„Es genügt nicht, keinen Gedanken zu haben: Man muss ihn auch ausdrücken können.“ Mit diesen Worten von Karl Kraus könnte man die Aussagen von Bundeskanzler Merz zum Thema Arbeitszeit umschreiben. Vehement fordert der Kanzler die Deutschen auf, mehr und effektiver zu arbeiten, um das Land aus der Krise heraus zu bringen.
Wenn ich in der Überschrift und der Einleitung von „Vehemenz“ schreibe, hat das einen Grund. Friedrich Merz, Carsten Linnemann und andere sind keine begnadeten Rhetoriker oder Analytiker. Sie versuchen ihre Thesen mit sprachlicher Vehemenz, mir fällt kein passenderer Ausdruck ein, zu vermitteln. Die Forderungen werden vermeintlich von einer sogenannten Studie des IW gestützt. In dieser wird festgestellt, dass die Deutschen im Schnitt weniger Arbeitsstunden leisten als beispielsweise die Griechen.
Diese „Studie“, die auch von Tagesschau, ZDF, Spiegel und anderen Medien verbreitet wird, hat ein grundlegendes Problem: Es ist keine Studie! Es handelt sich um einen Artikel (das IW sagt: eine Pressemitteilung) der von Holger Schäfer verfasst und auf der Webseite des IW unter „Presse/IW-Nachrichten“ veröffentlicht wurde. Bestenfalls kann man diesen Artikel als Analyse zu einem Ausschnitt des Arbeitsmarktes bezeichnen.
Allerdings passt dieser gut zu den Forderungen von Merz & Co.
Schauen wir auf den Artikel
Ja, die Deutschen arbeiten scheinbar weniger. Lag die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden, je Einwohner im Erwerbsalter und Jahr, 2023 in Griechenland bei 1.172, betrug sie in Deutschland 1.036.

Hier kommen wir zur ersten Frage: Warum der Vergleich ausgerechnet mit Griechenland? In der Grafik ist leicht zu sehen, dass Tschechen, Polen und Spanier auch mehr Stunden als die Deutschen arbeiten.
Griechenland als Referenz zu benutzen, das hat schon Bild-Niveau. Der Deutsche erinnert sich ja gern und oft an das Jahr 2010 und Schlagzeilen wie: „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen, … und die Akropolis gleich mit!“. Damals fühlte man sich so überlegen, heute soll man gefälligst beschämt sein ob der fleißigen Griechen.
Der Schluss aus seiner Analyse ist für Holger Schäfer: „Politik muss Fehlanreize beseitigen“. Dazu gehört die Teilzeitarbeit, der steile Steuertarif und die Rente mit 63. Friedrich Merz setzt noch einen drauf, er sagt: „Mit Viertagewoche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“
Einige Zahlen zum Vergleich
Die wohl wichtigste ist: Arbeitsproduktivität je Beschäftigte und geleistete Arbeitsstunde, also was wird in einer Stunde geleistet.
Für Deutschland beträgt diese Kennzahl 121,5, für Griechenland 56,2 im Jahr 2023. Auch wenn die Maßeinheit „Anteil am Gesamtwert für die EU27 (ab 2020) in Prozent (auf Basis von Kaufkraftstandards), jeweilige Preise“ nicht einfach zu verstehen ist, zeigt sie den Unterschied zur vorhergehenden Betrachtung. Die deutsche Arbeitsstunde ist produktiver, auf der Seite der arbeitenden Menschen liegt das vielleicht an einer besseren Work-Life-Balance.
Die zweite wichtige Zahl ist die Erwerbstätigenquote: Also wie viele Menschen im erwerbsfähigen Alter sind in Arbeit?
In Deutschland sind das 81, 3 Prozent, dem gegenüber steht Griechenland mit 69,3 Prozent. Auch bei den „Alten“, die ja laut IW zu früh in Rente gehen, der Altersgruppe zwischen 55 und 64 Jahren liegt Deutschland mit 75,2 Prozent über dem Wert von 57,3 Prozent in Griechenland.
Was kann man aus den Daten schließen?
Im Gegensatz zur Analyse von Holger Schäfer, ist der höhere Anteil von Teilzeitbeschäftigung in Deutschland wohl eher der höheren Erwerbstätigenquote geschuldet, als einer eventuellen Lustlosigkeit.
Besonders bei der Anzahl der erwerbstätigen Frauen, zwischen 20 und 64 Jahren ist die Differenz mit 77,2 Prozent in Deutschland und 57,6 Prozent in Griechenland erheblich. Im Alter zwischen 60 und 64 Jahren ist die Differenz noch größer. In Griechenland sind nur 32,3 Prozent, in Deutschland dagegen noch 61,7 Prozent dieser Altersgruppe erwerbstätig.
Besonders Frauen mit Kindern und ältere Frauen sind oft in Teilzeitarbeit. Die einen um sich, aus verschiedenen Gründen, um die Kinderbetreuung zu kümmern, die anderen oft ebenfalls wegen erforderlicher Care-Arbeit. Das ist ein Thema, welches eine separate Betrachtung verdient.
Fazit: Wie schon einmal beschrieben, ist die Forderung „Arbeitet gefälligst mehr!“ nicht zielführend. Zudem ist die IW-Analyse, aus oben angeführten Gründen, eine sehr einseitige und durch den Vergleich mit Griechenland auch populistische Darstellung. Bessere Arbeitsbedingungen, bessere Kinderbetreuung, mehr Work-Life-Balance, faire Bezahlung und viele andere Maßnahmen sind wahrscheinlich erfolgversprechender, als eine Erhöhung der Tages-, Wochen- und Lebensarbeitszeit.
Dazu braucht es aber Politiker und Politikerinnen mit Ideen. Da stellt sich die Frage: Was ist mit der „Arbeiterpartei“ SPD?
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