Es war nicht nur Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, der nach der kurzzeitigen Besetzung einer Zufahrtsstraße zum Flughafen Leipzig/Halle und dem harschen Vorgehen der Polizei eine Verurteilung der Demonstranten öffentlich aussprach, die so gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Eigentlich wäre eine Entschuldigung überfällig. Aber eine Antwort von Innenminister Roland Wöller (CDU) zeigt nun, dass die Staatsanwaltschaft überhaupt nicht daran denkt, das Verfahren einzustellen. Und an eine Entschuldigung denkt in Dresden auch keiner.

„Ich fordere weiter eine Entschuldigung des Ministerpräsidenten dafür, dass er die Protestierenden pauschal als gewaltorientiert dargestellt hat, obwohl es keinerlei Berichte über Widerstand oder gar Gewalt bei der Blockade gibt. Seine Aussage, dass der Rechtsstaat vernünftige Instrumente anwenden werde, trifft auf Berichte der in Gewahrsam Genommenen über die Vorgänge im Leipziger Polizeirevier“, sagt Marco Böhme, Sprecher für Klimaschutz und Mobilität der Linksfraktion Sachsen.„Die Rede ist dort von sexuellen Übergriffen, DNA-Zwangsentnahmen und der Verweigerung regelmäßiger Toilettengänge. Die Betroffenen hätten durch Dauerregen völlig durchnässt in Unterwäsche und ohne Decken in kalten Zellen sitzen müssen, Nahrungsmittel seien nur in Form von sogenannten 5-Minuten-Terrinen ausgereicht worden. Wir werden nachhaken, was die nun angekündigte ‚sorgfältige Prüfung‘ dieser Vorwürfe ergeben hat.“

Am 9. Juli 2021 hatten Aktivisten der Gruppe „Cancel LEJ“ gegen 23 Uhr eine LKW-Einfahrt am Frachtdrehkreuz von DHL am Flughafen Leipzig/Halle mit einer Sitzblockade besetzt. Sie protestierten gegen die Ausbaupläne der Mitteldeutsche Flughafen AG, die die Kapazitäten des Transportgeschäftes, insbesondere nachts, deutlich erhöhen will. Dagegen erhebt sich Widerstand von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen, wie den direkt betroffenen Anwohnern, Klimaschützern, Friedensbündnissen und antirassistischen Gruppen.

Nach dem Ausbau wäre der Flughafen beim Frachtaufkommen mit dem Flughafen Frankfurt a. M. vergleichbar – wobei in Frankfurt ein Nachtflugverbot gilt. Der geplante Ausbau soll das Frachtaufkommen von 80.000 auf knapp 130.000 Starts und Landungen erhöhen. Ministerpräsident Kretschmer hatte nach der friedlichen Protest-Versammlung am Flughafen geäußert: „Die Grundlage unseres Zusammenlebens ist, dass Gewalt weder gegen Personen noch Sachen ausgeübt wird. Hier sind Grenzen überschritten worden. Dafür hat der Rechtsstaat vernünftige Instrumente und Schritte, die jetzt auch angewandt werden.“

Wöllers Antwort auf die Kleine Anfrage von Marco Böhme macht noch deutlicher, wie leicht es in Sachsen ist, friedlichen Protest zu kriminalisieren. Denn obwohl es eine zweite Zufahrt gab und diese auch für die Lieferfahrzeuge geöffnet wurde, nutzte der DHL-Standortleiter am Frachtflughafen die Gelegenheit, die Polizei mit völlig falschen Tatsachenbehauptungen zum Einschreiten zu veranlassen.

Wöller: „Die Informationen über die vorläufig geschätzte Schadenshöhe und die betroffenen medizinischen Güter erhielt die Polizeidirektion Leipzig in der Nacht vom 9. zum 10. Juni 2021 vom verantwortlichen Standortleiter von DHL.“

Und statt die Behauptungen auch nur ansatzweise auf ihren Faktengehalt zu prüfen, nahm die Leipziger Polizei die Protestierenden in Gewahrsam und verschickte die Falschbehauptung des DHL-Standortleiers auch noch als polizeiliche Feststellung in die Welt.

Und Innenminister Roland Wöller verharmlost das nun auch noch und widerspricht dabei wie nebenbei dem Sprecher der Leipziger Polizeidirektion, Olaf Hoppe: „Die in der Fragestellung erwähnten Ausführungen in der Medieninformation der Polizeidirektion Leipzig beruhen auf einem redaktionellen Versehen und sind unzutreffend.“

Nein, das war eben kein „redaktionelles Versehen“, wie Hoppe auf Nachfrage der LZ eingeräumt hatte, sondern die ungeprüfte Übernahme einer Falschbehauptung, womit sich die Polizeidirektion Leipzig zum Verursacher einer Falschmeldung machte. Auf die dann ein Chor von Politkern reagierte, die sofort nach härtester Bestrafung der Protestierenden verlangen, obwohl die eindeutig – auf einer öffentlichen Straße – ihr im Grundgesetz verbrieftes Recht zur Demonstration genutzt hatten: in einer vor Ort angemeldeten Versammlung.

Die Antwort aus dem Hause Wöller klingt noch viel seltsamer als das Herumgeeier der Leipziger Polizeidirektion.

„Die Ingewahrsamnahme wurde später mit dem Anfangsverdacht der Nötigung begründet. Bisher hat indes keiner der Betroffenen eine Anzeige oder sonstige Schreiben der Polizei oder Staatsanwaltschaft darüber erhalten, dass ermittelt wird“, stellt Marco Böhme fest, der ja vor Ort die Versammlung selbst angemeldet hatte. Und der erst erlebte, wie die Polizei die Versammelten gewähren ließ und erst einige Zeit nach Beendigung der Zusammenkunft einschritt.

„Gegen mich als Eilanmelder soll der Anfangsverdacht eines Verstoßes gegen das Versammlungsrecht bestehen. Ich habe dazu ebenfalls noch keinerlei Schreiben der Polizei oder Staatsanwaltschaft erhalten. Ich gebe zu bedenken, dass die Polizei den Protest vor Ort als Versammlung wertete und es keine Auflagen gab.“

Was dann doch einiges aussagt über das Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft, die nicht einmal Ansatzpunkte für eine Straftat haben, aber trotzdem weitermachen was auch immer zu prüfen. Roland Wöller: „Aufgrund der Schwere der Vorwürfe wurde eine sorgfältige Prüfung durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft eingeleitet. Die Untersuchungen dauern an, sodass zu Einzelheiten noch nicht Stellung genommen werden kann.“

Das erinnert einen doch sehr an viele solcher Vorgänge seit den Vorkommnissen um den Gegenprotest zum Dresdner Februargedenken 2011, als sich die „Untersuchungen“ jahrelang hinzogen, nachdem man gegen mehrere der Gegendemonstranten Tatvorwürfe wie Landfriedensbruch und Gewaltaufrufe konstruiert hatte, die nicht stimmten und auch gerichtlich logischerweise nicht zu belegen waren – so wie gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König.

Was bekanntermaßen nach über drei zermürbenden Prozessjahren einem darin endete, dass erst eine 200-minütige, ungeschnittene Videoaufnahme der Polizei klarstellte, dass König in Dresden nicht zu Gewalt aufgerufen und sich nicht schuldig gemacht hatte. Zuvor hatten Polizeibeamte vor Gericht andere, letztlich falsche Aussagen gemacht, die Aufnahmen kamen von außen – von der Berliner Polizei, welche mit Einsatzkräften in Dresden war.

Zudem ist nun klar, dass die Polizei Sachsen falsche Aussagen des DHL-Standortleiters übernommen hat. Der ‚Spiegel‘ hatte zuerst recherchiert, dass es keinen Millionenschaden gab und keine Impfstofflieferungen verspätet eintrafen“, sagt Marco Böhme.

„Das verniedlicht der entlassungsreife Innenminister nun als ‚redaktionellen Fehler’. Die CDU-Fraktion hatte am Folgetag des Protests gewettert, dass ich persönlich den angeblichen Millionenschaden zahlen solle. Wiederholt die CDU diese Forderung jetzt eigentlich auch bei den streikenden Lokführern?“

Sachsens CDU verteidigt mit diesem rigiden Vorgehen gegen den Protest gegen den Ausbau des Frachtflughafens auch ihr fossiles Wirtschaftskonzept. So hat sie die eigentlich zur Stilllegung fällige Kohlewirtschaft jahrelang in Schutz gegen die Windkraft genommen und für die Kohlekonzerne Millionen-Abfindungen ausgehandelt.

Nun verteidigt sie den von ihr forcierten Ausbau des Frachtflughafens Leipzig/Halle und kriminalisiert einen friedlichen und vom Grundgesetz gedeckten Protest. Und eigentlich hätte die Staatsanwaltschaft die Untersuchungen längst eingestellt haben müssen, denn sie haben nun einmal keine Basis. DHL hat in der Nacht problemlos weiterhin packen und fliegen können, selbst die Verzögerung scheint es nur gegeben zu haben, weil man ein weiteres Tor am Betriebsgelände verspätet öffnete.

„Ziel von Protesten ist es, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Manchmal werden auch Menschen in Mitleidenschaft gezogen, die nicht Ziel der Proteste sind, wie die LKW-Fahrerinnen und -fahrer am Flughafen“, betont Böhme.

„Der Protest richtet sich nicht gegen die Beschäftigten am Flughafen, sondern gegen die Ausbaupläne. Er wird weitergehen, bis sie vom Tisch sind. Der Wirtschaftsausschuss entscheidet am 14. September um 14 Uhr auf Antrag der Linksfraktion in öffentlicher Sitzung darüber, ob der Flughafen Leipzig/Halle sich sozial, ökologisch und friedlich entwickelt und den Beschäftigten eine Zukunftsperspektive bietet – oder ob der Ausbau weiter zulasten von Klima und den Anwohnerinnen und Anwohnern erfolgt. Die Petition gegen den Ausbau des Flughafens, die von über 10.000 Menschen eingereicht wurde, hat die Koalition inzwischen abgelehnt. Das hatten wir in der letzten Landtagssitzung (Seite 2578) kritisiert.“

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