Im Grunde ist es eine Blackbox, auch wenn den Bundesbürgern immer wieder unter die Nase gerieben wird, sie seien Lebensmittelverschwender und würden jährlich Millionen Tonnen an Lebensmitteln einfach wegschmeißen. Dabei gibt es die größten Probleme in der statistischen Erfassung gerade im Lebensmittelhandel. Ein Thema, das seit Jahren Aktivisten umtreibt. Am Samstag, 8. Januar, wollen sie auch in Leipzig auf die Entsorgungspraktiken der Supermärkte aufmerksam machen. Bereits in der letzten Nacht fand dazu eine erste Aktion statt. Die LZ begleitete drei Menschen, die Lebensmittel retten. Und dabei erstaunliche Mengen fanden.

Bundesweit wird es am Samstag, 8. Januar, zu zivilem Widerstand gegen die staatlich tolerierte Praxis der Lebensmittelverschwendung durch Supermärkte und weitere Akteure des Einzelhandels kommen. Dabei werden Teilnehmer/-innen dieser Aktion genießbare weggeworfene Lebensmittel öffentlich aus Mülltonnen von Supermärkten retten, also das tun, was inzwischen als „Containern“ bezeichnet wird, und diese danach öffentlich verschenken.

Die Aktionen finden als Unterstützung des „Aufstands der letzten Generation“ (hier im Netz) statt, der ein Essen-Retten-Gesetz fordert. Einige der beteiligten Bürger/-innen kündigten auch eine Selbstanzeige bei der Polizei an. So auch Zoltán in Leipzig, den die LZ in der Nacht zum heutigen 7. Januar 2022 auf seiner Tour mit zwei weiteren Lebensmittelretterinnen begleitete.

Am 8. Januar 2022 wollen er und andere im Rahmen der deutschlandweiten Aktion mit einer Selbstanzeige dafür sorgen, dass die Lebensmittelrettung aus Biotonnen der Handelsketten erneut vor Gericht geht. Wo sie sich andere Entscheidungen als bisherige erhoffen und auf den Missstand erneut aufmerksam machen wollen.

Lebensmittel retten

„Ich rette weggeworfene Lebensmittel und bin empört, dass der Staat das immer noch kriminalisiert. Ich nehme dabei zur Not auch eine Anzeige wegen Diebstahls in Kauf. Ich weiß, dass ich im Recht bin, denn das eigentliche Verbrechen ist die Verschwendung genießbarer Nahrung“, so die ebenfalls an der heutigen Nachtaktion und am Samstag beteiligte Leipzigerin Marie O.

Allein in der Nacht zum heutigen 7. Januar 2022 schafften es nur drei Menschen gemeinsam innerhalb von etwas mehr als zwei Stunden bei Konsum, der Biomarktkette „Denns“, REWE, Bioflair und ALDI eine ganze Badewanne voll mit teils noch abgepacktem Gemüse, Obst, Eier, Brot und in der Menge so viel zu retten, dass es für mehrere Menschen Tage reichen dürfte.

Irritierende Mengen fanden die drei Retter/-innen ausgerechnet beim Biohandel, hier die Kette „Denns“ am Täubchenweg. Gut ein Drittel aller noch essbaren Lebensmittel fanden sich allein hier, während der Konsum offenbar strikter darauf achtet, Essen auch im Laden zu verkaufen, statt es zu entsorgen. Und dennoch im Besitz der weggeworfenen Waren zu bleiben.

Ein Teil der "Beute" beim Biohändler "Benns" am Täubchenweg. Foto: LZ
Ein Teil der „Beute“ beim Biohändler „Denns“ am Täubchenweg. Foto: LZ

Denn noch immer gilt in Deutschland: Wer weggeworfene Lebensmittel aus den Containern der Handelsketten holt, begeht Diebstahl. Eine Lösung, die selbst einigen Handelsunternehmen offenkundig nicht ganz geheuer ist – bei ALDI, einer Station dieser Nacht, bittet man die Lebensmittelretter lediglich darum, den Platz sauber zu hinterlassen. Versperrt, wie bei anderen Unternehmen, ist der Weg zu den Lebensmitteln nicht.

Für bundesweites mediales Aufsehen gesorgt hatte der Fall des Nürnberger Priesters Jörg Alt, der kurz vor Weihnachten ebenfalls im Rahmen einer Unterstützungsaktion für die Ziele der Letzte Generation-Kampagne öffentlich containerte Lebensmittel verschenkte. Nachdem er die Polizei im Zuge seiner Tat zu einer Anzeige veranlasst hatte, muss er sich nun wegen „besonders schweren Diebstahls“ vor Gericht verantworten.

Somit sind wohl auch die jüngsten Äußerungen von Bundesernährungsminister Özdemir zum Thema als Reaktion auf diese Tat zu verstehen. Özdemir hatte es dem Redaktionsnetzwerk Deutschland gegenüber als „absurd“ bezeichnet, dass Containern immer noch illegal sei.

„Die Ampel spricht im Koalitionsvertrag davon, dass sie Lebensmittelverschwendung reduzieren will. Auch Herr Özdemir hat nun schon mehrfach davon gesprochen, dass sich das alles ändern müsse. Aber wo bleiben denn die Taten dabei? Wir fordern Herrn Özdemir hiermit öffentlich auf, sich uns am Samstag anzuschließen und Lebensmittel zu retten! Wir haben auch weitere lokale Abgeordnete eingeladen, sich uns anzuschließen und endlich mehr zu tun, als nur Reden zu schwingen“, sagt Marie O.

Die Gruppierung Letzte Generation nimmt mit ihrem Namen Bezug auf alle gegenwärtig lebenden Menschen als die letzte Generation, die in der Lage ist, die Folgen der Klimakrise auf ein für menschliche Zivilisation erträgliches Maß zu begrenzen und damit auch in Deutschland drohende Hungersnöte abzuwenden.

Sie forderte mit einem Ultimatum bis Ende 2021 im Rahmen ihrer aktuellen Kampagne von der Bundesregierung ein Essen-Retten-Gesetz sowie die Umsetzung aller Vorgaben des Bürgerrats Klima aus dem Bereich Ernährung. Sofern kein Essen-Retten-Gesetz umgesetzt wird, wird die Bewegung ab Januar 2022 mit Autobahnblockaden für Ihre Forderungen eintreten.

Zoltán und Marie mit einem Statement zu verschwendeten Lebensmitteln

Video: LZ

Die diffusen Zahlen zur „Verschwendung“

Zur Lebensmittelverschwendung existieren unterschiedliche Zahlen bzw. Schätzungen. Während der WWF 2015 auf geschätzte 18 Millionen Tonnen kam und eine Studie der Universität Stuttgart 2012 auf 11 Millionen Tonnen, arbeitet das Bundesernährungsministerium mit einer 2015 veröffentlichten Studie des Johann Heinrich von Thünen-Instituts (TI), die aber auch die ganze Problematik der Erhebung deutlich macht. Denn nur auf den ersten Blick sind es tatsächlich die Endverbraucher, die als „Verschwender“ noch essbarer Lebensmittel zu bezeichnen sind.

„Der Großteil der Lebensmittelabfälle entsteht mit 52 Prozent (6,1 Mio. Tonnen) in privaten Haushalten, dazu gehören neben übrig gebliebenen Speiseresten z. B. auch Nuss- und Obstschalen sowie Knochen“, bilanziert die Studie. Das heißt: Die Endverbraucher warfen eben keine noch verwertbaren Lebensmittel weg, sondern hauptsächlich Reste: Knochen, Schalen usw., die dann zum allergrößten Teil in der Bio-Verwertung landeten.

Was der Handel wirklich entsorgt, weiß keiner so genau

Dieser Teil der Lebensmittelentsorgung hat also so gut wie nichts mit den davorliegenden Abschnitten der Lebensmittelverluste zu tun, wo tatsächlich noch frische, haltbare und verwertbare Lebensmittel entsorgt werden – wo aber die Datenlage besonders schlecht ist.

Was auch die Studie des von Thünen Institut besonders hervorhebt: „Beim Erstellen der Studie wurde deutlich: Auch wenn die Daten zur Berechnung entlang der gesamten Lebensmittelversorgungskette heute besser als in früheren Jahren verfügbar sind, bestehen noch immer Datenlücken. Unsicherheiten in der Datenlage gibt es vor allem in den Bereichen Primärproduktion, Verarbeitung und Groß- und Einzelhandel. Hier gilt es mit Blick auf die Zukunft, mit den Akteuren aus der gesamten Lebensmittelversorgungskette die Datenlage zu verbessern.“

Die essbare Beute einer einzigen Nacht auf den 7. Januar 2022. Foto: Privat
Die essbare Beute einer einzigen Nacht auf den 7. Januar 2022. Foto: Privat

Zu einer ähnlichen Einschätzung kam parallel auch die WWF-Studie: „Grundsätzlich ist die Datenlage zu den Verlusten in diesem Bereich der Wertschöpfungskette sehr diffus und von hoher Unsicherheit geprägt. Dies gilt noch einmal mehr für den Großhandel, für den die Verluste im Durchschnitt 1 % der angelieferten Ware betragen; zusammen mit dem Einzelhandel ist von einer Größenordnung von bis zu 7 % auszugehen. Die allermeisten dieser Verteilungsverluste sind vermeidbar, da nahezu alle Produkte konsumfertig sind.“

Gründe für den Verlust seien „weniger technologische Restriktionen, sondern vielmehr Marketingmaßnahmen und Konsumentenerwartungen an Frische und Verfügbarkeit, an Optik und Textur der Lebensmittel; gesundheitliche Risiken sind hier eher wenig verantwortlich zu machen.“

Dass der WWF entsprechend auch auf höhere Tonnagen kam, hat damit zu tun, dass er auch im Handel schon deutlich höhere Verluste feststellen konnte. So bezifferte das Thünen-Institut die Verluste im Groß- und Einzelhandel nur auf 0,5 Millionen Tonnen, während der WWF hier mit 2,575 Millionen Tonnen praktisch das Fünffache ausmachte – und das bei einem möglichen Vermeidungspotenzial von bis zu 90 Prozent.

Denn das meiste, was da in den Containern der Supermärkte landet, ist noch haltbar und essbar.

Auf welchen Verbrauch beziehen sich die Zahlen?

Zurück zur politisch aufgeladenen Verschwendung, die auch beim Bundeslandwirtschaftsministerium in den vorwurfsvollen Satz mündet: „Jeder Verbraucher und jede Verbraucherin wirft demnach etwa 75 Kilogramm Lebensmittel im Jahr weg.“

Ein Satz, der angesichts des Befundes falsch ist. Auf die anderen 73 Kilogramm aus der Rechnung des Thünen-Instituts trifft er nämlich eher zu. Hier – in Produktion und Handel – werden tatsächlich Lebensmittel weggeschmissen.

Wobei die Bezugsgröße wichtig ist, die in diesem Zusammenhang fast nie benannt wird: Was pro Jahr an Lebensmitteln tatsächlich auf jeden Bundesbürger kommt. Diese Zahl hat der WWF ebenfalls 2015 ermittelt.

Diesmal unter dem Motto „Das große Fressen“, denn unser Nahrungsmittelverbrauch hat natürlich jede Menge mit der Klimakrise und unserem riesigen ökologischen Fußabdruck zu tun, weil jede Menge Fleisch und jede Menge importierter Nahrungsmittel aus zum Teil überhaupt nicht umweltgerechtem Anbau drinstecken.

Aber hier geht es erst einmal um die nüchterne Zahl: „Es zeigt sich, dass jeder Einwohner Deutschlands insgesamt etwa 679 kg Nahrungsmittel pro Jahr verbraucht. Das sind fast 1,9 kg pro Tag und Person und somit nur unwesentlich weniger als noch vor drei Jahren (682 kg).“

Wobei auch das so nicht stimmt, denn ein Großteil davon geht ja schon vorher in der Produktions- und Handelskette verloren. Aber die 75 Kilogramm, die am Ende tatsächlich in der Biotonne landen, relativieren sich dadurch schon etwas.

Wie sich diese Endverwertung freilich zum tatsächlichen Entsorgen von Lebensmitteln im Groß- und Einzelhandel verhält, lässt sich nicht beziffern, solange es keine belastbaren Zahlen aus diesem Bereich gibt.

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