung und gegenseitige Anerkennung entgegenzubringen fähig ist und niemals aufhört, daran zu arbeiten.

Eine humane Gesellschaft wäre weiter mit der Lebenskünstlerin und Philosophin Rosa Luxemburg gedacht, eine solche (Gesellschaft), „in der sich Menschen in ihrem jeweiligen Anderssein respektieren und anerkennen, in der sie sich selbst‚ und einander nicht demütigen müssen, um sich selbst zu erhalten und in der gesellschaftlichen Institutionen nicht demütigend Macht ausüben. Eine menschenwürdige Gesellschaft ist für Rosa Luxemburg eine solche, in der auf allen Ebenen tatsächlich Gleichberechtigung und Selbstmächtigkeit der Individuen garantiert ist, und in der es nicht nur Gleichheit für Gleiche und Gleichere gibt, sondern Gerechtigkeit für alle“. (Volker Caysa)

Die an dieser Stelle seit einigen Monaten abgedruckten Interviews sind Bestandteil eines empraktischen offenen Experimentes, das grundlegende Freiheitstechniken erprobt und die Frage aufwirft, ob Freiheit nicht generell ihren Ursprung und ihre Wurzelhaft im existenziell-individuellen Umgang des Menschen mit sich hat.

Sich nach der eigenen Souveränität wieder und unaufhörlich zu fragen, bedeutet erst souverän zu werden. Wer sonst als der Künstlerphilosoph, der Metatropist, der sich ausdrückende und denkende Mensch, arbeitet an seiner Freiheit Tag für Tag und somit an seiner eigenen Souveränität und über ihn hinaus an der Möglichkeit zur Freiheit aller?

Mein heutiger Interviewpartner ist Alexander C. Er ist Anfang vierzig und studierter Philosoph sowie engagierter Familienvater. Etwas fehlt ihm aber noch: Ein an seinem ganz eigenen existenziellen Sehnsuchtsdrang orientierter Umgang mit seinem Leben und damit sehnt er sich nach einem echt selbstbestimmten Leben. „Ich bin auf der Suche nach meinem Weg, der mir guttut“. (Alexander)

Interview mit Alexander am 18.02.2023

Alexander, wie geht es Ihnen?

Einmal unabhängig von dem Tag, den ich heute erlebt habe und den letzten Tagen – die, glaube ich, wie immer, voller Aufgaben waren: die Bedürfnisse der Kinder erfüllen und die von anderen, was in meinem Leben immer eine sehr große Aufgabe darstellte – bin ich, glaube ich, an einem Punkt in meinem Leben, wo sich mir ganz doll die Sinnfrage stellt.

Was möchte ich mit diesem Leben noch machen? Ich spüre ganz stark, dass ich – welchen Weg auch immer ich gehen will – mit irgendetwas verbunden sein muss, was gemeinhin als „das Herz“ oder „mein Selbst“ bezeichnet wird. Ich bin auf der Suche nach meinem Weg, der mir guttut. Das ist eine Übergangsphase, in der ich mich momentan befinde.

Woher wissen Sie das?

Ich weiß das, weil ich das ganz stark spüre. Es gibt so eine Unzufriedenheit. Ich spüre, dass ich gewisse Dinge immer wieder wiederhole und ich das alles schon kenne und ich merke: auf den Pfaden, auf denen ich wandle, kommt nichts Neues und die Intensität nimmt nicht zu, die Intensität am Leben. Es ist so ein Dahinleben für die Dinge, die man so zu tun hat.

Ich habe nicht den Eindruck, dass ich an die Grenzen dessen gehe, dass ich wirklich aus mir herauskann – ich schöpfe mein Potenzial nicht wirklich aus. Deshalb bin ich zunehmend unzufrieden.

Haben Sie sich, Ihrer Selbstwahrnehmung folgend, in den letzten Jahren verändert?

Ich sehne mich nach Veränderung. Das wird mir klar und klarer. Eine Große Sehnsucht nach – ja: – Veränderung hat mich gepackt. Noch bin ich zu zögerlich, meinem Empfinden nach. Aber ich will springen, die noch etwas vorhandene Mut-Armut schleunigst verlassen und „einfach“ springen: Mitten hinein ins Offene. Nachgedacht habe ich in den letzten zwei Jahren sehr viel darüber. Nun ist’s an der Zeit, es zu tun!

Mich stärkt der mir immer doch wieder bewusst werdende Gedanke, dass ich nicht allein bin. Ich habe de facto Rückhalt – ich habe Familie. Ich brauche keine Angst zu haben vor dem eigenen notwendigen Sprung und alles Nachdenken verhindert den Akt des Springens selbst. Deshalb habe ich mich vor allem einer großen Freundschaft verschrieben: der Freundschaft mit dem Unbekannten, Offenen … Das bedeutet vor allem auch: eine Wendung zu mir selbst.

„Ins Offene“ von Konstanze Caysa.
„Ins Offene“ von Konstanze Caysa.

Ein ganz bedeutender Einfluss für mich war jetzt eine persönliche Krise, ausgelöst ganz klassisch könnte man sagen, durch eine Trennung. Dadurch, dass sich meine Partnerin entschlossen hat, die Liebesbeziehung zu mir zu beenden. Das hat mich schlagartig aus meinem eingespielten Leben rausgeschmissen, sofort. Ich konnte mich nicht mehr hinter meinem Alltag verstecken, hinter der Familie. Plötzlich stand ich wieder allein da, ganz für mich.

Die Partnerin war weg. Die Kinder waren noch da und deren Bedürfnisse. Aber plötzlich stand ganz klar die Frage vor mir: Was ist eigentlich mein Bedürfnis? Was tue ich dafür? Ganz stark hab ich gemerkt, dass ich meine Bedürfnisse immer hinten angestellt habe. Zehn Jahre lang. Immer, wenn die sich gemeldet haben, dann hab ich nichts verändert, sondern bin in mir verharrt.

Die Unzufriedenheit aber darüber, dass ich nichts verändere, habe ich eher ertrunken – im Wein, oder … hab es eben ignoriert … ich versuche jetzt besser hinzuschauen, denn ich merke, dass ich so nicht vorwärtskomme.

Dieses Bewusstsein von einem innerlichen Zustand, der bedeuten könnte, lebendig tot zu sein. Das heißt für mich, dass ich vielleicht einige Zeit so zwischenbewusst die eigene Entwicklung vermieden habe, indem ich zwar gern und auch liebevoll, aber außenbestimmt, mich in allem Tun außer Acht ließ.

Ich denke, es ist wichtig, ja notwendig, dass man sich selbst etwas vorgibt, sich selbst einen „roten Faden“ knüpft und so einerseits im Moment und zukünftig an sich selbst arbeitet. Vielleicht ist das gar die Voraussetzung dafür, dass man selbstbestimmt fremde oder äußerliche Wünsche und Bedürfnisse gut erfüllen kann.

Ich habe es vermieden, mich mit mir auseinanderzusetzen, um das Zögern und Problem, das meiner Selbstwahrnehmung nach für mich ein existenzielle ist, noch einmal auf den Punkt zu bringen.

Charakterisieren Sie Ihre Zeit! Versuchen Sie das bitte so dicht wie möglich!

Hmmm, was sind das für Zeiten, in denen ich JETZT lebe … für mich sind es kritische Zeiten, ganz doll selbstkritische Zeiten, außerdem ganz stark desillusionierende Zeiten. Es sind enttäuschende Zeiten – insofern sich von dem, wovon ich glaubte, es sei eine Basis oder etwas im positiven Sinne Festes für mich im Leben, ent-täuscht hat. Vieles löste sich auf und war als Täuschung entdeckt.

Es sind Zeiten, in denen ich erfahren habe, dass ich im Leben wirklich allein bin, dass ich allein durch diese Welt gehe. Selbst in einer Partnerschaft oder mit den Kindern ist die Trennung meiner zu allem oder auch allen anderen Existenzen deutlich spürbar. Ich habe nichts und niemanden als die fehlende Hälfte, um endlich ganz sein zu können, erfahren, entdeckt.

Ich glaube, dass es diese „fehlende Hälfte“ vielleicht gar nicht gibt. Das war ja Platons Idee von dem Kugelmenschen, der von Geburt an auf der Suche ist nach seiner anderen Hälfte, die ihn vervollständigt. Dieses Ideal hat sich irgendwie komplett enttäuscht. Aber vielleicht ist auch das wiederum selbst eine Täuschung.

Auch sind es Zeiten, in denen ich auf der Suche bin nach so etwas wie einem Grund – in mir selbst. In den letzten Wochen musste ich ganz oft an den Ansatz von René Descartes denken, als er sich hingesetzt hat und merkte: Alles ist wüst und er will wissen, was fest ist. Woran kann ich mich festhalten? Daran arbeite ich im Moment auch viel, dass ich glaube, dass es vielleicht nichts gibt, woran ich mich halten kann.

Ich bin auf der Suche. Eine Konstante in mir – ob’s die wohl gibt? Etwas, das mich halt trägt und ich habe die Hoffnung, dass diese Sehnsucht nicht enttäuscht wird. Ich bin im Moment so ernüchtert, dass ich nicht glaube, dass es das gibt.

Es sind ernüchternde Zeiten.

Ich meine das nicht einmal gesellschaftlich, nein: Ich versuche gerade, meinen Weg zu finden, setze mich mehr mit mir auseinander, bekomme die äußeren Krisen wie Krieg und Ukrainestreit und Corona etc. wirklich am Rande mit. Da sich aber so viele Narrative auflösen, die sich so im Laufe der Jahrzehnte meines Lebens angesammelt haben, habe ich kaum Interesse an fremden Narrativen, die nichts mit existenziellen Lebensfragen zu tun haben.

Klar kann man die da entdecken, aber das ist nichts für mich. Es ist nichts für mich, wenn ein Außen einen zum Äußersten treiben will und das Innerste zu besetzen sucht. Diese Art der Sklaverei und Entmenschlichung prallt an mir ab.

Ich stelle meine eigenen Lügen, mit denen ich gelebt habe, zur Rede. Dann können die äußeren Lügen, die von Außen herangetragen werden und unweigerlich bei den meisten entstehen in dieser krisenüberhäuften Zeit, die propagandistisch sich wiederholende Motive und Bilder zur Grundlage haben für den Versuch, jedem einzelnen diese Bilder und „Wahrheiten“ einzubrennen, selbst souverän durchdacht werden. Dann erst kann man sich doch positionieren, oder?

Es sind schwere und, damit in Verbindung: aufklärende Zeiten. Es klärt sich etwas … Ich lebe in einer Phase der Selbstaufklärung oder Selbst-Klärung. Ich schaffe Raum für etwas Neues.

Welche Rolle spielen Sie in der eben von Ihnen so geschilderten Zeit?

Wenn ich den gesellschaftlichen Rahmen und Raum mitdenke, dann sehe ich mich in dieser Zeit als Repräsentant von etwas Unaufgeregtem, Wahrnehmendem, Beobachtendem. Ich erlebe viele Menschen um mich herum, die sich so aufregen über Dinge, die Meinungen unreflektiert annehmen und diskutieren wollen ohne eigenes Fundament kritischer existenzieller Selbstreflexion. Sie meinen, dass sie für ihr Recht eintreten wollen oder müssen.

Die Dinge sind, wie sie sind, denke ich. Vieles kann man gar nicht ändern. Ich möchte gern in der Nähe sein, um einigen zu helfen, möchte ein Beispiel dafür sein, dass man nicht einfach alles so unreflektiert annimmt. Ich kann die Parteienpolitik nicht ändern – in dem Sinne die momentan politisch herrschende Macht auf der Welt. Ich möchte aber dieses Unaufgeregte in den konkret gesellschaftlichen Raum mit hineinnehmen. Ich mach das, weil es mir einfach passiert.

Ich streite mich nicht, ich setze mich auch nicht für mein Recht ein. Manchmal, indem ich klar versuche zu sagen, was mich stört und was mich nicht stört. Aber ich will niemanden überzeugen. Jeder muss sein Leben haben, deshalb muss man auch tolerant sein.

Wichtig ist doch, die Dinge zu ändern, die man ändern kann und nicht an den Dingen, die man nicht ändern kann zu verzagen. Ich bin, glaube ich, kein aktiver Gestalter dieser Zeit, aber ich nehme ganz viele Impulse auf und wahr und vielleicht kann ich das selbst auch nicht richtig einschätzen und ich gestalte auf diese Weise. Dann müsste man über den Begriff des „Aktivismus“ oder des Aktiv-Seins näher nachdenken.

Ich will und lasse mich nicht anstecken von der Hysterie, die viele derzeit befällt. Ich bin auch nicht so anfällig dafür. Ich sehe mich eher als einen Ruhepol. Bei mir kann man einfach sein, wie man ist, wenn man will. Jeder, der mich auch sein lässt, wie ich bin.

Danke Ihnen für das offene Gespräch, Alexander!

(1) Zum Begriff der Parrhesia siehe auch: „Leipziger Zeitung“ 104, 29.07.2022, „Im Gespräch mit Konstanze“

„Im Gespräch mit Konstanze (11): Das Interview als Technik des Wahrsprechens – die offene Rede.“ erschien erstmals am 31. März 2023 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 111 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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