Wovor Fachleute warnten, scheint eingetreten. Erste Daten legen nahe, dass häusliche Gewalt vor allem während der Lockdown-Phasen im Frühjahr 2020 und im aktuellen Winter 2020/21 zugenommen hat. Dies zeigt eine repräsentative Studie ebenso wie die Belegungszahlen von Frauenhäusern. In Kooperation mit dem Rechercheprojekt CORRECTIV.Lokal hat die LEIPZIGER ZEITUNG die Situation auch in Leipzig untersucht.

Die WHO berichtet, dass Gewalt gegen Frauen gerade in Notfällen und Ausnahmesituationen wie Pandemien ansteigt. Das Regionalbüro für Europa rechnet mit einem Zuwachs der Fälle in Europa während der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit.

Eine umfangreiche Studie unter Leitung von Prof. Janina Steinert (TU München) und Dr. Cara Ebert (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung) kommt zu dem Ergebnis, dass rund drei Prozent der Frauen in Deutschland in der Zeit der Kontaktbeschränkungen im Frühjahr 2020 zu Hause Opfer körperlicher Gewalt wurden.

In 6,5 Prozent aller Haushalte wurde Gewalt gegen Kinder ausgeübt. Den Zahlen zugrunde liegt eine repräsentative Befragung von rund 3.800 Frauen zwischen 18 und 65 Jahren im Zeitraum zwischen 22. April und 8. Mai. In Familien mit finanziellen Sorgen kam es laut der Studie signifikant häufiger zu häuslicher Gewalt. Nicht nur die Beschränkung des sozialen Lebens war also ein Faktor. Nur ein Bruchteil befragter Frauen nutzte Hilfsangebote. Das belegt die große Dunkelziffer im Bereich häuslicher Gewalt. Die erfassten Personen in Frauenhäusern und anderen Anlaufstellen im Hilfesystem, sowie die gemeldeten Fälle in der Kriminalstatistik (2019 wurden 141.792 Opfer von Partnerschaftsgewalt polizeilich erfasst) zeigen bei weitem nicht die volle Dimension der Gewalt. Die Bundesregierung verweist auf eine vermutete Dunkelziffer von etwa 80 Prozent.

Überfüllung und Platzmangel

Im Frühjahr 2020 hat der Dachverband Frauenhauskoordinierung (FHK) mitgeteilt, dass in Frauenhäusern bundesweit mehr als 14.000 Plätze fehlen, um den Vorgaben der Istanbul-Konvention gerecht zu werden. Diese meint mit einem Platz genug Raum für eine Frau und 1,5 Kinder.

Die Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern berichteten in der Befragung, dass sich in Covid-19-Zeiten der Personalmangel verschärfe, wenn eine Mitarbeiterin in Quarantäne müsse oder erkrankt sei. Eine neue Herausforderung sei auch der Ablauf, da schutzbedürftige Frauen erst in extra Wohnungen in Quarantäne gehen müssten, bevor sie ins Frauenhaus ziehen können. Dadurch sind diese Aufnahmebereiche, oft zusätzliche Schutzwohnungen, rasch überfüllt.

Es gibt aber auch Berichte von neuen Schutzwohnungen, die aufgrund der Pandemie extra bereitgestellt wurden und auch langfristig genutzt werden könnten.

Empfehlung des Europarats kaum umgesetzt

Der Europarat empfiehlt in einer Handreichung aus dem Jahr 2006, dass es einen Frauenhausplatz pro 7.500 Einwohnern gibt. Bundesweit wird diese Quote nur im Land Berlin erfüllt. In sieben Ländern existiert ein Platz je 15.000 Einwohner. Der Freistaat Sachsen kommt nicht einmal auf diesen Wert.

CORRECTIV.Lokal hat bundesweit Mitarbeitende aus Frauenhäusern zu ihrem Berufsalltag und Herausforderungen in Pandemie-Zeiten befragt. An der nicht repräsentativen Umfrage nahmen 92 Mitarbeiterinnen aus 14 Bundesländern teil. Über zwei Drittel gaben an, es fehle oft am Personal, um die Frauen und ihre Kinder zu unterstützen.

88 Prozent wiesen auf Sprachbarrieren im täglichen Umgang hin. Einige Mitarbeiterinnen berichteten, dass sie im Frühjahr in der Phase des Teil-Lockdowns eher weniger Anfragen bekommen haben, aber mit Lockerung der Maßnahmen ab Mai 2020 verstärkt Frauen Schutz suchten.

Sie erzählten etwa von Frauen, die im Lockdown nur schwer mit ihren Kindern die Wohnung heimlich verlassen konnten. Ein Umstand, der unterstreicht, dass die Pandemie ein Motor für häusliche Gewalt ist. Trotzdem, so berichteten es 58 Befragte, sei es häufig vorgekommen, dass seit dem Corona-Ausbruch aus Platzgründen Anfragen zurückgewiesen werden mussten.

Zehn gaben sogar an, dies sei täglich passiert. In der Mehrzahl der Fälle sei es immerhin möglich gewesen, abgewiesene Frauen in andere Einrichtungen zu vermitteln.

Zu wenig Plätze für Hilfesuchende

Etwa 360 Frauenhäuser gibt es in Deutschland. CORRECTIV.Lokal konnte in fünf Bundesländern über Wochen die Belegungsdaten von 176 Frauenhäusern erfassen. Die Auswertung zeigt erstmals den Mangel an Plätzen. So waren im November und Dezember in Hessen neun von 31 Frauenhäuser dauerhaft belegt. In NRW waren es 14 von insgesamt 70 Häusern, die an keinem einzigen Tag jemanden aufnehmen konnten.

Mitarbeiterinnen berichteten, dass ihre Häuser so überfüllt waren, dass sie seit Pandemie-Beginn „häufig“ und bei manchen Häusern sogar „täglich“ niemand aufnehmen konnten. Gerade für Frauen mit mehreren Kindern gäbe es zu wenig Platz. Sie erzählen von Fällen im Jahr 2020, bei denen sie die Frau nicht weitervermitteln konnten, immer wieder würden sie nicht erfahren, ob eine Frau einen anderen Platz gefunden habe.

Rückmeldungen und persönliche Gespräche zeigen aber auch, dass volle Frauenhäuser immer nach Alternativen suchen. Gerade in Notlagen würden oft rasche Lösungen gefunden. Eine Mehrheit berichtete von Sprachbarrieren, wobei diese kaum ein Grund für eine Nicht-Aufnahme seien. Sie geben an, dass oftmals Gebäude und Räume nur unzureichend ausgestattet seien für die Arbeit.

Ein Dauerbrenner: die Finanzen

Diese seien ein „Flickenteppich“, so die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags in einer Dokumentation zur Finanzlage der Frauenhäuser im August 2020. Jedes Bundesland entscheidet selbst über die Finanzierung. Die Verbände Frauenhauskoordinierung und ZIF kämpfen seit Jahren für eine bundesweit einheitliche Regelung.

Die meisten Einrichtungen befinden sich in der Trägerschaft von Verbänden wie Arbeiterwohlfahrt, Caritas oder Diakonie oder lokalen Vereinen. Die Träger müssen meist Eigenmittel stellen.

Ungebrochener Bedarf – mit Corona erst recht

Wie akut der Platzbedarf ist, zeigt die Stadt Leipzig. Hier gibt es drei Frauenhäuser, die durch die Stadt und das Land Sachsen gemeinsam finanziert werden. Im 1. Autonomen Frauenhaus mit 33 Plätzen (15 Frauen und 18 Kinder) wurden im letzten Jahr 155 Frauen zurückgewiesen.

2019 waren es 134 gewesen und im Jahr davor 111. Schon 2018/19 wurde im Rahmen einer Untersuchung des Freistaats Sachsen deutlich, „dass die Auslastung insbesondere in den Großstädten durchweg hoch ist”, so die Stadt gegenüber der LZ.

Das war übrigens noch vor der Pandemie.

Die Krise hat das Problem offenbar verschärft: „Aus unserer Sicht hat sich die Pandemie auf den Phänomenbereich der häuslichen Gewalt ausgewirkt”, bestätigt Mandy Heimann von der Polizeidirektion Leipzig. So erfassten die hiesigen Ordnungshüter im Frühjahr 2020 zwar weniger Fälle, doch war dies offenbar auf ein verändertes Anzeigeverhalten zurückzuführen.

Im Lauf des Jahres 2020 wurden wieder mehr Vorkommnisse mit dem Stichwort “Häusliche Gewalt” gemeldet, hinter dem sich eine Vielzahl von Straftaten verbergen kann.

Trotz allem rät die Polizei Betroffenen, sich Hilfe bei ihr, einer einschlägigen Einrichtung oder einer Vertrauensperson zu suchen. Auch wer Verdacht im Umfeld schöpft, solle sich an Polizei, Jugendamt oder eine Beratungsstelle wenden und dem Opfer Unterstützung anbieten, appelliert Mandy Heimann: „Jeder kann Opfer von häuslicher Gewalt werden. Nicht das Opfer trägt Schuld an der Situation, sondern der Täter oder die Täterin.”

Sind Sie selbst oder eine Ihnen vertraute Person von häuslicher Gewalt betroffen? Hier können Sie anonym Kontakt aufnehmen: Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 116 016; Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530.

Diese Recherche ist Teil einer Kooperation der LEIPZIGER ZEITUNG mit CORRECTIV.LOCAL, einem Netzwerk für Lokaljournalismus, das datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen umsetzt.

CORRECTIV.LOCAL ist Teil des gemeinnützigen Recherchezentrums CORRECTIV, das sich durch Spenden von Bürgern und Stiftungen finanziert.

Mehr Informationen im Internet unter www.correctiv.org/haeusliche-gewalt

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