Es ist erst etwas mehr als die Hälfte der oft für eine erste Kritik genutzten 100 Tage nach der Regierungsbildung und den Koalitionsvertrag kann man getrost als Altpapier bezeichnen. Es war ja leider auch nicht anders zu erwarten. Erneut hat sich, diesmal sehr schnell, bestätigt, dass Koalitionsverträge keine Verträge, sondern unverbindliche Absichtserklärungen sind.

Schon die Besetzung der Ministerposten, ja man muss von Posten sprechen, obwohl Ämter besser wäre, ließ nicht Gutes erwarten. Nimmt man nur die Bundesministerin für Wirtschaft und Energie, Katherina Reiche, deren Faible für fossile Brennstoffe bekannt war.

Dass der Passus im Koalitionsvertrag: „Wir wollen alle Potenziale der Erneuerbaren Energien nutzen. Dazu gehören Sonnen- und Windenergie sowie Bioenergie, Geothermie, Wasserkraft sowie aus diesen hergestellte Moleküle. Wir stärken auch innovative Technologien wie Abwasserwärme, Wärmerückgewinnung und Flugwindkraft/Höhenwindenergie.“ nicht verbindlich gemeint war, zeigte sich als Frau Reiche 50 Gaskraftwerke, statt 20, bauen lassen wollte. Das geschah ganze drei Tage nach der Regierungsbildung, so schnell hat sich wohl noch keine Ministerin gegen den Koalitionsvertrag positioniert.

Geradezu eine Petitesse war es, dass sie die Notwendigkeit dieses Zubaus mit dem Stromausfall auf der iberischen Halbinsel begründete, ohne belastbare Fakten über die Ursachen zu haben. Inzwischen wissen wir, dass mehr Gaskraftwerke nichts genützt hätten. Man kann aber davon ausgehen, dass die Fossil-Ministerin das angekündigte „Monitoring und Sich-Ehrlich-Machen über den Stand der Energiewende“ mit einem konkreten Ziel durchführen lässt. Spoiler: Ein schnellerer Ausbau erneuerbarer Energien wird es nicht sein.

Bleiben wir beim Strom, da gab es im Koalitionsvertrag eine eindeutige Festlegung:

„Wir wollen Unternehmen und Verbraucher in Deutschland dauerhaft um mindestens fünf Cent pro kWh mit einem Maßnahmenpaket entlasten. Dafür werden wir als Sofortmaßnahme die Stromsteuer für alle auf das europäische Mindestmaß senken und Umlagen und Netzentgelte reduzieren.“

Ja, das war eine Festlegung, kein Versprechen, schließlich ist das Sinn und Zweck eines Vertrages. Was ist am Tag 59 davon geblieben? Aus „Unternehmen und Verbraucher“ und „für alle“ wurde, am Tag 58: „Der Koalitionsausschuss der schwarz-roten Bundesregierung hat sich dagegen entschieden, die Stromsteuer auch für Privatleute zu senken.“

Das betrifft übrigens nicht nur Privathaushalte, sondern auch einen nicht unerheblichen Teil der Wirtschaft. Nur „produzierendes Gewerbe sowie die Land- und Forstwirtschaft“ bekommen die Vergünstigung.

Vielleicht später mal alle „sobald hierfür finanzielle Spielräume bestehen“, also nicht so schnell. Den Schuh der Verantwortung dafür dürfen sich Finanzminister Klingbeil und Bundeskanzler Merz anziehen, die ja lieber das Gasklientel mit 3,4 Milliarden unterstützen und das Södersche Lieblingsprojekt der Mütterrente 5 Milliarden, jeweils pro Jahr, um ein Jahr vorzogen.

Besonders bemerkenswert ist hier, dass Klingbeil das Geld für die Gaskunden im Klima- und Transformationsfonds (KTF) „fand“, das Geld für eine Stromsteuersenkung fand er aber nicht. Die Stromsteuersenkung für alle hätte im Jahr 2026 rund 5,4 Milliarden Euro gekostet.

Ein dritter Punkt im Koalitionsvertrag, der schon kurz nach der Regierungsbildung obsolet war, ist eng verbunden mit dem Namen Alexander Dobrindt. Im Koalitionsvertrag heißt es nämlich:

„Deutschland ist ein weltoffenes Land und wird es auch bleiben. Wir stehen zu unserer humanitären Verantwortung. Das Grundrecht auf Asyl bleibt unangetastet.“

Bereits einen Tag nach der Regierungsbildung wies Innenminister Dobrindt verschärfte Grenzkontrollen und die Zurückweisung Asylsuchender an. Ohne ins Juristische abzuschweifen, damit sollen sich Gerichte beschäftigen, muss festgestellt werden: Es ist keine Durchsetzung des Koalitionsvertrags. Vielmehr geht das zurück auf den 5-Punkte-Plan, den die CDU im Januar mit den Stimmen der AfD durch den Bundestag brachte. Auch die „Versprechen“ von Friedrich Merz im Wahlkampf stehen dafür Pate.

Es gibt noch mehr, so stellt Katherina Reiche das vereinbarte Klimaziel infrage, der Mindestlohn steigt zwar, aber nicht auf 15 Euro, ob und wann der Schienenausbau und eine Reform der DB kommen ist fraglich und vieles andere mehr.

Fazit: Der Koalitionsvertrag ist nach 59 Tagen der schwarz-roten Regierung in großen Teilen Makulatur. Was mit den übrigen Teilen desselben wird, bleibt abzuwarten.

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