LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 71, seit 27. September im HandelIhr MP in spe Tom Rodig ist dieser Tage vor allem und besonders: erschöpft. Nach neun Monaten Wahlkampf – der eigentlich drei Wahlkämpfe umfasste – zieht endlich wieder Ruhe ein. Ruhe in den Parteibüros und Pressestellen, Ruhe an den Laternenmasten, Ruhe in den Kehlen der Krakeeler. Während CDU, SPD und Grüne sich fragen, welche Prinzipien sie nun aufgeben müssen, um eine sogenannte stabile Regierung zu bilden, lehnt sich die AfD zurück und triggert mich mit Signalworten wie „Neuwahlen“. Bitte, bitte, aber nicht schon wieder Wahlen!

Doch ich habe Vertrauen in die Behäbigkeit der Verfassungsgerichte und ihrem Unwillen, italienische Verhältnisse herbeizuführen. Ich bin mir sicher, die AfD wird es nicht schaffen, die Wahl annullieren zu lassen. Es wäre auch ein wahrer Treppenwitz der Geschichte, wenn die eigene organisatorische Unfähigkeit auch noch mit Neuwahlen belohnt würde.

Weniger Vertrauen habe ich in das Urteilsvermögen jener Menschen, die CDU gewählt haben. Wie Die PARTEI Sachsen schon zu Recht festgestellt hat: Man entnazifiert Sachsen nicht, indem man CDU wählt. Ja, schon klar, die Sächsische Union besitzt durchaus demokratisches Personal in ihren Reihen, auch wenn der Demokratiebegriff mancher eher antiquiert ist. Aber wer (CDU) notfalls eine Minderheitenregierung zulässt, muss sich (CDU-Wähler) nicht wundern, wenn die AfD quasi mitregiert. Ich habe den leisen Verdacht, dass es das ist, was die Maaßens und andere Werteunionisten nicht als das schlimmste Übel fänden.

Das schlimmste Übel, so habe ich im Wahlkampf um Sachsen lernen müssen, ist schließlich immer noch Die PARTEI. Wie sonst erklärt sich der Umstand, dass der PARTEI in ganz Sachsen die Wahlplakate abgenommen wurden. Steine des Anstoßes waren zwei Wahlplakate, in der Hauptrolle: Michael Kretschmer. Ein Plakat zeigt ihn „überspitzt gezeichnet“ (MDR), an ihm ein „überlanges, schlangenartiges Gemächt“ (TAG24), das sich um ein Kreuz wickelt.

Kunstaffine merken sofort – hier wird ein bedeutendes Werk der Kulturgeschichte persifliert, nämlich die Erschaffung Adams von Michelangelo.

Kunst oder Schund? PARTEI-Plakat mit Michael Kretschmer. Quelle: PARTEI Sachsen
Kunst oder Schund? PARTEI-Plakat mit Michael Kretschmer. Quelle: PARTEI Sachsen

Was ist daran, so Kretschmer selbst dazu, „unanständig“?

Warum der Bürgermeister von Meerane, und andere Städte wie Bautzen, Plauen und Zwickau, nun anordneten, die Plakate durch Stadtbedienstete abnehmen zu lassen, lässt sich vernünftig nur mit vorauseilendem Gehorsam erklären – kam der Ministerpräsident Kretschmer doch nur wenige Tage später zu Besuch nach Meerane. Ein Schelm, der dabei an strafbare Wahlkampfbehinderung denkt!

Zudem wurde das Plakat „Demnächst im Landtag“, bei dem ein hochgradig gestresst wirkender, von Manierismen zerfurchter, also völlig realistisch dargestellter Kretschmer sich über eine brennende Sachsenkarte beugt, die ein aufflammendes Hakenkreuz enthält, von den Behörden als volksverhetzend beanstandet.

Satire, die reale Sorgen behandelt. PARTEI-Plakat 2 mit Michael Kretschmer im Wahlkampf 2019. Quelle: PARTEI Sachsen
Satire, die reale Sorgen behandelt. PARTEI-Plakat 2 mit Michael Kretschmer im Wahlkampf 2019. Quelle: PARTEI Sachsen

Wohlgemerkt, wenn sächsische Beamtinnen Hakenkreuze noch als anstößig empfinden, kann nicht alles verloren sein. Ich frage mich nur, warum selbst bei nationalistischen Splitterparteien, wie der NPD, wenigstens ein Gerichtsurteil erwirkt werden musste, bevor sie zum Abnehmen ihrer Plakate gezwungen wurden. Den PARTEI-Plakaten jedenfalls konnte keinerlei Verfassungsfeindlichkeit nachgewiesen werden und mussten wieder aufgehängt werden.

Unterdessen war ihr MP in spe unterwegs auf Sachsen-Tour, um den Leuten aufs Maul und in die Vorgärten zu schauen. Und damit kommen wir zur eigentlichen Lehre aus diesem Wahlkampf: Denn da draußen auf dem Land, da liegt des Pudels Kern begraben. Eine blaue Flut an Wahlplakaten, ein grillender CDU-Ministerpräsident, in der Hoffnung, mit Würsten die innerlich schon völlig abgemeldeten Wählerinnen gewinnen zu können (scheint zu funktionieren, werden wir uns merken) und viel Leere.

Die kulturelle Verarmung resultiert im Freistaat schon lange in Gestalt politischer Geisterstädte. Jahrzehnte der CDU-Regierung gehen nicht spurlos an den Leuten vorbei. „Ihr habt 30 Jahre Zeit gehabt“ schreit ein AfD-Plakat von den Laternen herab, und das blinde Huhn hat hier ausnahmsweise mal ein Korn gefunden. Wenn auch ein vergiftetes, angesichts mancher Seitenwechsler von CDU zu AfD.

Und so gilt erneut: „Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten.“.

Am Wahltag geht eine braune Sonne auf über der Landeshauptstadt. Mit dem Zug in Dresden Neustadt angekommen, empfängt mich ein weinender Himmel, kurz darauf jubelnde Grüne. Der Praxis von Die PARTEI Dresden folgend, die Wahlparties der anderen Parteien abklappernd, haben wir sogar einen Sendeplatz bei der ARD ergattert. Beim Live-Interview mit Katrin Göring-Eckardt durften wir im Hintergrund die PARTEI-Hymne in die Kamera singen.

Mein lautstarker Glückwunsch zu „Fünf dunklen Jahren Koalition mit der CDU“ ging aber leider im Getümmel unter.

Der Titel der neuen LEIPZIGER ZEITUNG: Jetzt überall im Handel
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Schlechte Stimmung dagegen bei der CDU-Wahlfeier. Direkt des Saales verwiesen, mussten wir umkehren, doch nicht ohne ein „Kanaken raus!“ hinterhergerufen bekommen zu haben – sehr interessantes Publikum. Die AfD hatte Polizeischutz und war ganz linientreu wenig gastfreundlich, hatte sie sich doch auf einen Elbdampfer zurückgezogen, weil ihnen sonst niemand in Dresden einen Raum vermieten wollte. Wenigstens konnten wir ihnen „Absaufen“ von der Elbbrücke herabrufen.

Dann die gewohnte Langeweile am Landtag, gute Bierversorgung hingegen bei der SPD, schlechte Stimmung bei der FDP, die Linke weit abgelegen, aber wenigstens mit guter Musik.

Und so sammelt ihr MP in spe verkatert aber glücklich über 1,5 Prozent Zweitstimmen in Sachsen (Parteienfinanzierung, wir kommen!) die lehrreichen Krümel dieses Wahlkampfs aus dem Rinnstein. Bereits bei Tucholsky sagt am Schluss der ältere, aber leicht besoffene Herr sehr treffend „Einmal, alle vier Jahre, da tun wa so, als ob wa täten… diß is ein scheenet Jefiehl!“. Das Gefühl, dass jetzt alles anders wird, will sich bei mir partout nicht einstellen. Der MP in spe ist tot, es lebe der MP in spe. Das Spektakel ist vorüber, es folgt nun das Warten auf das nächste.

Denn am 02.02.2020 wird in Leipzig der OBM abgewählt. Man reiche mir bitte die krampflösenden Substanzen.

Es grüßt herzlichst, Ihr MP in spe a. D. Tom Rodig

Die Leipziger Zeitung, Ausgabe September 2019 ist am 27. 09. 2019 erschienen und hier zu kaufen.

Rodig reflektiert: „Inhalte überwinden“ – Ein Plan, der gewissermaßen nach hinten losging

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