Unabhängig von ihrer persönlichen Lebenssituation werden viele Menschen mit sehr gemischten Gefühlen das Jahr 2025 hinter sich lassen und sich dem neuen Jahr 2026 zuwenden. Die Ursache dafür sehe ich darin: Alle Bürgerinnen und Bürger spüren täglich, wie umfangreich die gesellschaftspolitischen Erneuerungsnotwendigkeiten sind, wie schwer wir uns aber damit tun, diese in Gang zu setzen und einen Konsens über das Wie der Veränderungen zu finden.
Was dabei leicht aus dem Blickfeld gerät: Wir sind in der komfortablen und historisch gesehen außergewöhnlichen Situation, die Erneuerungen und Veränderungen unter Friedensbedingungen vornehmen zu können. Während in früheren Jahrhunderten jeder gesellschaftlichen Umwälzung ein Krieg mit ungeheuren Zerstörungen voranging (und/oder folgte), stehen wir jetzt vor der komfortablen Herausforderung, sozusagen im laufenden Betrieb die notwendigen Veränderungen vollziehen zu können.
Weder gibt es eine Stunde Null, noch müssen Trümmerberge beseitigt werden. Gott sei Dank! Vielmehr gilt es, das Aufgebaute und Vorhandene zu erneuern und dabei all das zu erhalten, was uns in den vergangenen 80 Jahren vor Krieg und Zerstörung bewahrt hat. Zu Letzterem gehören weniger die materiellen Güter als vielmehr die Werte, die ein einigermaßen friedliches und gerechtes Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Deutschland und Europa gewährleisten. Zu diesen Werten zählen
- die Menschenwürde, das Lebensrecht des Einzelnen schützt – selbst dann, wenn er gegen die Menschenwürde handelt;
- das Recht, das das Zusammenleben regelt und den einzelnen vor der Willkür des Staates bewahrt;
- die Freiheit, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Lebensentwürfen ermöglicht;
- die Demokratie, die jeder Bürgerin, jedem Bürger Beteiligung ermöglicht und abverlangt;
- der Frieden, dem alle Politik zu dienen hat.
Diese Basis des gesellschaftlichen Lebens darf im Erneuerungsprozess weder zerbröseln noch beseitigt werden. Alle Versuche, mit der „Kettensäge“, also abseits rechtsstaatlicher Normen, das gesellschaftliche Leben zu erneuern, müssen abgewehrt werden. Das Gleiche gilt für Forderungen, „das System“ zu beseitigen.
Da ist es durchaus alarmierend, wenn im Bundesland Sachsen-Anhalt nur 43 Prozent der befragten Bürger/-innen die Demokratie ohne jedes autokratische Element befürworten, während 52 Prozent antidemokratische Systeme wie einen starken Führer, ein Einparteiensystem oder eine Diktatur als Alternative/Ergänzung zur Demokratie akzeptieren.
Letztlich bedeutet dies: Die notwendigen Reformen müssen politisch so gestaltet sein, dass sich die Bürger/-innen in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit in ihnen wiederfinden und einen Gewinn erkennen können, ohne dass dies auf Kosten einer bestimmten Gruppe geht, die entweder benachteiligt oder ausgeschlossen wird. Die Kunst besteht darin, dass mit den Veränderungen und damit verbundener materieller Mehrbeanspruchung des Einzelnen ein Nutzen, ein Vorteil erkenn- und erfahrbar sein muss.
Die Einführung des Deutschland-Tickets ist dafür ein gutes Beispiel. Plötzlich gibt es einen Tarif für alle ca. 100 Verkehrsverbünde und 630 Verkehrsunternehmen und eine Nutzbarkeit aller öffentlichen Verkehrsmittel in ganz Deutschland. Mit einem Schlag sind Hunderte unterschiedliche Regelungen aufgehoben, ohne dass an irgendeiner Stelle Rechtlosigkeit oder Unordnung entstanden wäre.
Es sollte doch möglich sein, dass bei allem notwendigen Streit eine solche Strategie von den demokratischen Parteien bei den anstehenden Veränderungsprozessen angewendet wird. Das setzt voraus, dass wir nicht den Missbrauch, sondern den Gebrauch zum Maßstab für politisches Handeln machen.
Ob diese optimistische Perspektive allerdings die Befürchtungen, mit denen viele Menschen ins neue Jahr gehen, überlagern kann, ist fraglich. Zu viele Bürger/-innen verweigern inzwischen der freiheitlichen Demokratie das Vertrauen und folgen lieber denen, die sich einen Putin, Trump oder Orbán zum Vorbild nehmen.
Sie haben kein Interesse an Vielfalt, Gerechtigkeit, Freiheit, an Diskussion, Kooperation und Kompromiss. Ihnen geht es nicht um Erneuerung, Veränderung, sondern vor allem um Ausgrenzung des Anders-Denkenden, -Glaubenden, -Lebenden. Diese müssen dann auch noch für Untergangsszenarien und Endzeitstimmung herhalten.
Im neuen Jahr begleitet Christ/-innen ein Wort aus dem letzten Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, als Losung:
Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu. (Die Bibel: Offenbarung 21,5)
Hintergrund dieses Wortes ist das radikale, krachende Ende des bisher Dagewesenen: Tod, Zerstörung, Willkür, Rechtlosigkeit. In einem solchen Chaos haben Menschen Gottes Stimme gehört: Ich mache alles neu. Daraus haben sie neue Hoffnung geschöpft. Sie sind damit in die biblische Denkbewegung eingetreten vom Ende zum neuen Anfang: Es bleibt nicht bei Tod und Schrecken, Angst und Demütigung.
Gleichzeitig richtet sich die Stimme Gottes gegen die, die – wie zu allen Zeiten – das vermeintliche Chaos für sich auszunutzen versuchen – nicht, um Lebensverhältnisse zu erneuern, zu verbessern, sondern um über Menschen zu herrschen, sie zu ängstigen und gefügig zu machen.
Nun ist die Frage: Wem vertrauen wir, welcher Stimme wollen wir folgen? An Weihnachten ist „das Neue“ Mensch geworden, hat ein Gesicht, einen Namen erhalten: Jesus Christus. Mit diesem Namen ist all das verbunden, was durch Gott neu und wieder und mit Nachdruck in Kraft gesetzt wird:
- die Barmherzigkeit, die uns vor Überheblichkeit bewahrt;
- die Gerechtigkeit, die eine Brücke schlägt zwischen den krassen Gegensätzen, in denen Menschen leben;
- die Gewaltlosigkeit – nicht als Utopie, sondern als Ausgangspunkt und Zielmarke;
- die Ehrfurcht vor dem Leben, die uns das Lebensrecht des anderen schützen lässt;
- der Frieden, der im Stall von Bethlehem und in einem kriegerischen Umfeld sehr konkret wird.
Es ist ein Glück, dass wir mit dieser Orientierung ins neue Jahr gehen und uns den Aufgaben der Erneuerung und Veränderung stellen können. So werden die Befürchtungen vor einem Ende nicht größer als die Hoffnung auf den neuen Anfang.
Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und ist gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens engagiert. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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