Mal was Privates: Ich sitze gerade sehr bequem. Das liegt daran, dass heute mal wieder so ein Tag ist, an dem ich keine Lust habe, am Schreibtisch zu sitzen. Ich sitze, wie so oft, auf dem Sofa. Manchmal lege ich die Füße hoch. Am Schreibtisch würde mich dagegen einer dieser Hocker erwarten, die extra wackelig sind, sodass ich beim stundenlangen Sitzen zumindest noch ein paar Muskeln anstrengen muss.

Das tut meinem Rücken sicherlich gut und hält außerdem wach, denn mich bequem hinzulümmeln geht einfach nicht. Ehrlich, ich hab’s versucht. Wenn ich weder auf dem Sofa noch auf dem Wackelhocker sitzen möchte, könnte ich einen der vier Holzstühle am Esstisch wählen. Zwei davon sind ungepolstert, auf den anderen beiden liegt ein durchgesessenes Kissen. Meistens wähle ich deshalb keinen der Holzstühle am Esstisch.

Sitzen Sie gut?

Wenn mein Plan mit dieser Einleitung aufgegangen ist, dann spüren Sie spätestens jetzt in sich hinein, ob Sie bequem sitzen, während in Ihrem Kopf noch leise der Ohrwurm aus dem Titel dudelt. Na: Haben Sie es gemütlich? Vielleicht sitzen Sie ja auch gerade auf dem Sofa oder die Stühle in Ihrem Haushalt sind bequemer als bei mir.Vielleicht sitzen Sie aber im Moment auch richtig mies, zum Beispiel draußen in der Kälte auf einer harten und rutschigen Platte, eingeengt von Armlehnen, die genauso hart sind und beim besten Willen nicht für Gemütlichkeit gemacht sein können.

Wenn Sie so unbequem sitzen, dann befinden Sie sich möglicherweise an einer Straßenbahnhaltestelle, vielleicht am Goerdelerring oder Hauptbahnhof. Wenn Sie am Hauptbahnhof sitzen, dudelt Ihnen vielleicht noch die unaufhörliche laute Musik von den Türen der Eingangshallen im Kopf herum. Am Goerdelerring haben einige der Sitze nicht einmal Rückenlehnen, überdacht sind sie auch nicht. Durch die Armlehnen zwischen den Sitzflächen ist es unmöglich, dort die Beine hochzulegen und herumzulungern wie auf einem Sofa.

Ähnlich unbequeme Sitzgelegenheiten findet man auch in der Grimmaischen Straße. Dort, zwischen den Wasserspielen, sind es allerdings nicht die Armlehnen, sondern die Sitzflächen selbst, die die Bänke so ungemütlich machen. Sie sind abgerundet, sodass man runterrutscht, wenn man es sich allzu bequem macht.

Die Stadt sagt dazu, dass man zwischen Sitzbank und Sitzgelegenheit unterscheiden müsse: „Die leuchtenden Bänke am Wasserspielplatz Grimmaische Straße sind Teil des künstlerischen Entwurfs und sollen eher als künstlerisch gestaltete Sitzgelegenheiten ansprechen“, erklärt eine Sprecherin auf Anfrage.

Mit Sitzbänken, wie sie anderswo in der Stadt zu finden sind, sei das nicht zu vergleichen. Stimmt: Gleich nebenan am Augustusplatz findet man beispielsweise Holzbänke, auf denen man nicht meckern, sondern tatsächlich gut sitzen und verweilen kann – jedenfalls, solange es nicht regnet.

Feindliche Architektur

Zeitung
Die letzte LZ des Jahres 2021, Nr. 97 Titelblatt. Foto: Screen LZ

Rutschige Sitzflächen und überflüssige Armlehnen gibt es nicht nur in Leipzig, sondern weltweit. Der Fachbegriff dafür lautet „defensive“ oder „feindliche Architektur“. Die ist tatsächlich so fies wie sie klingt und umfasst mehr als unbequeme Bänke.

Die Konstruktionen und Installationen, die darunterfallen, sollen vor allem Obdachlose fernhalten, aber auch andere Personengruppen, die sich länger an öffentlichen Orten aufhalten könnten. Teenager/-innen und Skater/-innen sind ebenfalls typisches Ziel solcher Maßnahmen.

Wie so etwas aussehen kann? Spikes aus Metall oder Beton, die aus dem Boden ragen, damit dort niemand sitzen oder liegen kann, Zäune, die den Zugang zu Überdachungen versperren, Sprinkleranlagen, die auf Bewegungsmelder reagieren, sobald es sich jemand auf einer Wiese gemütlich macht, oder kleine Metallpoller, die Skater/-innen den Spaß verderben sollen.

Einige Städte im Vereinigten Königreich haben 2012 pinkfarbenes Licht an öffentlichen Orten installiert. Darin sind Pickel besonders gut zu sehen. Jugendliche sollen sich dadurch so unwohl fühlen, dass sie nicht mehr an den Plätzen rumhängen wollen.

Wie feindlich ist Leipzig?

Ganz so schlimm ist die Lage in Leipzig nicht. Aber es gibt sie, die Orte, an denen offensichtlich nicht jede/-r erwünscht ist. Auch dem Jugendparlament sind sie aufgefallen, allen voran die Haltestellen der Leipziger Verkehrsbetriebe und der Eingangsbereich des Hauptbahnhofs.

Darum haben die Jugendlichen einen Antrag im Stadtrat eingereicht, nach dem die Stadtverwaltung eine Satzung erarbeiten soll, die defensive Bauweisen einschränken und „graduell durch menschenfreundliche Alternativen“ ersetzen soll. „‚Defensive Architektur‘ ist eine menschenfeindliche Praxis, welche alle Personen betrifft“, heißt es im Antrag, „sie ist Gift für unsere Gesellschaft und ist eine schlechte Maske für reale Probleme, welche reale Lösungen brauchen.“

Vielleicht freuen Sie sich immer noch darüber, bequem zu sitzen. Ich habe mittlerweile so lange an diesem Text geschrieben und hin und her überlegt, dass ich vom Sofa an den Schreibtisch wechseln musste, um mich zu konzentrieren. Einerseits habe ich in Leipzig nicht so viel defensive Architektur gefunden, wie ich befürchtet habe. Andererseits bedeutet selbst eine ungemütliche Bank viel mehr als nur Ungemütlichkeit.

Defensive Architektur verdrängt Menschen aus dem öffentlichen Raum und verwehrt ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Und auch wenn es immer irgendwie schlimmer sein könnte: Warum probieren wir’s nicht mal mit Städten, in denen alle ein gutes Leben leben und sich wohlfühlen können?

„Wie geht’s dir, Leipzig? (5): Probier’s mal mit Gemütlichkeit.“ erschien erstmals am 17. Dezember 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 97 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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