LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 82, ab 28. August im HandelWenn man in den deutschlandweiten Medien von den Akteuren der sogenannten „Querdenker“-Szenerie hört oder liest, geht der Blick meist ausschließlich nach Berlin und Baden-Württemberg. Ob zum Vegan-Koch Attila Hildmann (Berlin), dem Sinsheimer „Schwindelambulanz“-Betreiber und bislang erfolglosen Parteigründer Bodo Schiffmann oder den Unternehmer und „Querdenken“-Begründer Michael Ballweg – stets scheinen westdeutsche Männer die Szenerie zu bestimmen, wenn es mittlerweile zum zweiten Mal für den 29. August 2020 heißt: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“.

Doch längst hat sich öffentlich eher unbemerkt auch die „Bewegung Leipzig“ zu einem Sammelpunkt und führenden Akteur in der sogenannten „Querdenker“-Szene gemausert. Der Anmelder der Berliner Auftaktdemonstration am 1. August 2020 kam mit Nils Wehner nach eigenem Bekunden aus den Reihen der „Bewegung Leipzig“.Zwar bringt man selbst in Leipzig, wie am Samstag, den 22. August, seit Wochen kaum mehr als 250 bis 300 Teilnehmende auf dem Leipziger Marktplatz zusammen und selbst in der wenig demokratisch schreibgesperrten Telegramgruppe der Organisatoren finden sich gerade einmal rund 700 Empfänger ständiger Mobilisierungsbotschaften mehrerer Administrator/-innen. Doch längst ist man nach eigenen Angaben deutschlandweit vernetzt.

Die Coronakrise als sommerliche Blumenwiese

Meist dreht sich bereits vor dem 1. August 2020 und nun vor dem 29.08. alles um die „Großdemo“ in Berlin, T-Shirt-Bestellungen oder Bustickets, welche man für 21 Euro bei dem im sächsischen Plauen ansässigen Busunternehmen „Kaden-Reisen“ für die Termine ordern kann. Thomas Kaden verkauft gut inmitten der Coronakrise und bekennt sich selbst mit „Honk for Hope“ zur „Bewegung“.

Dazwischen finden sich jubelnde Slow-Motion-Videos von glücklichen Menschen auf der jeweiligen Leipziger Demonstration; meist inhaltsarm, dafür mit heroisierend anschwellender Musikuntermalung von diversen bewegungsnahen Youtubern produziert.

Gern werden die passiven Mitleser mit „guten Morgen, liebe Bewegte“ begrüßt, Berichterstattungen bekannter Medien bleiben außen vor, kritische Einordnungen werden nicht debattiert. Eine Auseinandersetzung mit Widersprüchen, wie den seit 1. September 2020 in Sachsen nun nahezu vollständig gelockerten Corona-Maßnahmen oder den erneut steigenden Corona-Zahlen findet nicht statt.

Und auf die L-IZ.de-Presseanfrage per Mail im Vorfeld des 29. August 2020 erfolgt bis zum Redaktionsschluss keine Antwort.

Dafür ist man sich hier ziemlich sicher: am 1. August waren es mehrere Hunderttausend in Berlin, nun, am 29. August 2020 sollen es Millionen werden.

Während sich die gesamtdeutsche Berichterstattung nach dem 1. August 2020 um die mittlerweile berühmte „Zahlenfrage“ bei der von der Stuttgarter „Querdenken“-Bewegung angemeldeten Kundgebung auf der Straße des 17. Juni drehte, blieb eine Frage offen. Wie waren die Versammlungsteilnehmer auf die Zahl von 800.000 Beteiligten statt der offiziell gemeldeten 17.000 bis 20.000 gekommen? Noch dazu mit dem Hinweis versehen, diese Zahl hätte die Berliner Polizei anhand von Hubschrauberaufnahmen genannt (und später angeblich revidiert)?

Legendenbildung der 800.000 Teilnehmer/-innen

Mindestens mitverantwortlich für diese auf keinem verfügbaren Video- oder Bildmaterial nachvollziehbare Zahl ist Nils Wehner, ein Mann der ersten Stunde bei der „Bewegung Leipzig“. Am 6. August 2020 trat er mit einem Interview beim Bewegungs-Fan-Magazin „ExoMagazinTV“ (sonst eher mit Ufo-Sichtungen und Parapsychologie befasst) vor die Kamera und gab gemeinsam mit Nadine Müller bekannt, dass sie die Anmelder der Auftaktdemonstration am 1. August 2020 in Berlin gewesen seien. Später wird es in der „Bewegung Leipzig“-Telegramgruppe heißen, man habe für den 29. August 2020 „wieder angemeldet“.

Auf Nachfrage bestätigt die Berliner Polizei der LZ aus Datenschutzgründen lediglich eine Einzelperson als Anmelder der an diesem Tag um 11 Uhr „Unter den Linden“ mit Ziel „Straße des 17. Juni“ gestarteten Versammlung. Ihm gegenüber – so Wehner weiter im „ExoMagazinTV“ – habe am 1. August 2020 ein der Versammlungsleitung zugewiesener Polizeibeamter bereits während der Demonstration bestätigt, dass die Berliner Polizei von 800.000 Teilnehmenden ausgeht.

Kurz darauf war diese Zahl nach Beobachtungen des vor Ort anwesenden LZ-Redakteurs René Loch von einem Lautsprecherwagen der Demonstration verkündet worden.

Ob sich Nils Wehner, welcher gern auch mal die sogenannte „QAnon“-Verschwörung bei der „Bewegung Leipzig“ mit den Worten – „Es wird ernst“ auf Telegram verbreitet, die ganze Geschichte ausgedacht hat, ist nicht prüfbar. Auf die Presseanfrage dazu antworten die „Bewegung Leipzig“ oder Nils Wehner bis Redaktionsschluss nicht. So bleibt im Dunkel, ob er beispielsweise den Namen des Polizeibeamten kennt, welcher die 800.000 Teilnehmer genannt haben soll. Eine Angabe, welche prüfbar wäre.

Die QAnon-Deutschkand-Propaganda ist längst Bestandteil in der Bewegung Leipzig. Screen: Telegram 09.08.2020
Die QAnon-Deutschkand-Propaganda ist längst Bestandteil in der Bewegung Leipzig. Screen: Telegram 09.08.2020

Dafür meldete sich die Polizei Berlin. „Für den Aufzug am 1. August 2020 wurden lediglich eine aufwachsende Teilnehmendenzahl von bis zu 17.000 Personen kommuniziert. Andere Zahlen oder Einschätzungen wurden zu keinem Zeitpunkt genannt“, so die Berliner Polizeioberkommissarin Undine Schmidt für das Polizeipräsidium gegenüber LZ.

Dabei habe man mittels eines Polizeihubschraubers „die nebeneinander laufenden Teilnehmenden mit den vorhandenen Reihen multipliziert“. Eine weitere Methode sei „die Erhebung einer Punktbelastung – wie viele Teilnehmende in einem bestimmten Zeitraum einen bestimmten Punkt passieren, hochgerechnet auf die Passierdauer des gesamten Aufzuges.“

Videomaterial im Netz, auf welchen der Demonstrationszug gegen Mittag etwa 1 Stunde und 22 Minuten mit großen Abständen und vergleichsweise langsam an einem Punkt vorüberzieht, ergeben nach Redaktionszählungen eine Teilnehmer/-innenzahl von bis zu 25.000. Weitere 775.000 Menschen sind nicht zu sehen.

Was soll diese Zahlenfixierung?

Besser als jede andere Verschwörungserzählung macht wohl die Diskrepanz zwischen den angeblichen 800.000 Teilnehmer/-innen an der laut Nils Wehner von ihm angemeldeten Demonstration und den prüfbaren Angaben offizieller Stellen und vorliegendem Videomaterial deutlich, dass es nicht mehr um „die Wahrheit“ geht. Tagelang wurde von den Veranstaltern der Berliner Demonstrationen selbst die Zahlenangaben genutzt, um das Narrativ der „Lügenpresse“ mindestens indirekt zu bedienen.

Mittendrin Nils Wehners Ausgangs-Geschichte, welche bereits vor Ort begann, eine alternative Erzählung von der Realität zu zeichnen. Und zu einer Propaganda der gesamten „Querdenken“-Bewegung wurde, in welcher bis heute viele von bis zu 1,3 Millionen demonstrierenden Menschen am 1. August 2020 ausgehen.

Sie folgt einem Muster aus aufeinandergestapelten Halbwahrheiten, wie sie zunehmend vor allem in den „Freund zu Freund“-Medien normal geworden sind. Immer in dem Vertrauen weitergetragen, dass ein „Freund“ nicht offen lügen würde, von Mensch zu Mensch scheinbar bestätigt, erfragt hier kaum noch jemand, woher die meist scheinbar klare Information stammt und ob sie stimmen kann. Wird sie also durch mehrfache Wiederholungen Gleichgläubiger verstärkt, ist die zur Überzeugung geronnene Geschichte selbst durch klare Gegenbelege bei vielen nicht mehr zu revidieren.

Im Gegenteil: diese scheinen die Überzeugung einer Gegnerschaft „des Systems“, „der Medien“ bis zu „den Behörden“ und damit eine gegen die „Bewegung“ gerichtete „Diktatur“ nur zu bestätigen. Gleichzeitig glaubt man jene „alternativen Medien“ als „freie Medien“ zu erkennen, wenn sie, wie „ExoMagazinTV“, „Querdenken TV“ und weitere emotionalisierte Fanberichte ohne jeden kritischen Abstand produzieren.

So rankt sich auch um die „800.000 Teilnehmer“ vom 1. August 2020 bis heute eine quasi ergänzende Verschwörungsgeschichte, welche vorgebliche Sperrungen und bewusste Behinderungen bei den Autobahnzufahrten rings um Berlin behauptet. Ein ausgedachtes Szenario, welches bei „Bewegung Leipzig“ bereits vor der Anreise kursierte.

Dass es an diesem Tag keine derartigen Staumeldungen gab, störte im Nachgang niemanden.

Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin

Wenn es nach dem Berliner Senat geht, dann nicht. Am Morgen des 26. August verkündete dieser das Verbot einer zweiten Auflage der „Freiheits“-Demonstrationen in der Bundeshauptstadt. „Die Verbote werden maßgeblich damit begründet, dass es bei dem zu erwartenden Kreis der Teilnehmenden zu Verstößen gegen die geltende Infektionsschutzverordnung kommen wird. Besondere Auflagen – wie zum Beispiel das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung – als milderes Mittel seien bei den angemeldeten Versammlungen nicht ausreichend.“

So hätten „die Versammlungen vom 01.08.2020 (…) gezeigt, dass die Teilnehmenden sich bewusst über bestehende Hygieneregeln und entsprechende Auflagen hinweggesetzt haben.“ Mehr noch, konnte man am 1. August sogar beobachten, für viele der „Bewegung“ gerade die Nichteinhaltung jeglicher noch so geringfügiger Corona-Maßnahmen das eigentliche Ziel der Versammlungen war.

Nicht grundlos wurden zudem Journalist/-innen attackiert, welche mit Maske arbeiten mussten.

Versammlungsfreiheit bedeute nicht, sich über geltendes Recht hinwegsetzen zu können, so Berlins Innenminister Andreas Geisel am 26.08. weiter. „Die Anmelder der Versammlungen, die Anfang August in Berlin stattfanden, haben ganz bewusst die Regeln gebrochen, die sie vorher in Gesprächen mit der Polizei akzeptiert hatten – dazu gehörten das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes und das Einhalten des 1,5-Meter-Abstands. Ein solches Verhalten ist nicht akzeptabel. Der Staat lässt sich nicht an der Nase herumführen.“

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 82, Ausgabe August 2020. Foto: Screen LZ
Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 82, Ausgabe August 2020. Foto: Screen LZ

Eine Begründung, welche auf die sogenannte Unzuverlässigkeit der Anmelder abzielt – ein Kriterium, was es auch vor Corona-Zeiten bereits gab. Gegen die Michael Ballweg von „Querdenken“ laut einer Ankündigung vom gleichen Tag vor dem Bundesverfassungsgericht (als letzte Instanz) klagen wird – Ausgang offen, doch eine stationäre Kundgebung sollte am Ende durchaus möglich sein.

Natürlich nicht ohne entsprechende Erzählung vom diktatorischen Staat. Ballweg befeuert sie erneut, wenn er am 26. August 2020 per Pressemitteilung vom (vorläufigen) Verbot verbreitet: „Meine Befürchtung im April 2020, dass im Rahmen der Pandemie die Grundrechte nicht nur temporär eingeschränkt werden, hat sich bestätigt.“

Am 25. August 2020 hat der Freistaat Sachsen neben weiteren Lockerungen übrigens auch Veranstaltungen über 1.000 Personen wieder freigegeben, während am vergangenen Wochenende allein in Leipzig mindestens fünf Demonstrationen stattfanden. Inklusive der Versammlung von „Bewegung Leipzig“ mit einer deutschen Reichsflagge. Zu einem staatlichen Eingriff kam es nicht.

Hinweis der Redaktion: Die aktuellen Entwicklungen ab Mittwoch, 26. August, 20 Uhr konnten nach Redaktionsschluss der LEIPZIGER ZEITUNG im Beitrag nicht berücksichtigt werden.

Die neue „Leipziger Zeitung“ (VÖ 28. August 2020) liegt an allen bekannten Verkaufsstellen aus. Alle haben wieder geöffnet – besonders die Szeneläden, die an den Verkäufen direkt beteiligt werden. Oder die LZ einfach einfach abonnieren und zukünftig direkt im Briefkasten vorfinden.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall zu entdecken.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Michael Freitag über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar