Encrochat gilt als „WhatsApp der Unterwelt.“ Eine klandestine Kommunikationstechnik, die auch von Mitgliedern des organisierten Verbrechens genutzt wurde – bis spezialisierte Ermittler aus Frankreich und den Niederlanden die verschlüsselten Handys knackten. Die Folge: hunderte Verhaftungen allein in Deutschland. Auch Leipzig steht nun ein Verhandlungs-Marathon gegen mutmaßliche Drogenhändler bevor. Die holprige Eröffnung eines Verfahrens vor dem Landgericht am Mittwoch offenbarte aber viele Probleme. Wird der große Coup der Polizeibehörden zum Bumerang?

Spezial-Ermittler knacken den Code der Unterwelt

Die Idee war im Prinzip simpel: Ein eigener Messenger-Dienst plus speziell ausgestattete Smartphones mit Abhörschutz – und fertig war das Geschäftsmodell, mit dem der dubiose Anbieter Encrochat wohl nicht nur integre Kundschaft anzog, die ihr Recht auf Datenschutz ernst nahm, sondern auch Angehörige des organisierten Verbrechens. Ungeniert – man fühlte sich ja sicher – sollen Schwerkriminelle sich mit Hilfe des Anbieters über geplante Aktionen ausgetauscht und mit ihrem Reichtum geprotzt haben.Jedenfalls bis zum Frühjahr 2020. Damals konnten Ermittler-Teams aus Frankreich und den Niederlanden gemeinsam mit den EU-Behörden Europol und Eurojust die geheime Kommunikation knacken. Die teuren Krypto-Handys, technisch abgerüstet und daher mit weniger Angriffsfläche, dazu auf verschlüsselte Kommunikation angelegt und mit speziellen Löschfunktionen – sie waren nun keine Black Box mehr. Das BKA hatte im April 2020 Datensätze mit Bezug zu Deutschland von den europäischen Kollegen erhalten.

Rauschgift, Waffen, Munition

Aus Sicht der Wiesbadener Behörde war die Auswertung des brisanten Materials ein „nachhaltiger Schlag gegen die organisierte Rauschgiftkriminalität“, heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung. Seit März 2020 hatte das BKA im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main gegen Nutzer von verschlüsselten Smartphones wegen Verdachts unter anderem auf Drogenhandel ermittelt.

Im Zusammenhang mit den geknackten Handys seien über 2.250 Ermittlungsverfahren eingeleitet, 360 wesentlich vorangebracht und 750 Haftbefehle vollstreckt worden, auch in Sachsen. Außerdem stellten die Fahnder bei Razzien riesige Mengen an Rauschgift, Waffen und Munition sicher, dazu Vermögen in Millionenhöhe. „Die bundesweiten Ermittlungen werden die Strukturen der Tätergruppierungen erheblich schwächen“, gibt sich die Behörde siegesgewiss.

Leipziger soll mit großen Drogenmengen gedealt haben

Tatsächlich? Vor dem Leipziger Landgericht jedenfalls zeigte sich am Mittwoch, dass der Prozess gegen mutmaßliche Drogendealer, die durch die Encrochat-Daten gefasst wurden, nicht nur extrem zähflüssig sein kann – er könnte sich letztlich gar als totale Pleite für die Strafverfolger erweisen.

Aktuell muss sich der junge Leipziger Kevin B. verantworten, dem die Staatsanwaltschaft unter anderem sechs Fälle des unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln von Frühjahr bis Sommer 2020 vorwirft. Demnach entschloss sich der 27-Jährige spätestens im März 2020, durch Drogenverkauf im Leipziger Stadtgebiet viel Geld zu verdienen.

Die Rede ist von fünfstelligen Beträgen und kiloweise Marihuana und Metamphetaminen, die auf diese Weise den Besitzer gewechselt haben sollen.

Verteidigung will Verfahren eingestellt sehen

Doch schon die Verlesung der Anklageschrift verzögerte sich massiv, weil die Verteidigung von Kevin B. zunächst die drei Berufsrichter als womöglich befangen ablehnte. So sei die Gerichtsbesetzung dem Angeklagten viel zu spät kommuniziert worden, zudem hätte die Kammer das Verfahren gegen einen mutmaßlichen Komplizen von Kevin B. unzulässig abgetrennt, monierte der Münchner Rechtsanwalt Nico Werning.

Damit habe das Gericht einen Wissensvorsprung, das Gebot eines fairen Prozesses sei verletzt. Überdies sei auch die Besetzung der Strafkammer fehlerhaft.

Während sein Mandant schwieg, legte der Verteidiger kurz darauf nach und verlangte die Einstellung des Verfahrens sowie die Aufhebung des Haftbefehls.

Anwalt: Daten dürfen nicht verwertet werden

Sein Argument: Die konfiszierten Encrochat-Dateien seien ohne ausreichenden Anfangsverdacht von den Polizeibehörden infiltriert worden, es bestehe daher ein Beweisverwertungsverbot. Allein die Nutzung eines verschlüsselten Kommunikationsdienstes könne keinen Verdacht auf eine Straftat begründen, schließlich würden auch etwa Journalisten und Aktivisten einen solchen Provider zur Weitergabe sensibler Informationen nutzen. Es liege ein massiver Eingriff in den Datenschutz vor, auch die rechtliche Absicherung des Datenaustauschs mit den europäischen Nachbarländern sei nicht sauber.

Rückenwind mag der Anwalt durch die jüngste Entscheidung einer Berliner Richterin verspürt haben, die mit ähnlicher Argumentation die Verwendung von Encrochat-Material als Beweis erstmals untersagt hatte. Dieser Beschluss ist zwar einzelfallbezogen und noch nicht rechtskräftig, da die Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt hat. Doch Insider befürchten, dass das Urteil als Blaupause für weitere Verfahren dienen könnte. Dies wäre eine kaum zu überschätzende Klatsche für die Ermittler. Dann könne man es auch lassen, ist hinter vorgehaltener Hand zu hören.

Weitere Prozesse stehen in Leipzig noch bevor

Der Prozess gegen Kevin B. ist bis 4. August terminiert und wird voraussichtlich kommenden Mittwoch fortgesetzt – Ausgang offen. Insgesamt wurden aktuell zehn Encrochat-Prozesse vor dem Landgericht Leipzig angesetzt, allesamt aus dem Bereich der Drogenkriminalität.

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