Der Vorfall sorgte über Leipzig hinaus für Schlagzeilen: Rund drei Jahre nach einer körperlichen Auseinandersetzung im Rahmen einer Fahrkartenkontrolle am Waldplatz verurteilte das Amtsgericht einen ehemaligen LVB-Kontrolleur am Dienstag zu einer Bewährungsstrafe: Der 58-Jährige habe sich durch Würgen der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht.

Den 16. Juli 2020 wird Nicholas K. wohl nie vergessen. An jenem Donnerstagnachmittag war der junge Australier mit seiner isländischen Freundin in einer Leipziger Straßenbahn stadtauswärts auf dem Heimweg, als sie ohne Fahrausweise in eine Kontrolle gerieten. Schlussendlich lag der heute 31-Jährige an der Haltestelle Waldplatz auf dem Boden, festgehalten im Würgegriff durch einen LVB-Fahrausweisprüfer, der erst nach mehreren Minuten und Rufen vom Geschädigten abließ. Ein durch zufällig anwesende Mitarbeiter des Stadtmagazins „Kreuzer“ gedrehtes Video ging damals viral und diente auch im Prozess als Beweismittel.

Geschädigter verletzt und traumatisiert

Fast drei Jahre danach verurteilte das Leipziger Amtsgericht den ehemaligen LVB-Kontrolleur Andree P. heute zu einer Bewährungsstrafe von 14 Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung. Der 58-Jährige, der nach dem Vorfall suspendiert worden war, schwieg während der Gerichtsverhandlung zum Tatvorwurf, wie er in der Anklageschrift formuliert war: Demnach habe er den auf frischer Tat ertappten „Schwarzfahrer“ Nicholas K. im Rahmen einer Auseinandersetzung zu Boden gedrückt und den Hals des damals 28-Jährigen minutenlang umklammert, obwohl der junge Mann signalisierte, keine Luft mehr zu bekommen.

Der Australier erlitt durch den Übergriff neben einer bis heute anhaltenden Traumatisierung und Angst vor Straßenbahnen und Uniformen Hautabschürfungen, Hämatome sowie längere Schluck- und Atembeschwerden, schwebte zwischenzeitlich in Todesangst. Im Prozess trat er als Nebenkläger auf und schilderte dem Gericht am Dienstag seine Sicht des Geschehens.

Erinnerungen an George Floyd

So sei er mit seiner Freundin auf dem Nachhauseweg in der Tram der Linie 7 kurz nach der Haltestelle Goerdelerring von drei Kontrolleuren ohne Fahrkarte erwischt worden. Man habe keine Ausweise dabei gehabt und ein Formular falsch ausgefüllt, räumte der Geschädigte ein. Doch die Kontrolleure hätten ihn und seine Freundin, die beide nur wenig Deutsch verstanden, unter Druck gesetzt, er habe Angst und Unwohlsein in der Situation gespürt. Als man an der Haltestelle Waldplatz die Straßenbahn verließ, sei die Situation völlig eskaliert: „Ich habe mich unsicher gefühlt, habe darum gebeten zu gehen“, so der Australier am Dienstag.

Daraufhin sei der Angeklagte handgreiflich geworden, habe ihm noch im Stand den Arm um den Hals gelegt, ihn zu Boden gebracht und fixiert. Etwa drei bis sechs Minuten habe er auf dem harten Untergrund gelegen und zwischendrin das Bewusstsein verloren, während sich eine Menschentraube um die Gruppe bildete, die den Kontrolleur wiederholt aufforderte, vom am Boden liegenden Mann abzulassen. Besagte Videosequenz zeigt Schreie und einen allgemeinen Tumult.

„Er hat gar nicht zugehört, war richtig in Rage“, schilderte Nicholas K., der immer wieder „Help!“ und „I can’t breathe!“ rief. Eine schaurige Erinnerung an den gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA. Die Bilder eines Polizisten mit dem Knie auf dem Hals des Afroamerikaners in Minneapolis waren am 16. Juli 2020 immer noch frisch, als Nicholas K. dachte, dass auch sein Leben brutal zu Ende geht. Erst als die Kontrolleurin ihren Kollegen mehrfach dazu aufforderte, ließ er das Opfer frei. Wenig später traf die Polizei ein.

Kollegen des Angeklagten: Angeklagter und Freundin waren renitent

Während die Freundin des Angeklagten (29) dessen Angaben im Wesentlichen bestätigte, beschrieben die Kollegen des Kontrolleurs den Ablauf etwas abweichend: Der Verdächtige soll sich renitent verhalten, einen mitgeführten Plastikkoffer gegen ihn gestoßen und an der Haltestelle einen Fluchtversuch über das Geländer unternommen haben – so erklärte es Herbert L. (68), der damals im Team des Angeklagten war. Auch habe Nicholas K. ihn geschlagen, während er auf der Unterstufe des Geländers stand, behauptete der Zeuge.

Erst daraufhin habe man ihn zu Boden gebracht und festgehalten, wobei der Australier sich weiter gewunden und um sich getreten habe. Dies beschrieb ebenso eine weitere Kontrolleurin (47), damals drittes Mitglied des Teams und diejenige, die ursprünglich die Polizei rief, um die Personalien des fahrscheinlosen Duos festzustellen. Von einer Ohnmacht oder für Nicholas K. lebensbedrohlichen Situation will sie nichts mitbekommen haben. Nach dem Zwischenfall, so die 47-Jährige, wurden die internen Schulungen noch einmal verstärkt.

Laut Nebenklage auch versuchter Totschlag möglich

Was passierte, könne man als Exzess beschreiben, befand Staatsanwalt Sebastian Batzer nach der Beweisaufnahme. Von Nicholas K. sei trotz möglicher Gegenwehr zuvor keine Gefahr mehr ausgegangen, auch mit Sprachbarriere war erkennbar, dass er in einer lebensbedrohlichen Situation steckte, so der Ankläger, der 15 Monate auf Bewährung forderte.

Opferanwältin Doreen Blasig-Vonderlin wurde deutlicher: „Es ist eine Geschichte, die geht so einfach nicht, egal, was im Vorfeld passiert ist.“ Sie hielt die Version eines Angriffs durch ihren Mandanten für unglaubwürdig, zumal dies offenbar in den polizeilichen Zeugenvernehmungen nicht auftaucht. Und: „Jemanden zu würgen bis zur Bewusstlosigkeit, ist auf gar keinen Fall von irgendeinem Festnahmerecht gedeckt“, stimmte die Anwältin der Anklage zu.

Auch zitierte sie ein medizinisches Gutachten: Von Punktblutungen in den Augenlidern ihres Mandanten und einer „lebensbedrohlichen Gewalteinwirkung gegen den Hals“ ist dort die Rede. Der Angeklagte habe Glück, um ein Verfahren wegen versuchten Totschlags herumgekommen zu sein. Sie wolle keine konkrete Strafe fordern, jedoch sei Andree P. „mit aller Härte zur Rechenschaft“ zu ziehen.

Verteidiger Tommy Kujus hatte das anders gesehen: Ein juristischer Tatnachweis ließe sich nicht führen, so der Anwalt, der einen Freispruch beantragte und auch die „mediale Vorverurteilung“ seines Mandanten kritisierte, der „als Monster hingestellt“ worden sei.

Gericht: Opfer fürchtete um sein Leben

Für Amtsrichter Alexander Länge stand die Schuld des Angeklagten nach acht Zeugenvernehmungen jedoch außer Zweifel: „Die Zeugen haben uns ein lebensnahes Bild geliefert, wie eine alltägliche Fahrkartenkontrolle aus dem Ruder gelaufen ist.“ Auch die kurze Videosequenz belege dies.

Die Aussagen der Kollegen von Andree P. seien dagegen widersprüchlich und nicht zur Entlastung des Angeklagten geeignet. „Ihnen musste bewusst sein, dass ein Problem vorliegen musste“, hielt der Richter dem Angeklagten mit Blick auf die durch das Würgen unterbrochene Luftzufuhr beim Opfer vor. Das Recht zur Festnahme stünde im „eklatanten Missverhältnis“ zur Reaktion des Kontrolleurs: Der Geschädigte habe um sein Leben gefürchtet.

Die 14 Monate Haft für den nicht vorbestraften Andree P. wurden zur Bewährung ausgesetzt, dazu kommen Verfahrens- und Nebenklagekosten. Überdies muss der 58-Jährige 2.500 Euro an die Kinderarche zahlen.

Weiteres Verfahren eingestellt

Ein weiterer Anklagepunkt wurde aus formalen Gründen fallengelassen. Dabei ging es um einen damals 52-Jährigen, den Andree P. am 23. Juni 2021 im Leipziger Uniklinikum nach einer Diskussion zu Boden gestoßen haben soll und der sich dabei den Mittelfußknochen brach. Der Streit drehte sich um die Abgabe von Personalien wegen der Corona-Maßnahmen. Andree P. war damals nach seinem Rauswurf durch die LVB als Security-Mitarbeiter eingesetzt und ist auch heute weiterhin in dieser Branche tätig.

Ein Wort des Bedauerns kam dem verheirateten Mann, der ein Kind aus früherer Beziehung hat, bis zum Schluss nicht über die Lippen: „Ich schließe mich meinem Anwalt an“, sagte er vor dem Urteil knapp. Dieses ist noch nicht rechtskräftig.

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