Entweder hatte die "Zeit" am Montag, 30. März, nur die Hälfte des Papiers vorliegen. Oder sie hat nur die Hälfte gelesen und dann einfach drauflos getackert: "Umweltschutz? Gibt Wichtigeres: Nur noch jeder fünfte Deutsche findet, dass die Umweltqualität problematisch sei." Dabei besagt der von Bundesumweltministerium und Bundesumweltamt vorgelegte Bericht genau das Gegenteil.

Aber das steht natürlich nicht in der Spalte mit den Problemen. Ein Thema wie der Umweltschutz verändert sich ja auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung, wenn sie 30 Jahre lang miterlebt hat, dass er zum selbstverständlichen Bestandteil der Politik geworden ist. Es sind nicht mehr der saure Regen, das Waldsterben, der Smog, die vergifteten Flüsse, die den Deutschen Angst machen. Sie wissen jetzt, dass man all diese Dinge verändern kann, dass auch die Wirtschaft nicht in die Knie geht, wenn sie Klärwerke bauen muss oder Filteranlagen einbaut.

Das Thema hat sich verlagert – aus der Problembetrachtung (die 2011 mit dem Reaktorunfall von Fukushima noch einmal aufwallte) in das Grundverständnis der modernen Gesellschaft, die eine intakte Umwelt als Grundvoraussetzung für ihren Wohlstand betrachtet.

Oder mit dem Worten des Bundesumweltamtes: “Fast zwei Drittel der Befragten (63 Prozent) geben an, dass sie den Umwelt- und Klimaschutz für eine grundlegende Bedingung zur Bewältigung von Zukunftsaufgaben wie beispielsweise die Globalisierung halten. 2012 taten dies nur 40 Prozent. Knapp die Hälfte aller Befragten hält Umwelt- und Klimaschutz zudem für eine grundlegende Voraussetzung, um den Wohlstand zu sichern (56 Prozent), die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu erhalten (48 Prozent) und Arbeitsplätze zu schaffen (46 Prozent).”

Es ist also der gegenteilige Effekt eingetreten, den die “Zeit” beschreibt. Umwelt- und Klimaschutz sind in der Wertschätzung der Bundesbürger deutlich wichtiger geworden.

Die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks hat es so auf den Punkt gebracht: „Ich verstehe diese Ergebnisse als Gestaltungsauftrag der Bevölkerung an die Umweltpolitik. Früher haben viele gedacht, Umweltschutz und Wirtschaftskraft würden sich widersprechen. Heute weiß man: Das Gegenteil ist richtig. Gutes Leben und Umweltschutz gehören zusammen.“

Und dieses Bewusstsein strahlt mittlerweile auch auf Politikbereiche aus, wo es in vergangenen Jahren überhaupt nicht thematisiert wurde: auf den Gesundheitsbereich, die Sozialpolitik, die Wirtschafts- und Verbraucherpolitik. Was auch damit zu tun hat, dass eine gesunde Umwelt von immer mehr Menschen auch als Lebensqualität begriffen wird. Was auch Wirkungen hat auf die Betrachtung von Teilproblemen wie Lichtsmog, Lärmbelastung- und Feinstaubbelastung, Mobilität.

“Die Studie zeigt ein anhaltend hohes Umweltbewusstsein in der Bevölkerung. Fast neun von zehn Befragten meinen, dass wir in Deutschland durch unsere Lebensweise auch für Umweltprobleme in anderen Ländern verantwortlich sind. Und fast drei Viertel zeigen sich beunruhigt, wenn sie daran denken, in welchen Umweltverhältnissen unsere Kinder und Enkelkinder wahrscheinlich leben müssen. Bei den Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren ist dieser Anteil mit 85 Prozent noch deutlich höher”, stellt das Umweltbundesamt fest.

Alles Zahlen, die der “Zeit”-Analyse vom Montag deutlich widersprechen.

Tatsächlich ist es sogar so, dass die veränderte Haltung der Bundesbürger zum Umweltschutz die kritische Haltung gegenüber den politisch Verantwortlichen verstärkt hat: Nur 47 Prozent der Befragten halten das, was Städte und Gemeinden in Sachen Umweltschutz tun, für ausreichend, die Bundesregierung kommt sogar nur auf 34 Prozent, während Umweltverbände eine Zustimmung von 75 Prozent erfahren.

Ein Bild, dass frappierend an die Leipziger Gemengelage erinnert, wo sich Umweltverbände den Weg vor Gericht erkämpfen müssen, um überhaupt gegen Missstände in der lokalen Umweltpolitik  klagen zu dürfen. Ein Verständnis dafür, dass eine nachhaltige Umweltpolitik auch Grundlage einer guten Wirtschaftspolitik ist, herrscht in Leipzigs Entscheidungsinstanzen noch lange nicht.

Und besonders erschütternd dürfte es für Verfechter der alten, auf Teufel komm raus beschleunigten Stadt sein, dass die meisten Bürger etwas ganz anderes wollen.

Was denn auch Jürgen Kasek, Vorsitzender der sächsischen Grünen, bemerkenswert findet.

Rund 82 Prozent der Deutschen wünschen einen stärkeren Ausbau von Fuß- und Fahrradwegen, Car-Sharing-Angeboten und des öffentlichen Nahverkehrs, las er in der Studie.

“Das Zeitalter des Autos geht zu Ende. Sie verstopfen unsere Städte und sind nicht mehr automatisch Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Wir alle müssen umdenken: Nicht das Auto, sondern der Mensch und unsere Umwelt gehören in den Mittelpunkt nachhaltiger Verkehrspolitik”, sagt er dazu. Für Sachsen sei es notwendig, nicht immer weitere Straßen neu- und auszubauen, sondern mehr Wert auf die Erhaltung der bestehenden Infrastruktur zu legen. Bus und Bahn müssten verstärkt gefördert werden, um aus der Spirale immer weiterer Fahrpreiserhöhungen aussteigen zu können. Auch der Radverkehr müsse deutlich gestärkt werden, um seinen Anteil bis 2025 auf 20 Prozent zu steigern. Nicht zuletzt sei die Stellplatzpflicht in der sächsischen Bauordnung anachronistisch.

„Neben der Energiewende braucht Sachsen eine Verkehrswende. Wir brauchen nicht mehr Autos, sondern weniger. Das Land sollte sich endlich Zielmarken zur Verminderung des  Autoverkehrs in Großstädten geben. Eine Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs in den Städten auf 30 Prozent bis 2025 ist möglich“, so Kasek.

Tatsächlich?

Die Wahrheit ist: Die Bundesbürger wünschen sich völlig andere Städte: Die genannten 82 Prozent wünschen sich einen völligen Umbau der Städte, so “dass die / der Einzelne kaum noch auf ein Auto angewiesen ist, sondern ihre / seine Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erledigen kann.”

60 Prozent wünschen sich eine Ernährung mit deutlich weniger Fleisch. Das verblüfft schon, nachdem die Grünen im Bundestagswahlkampf 2013 mit ihrem Veggieday regelrecht abgeschossen wurden. 67 Prozent wünschen sich eine Abkehr vom sturen Glauben ans pure Wirtschaftswachstum. 64 Prozent wünschen sich mehr Bürgerbeteiligung.

Da tut sich tatsächlich was in der Tektonik unserer Gesellschaft.

Und während Umweltprobleme in der Bundesrepublik nicht mehr als so drängend empfunden werden, sehen immer mehr Bundesbürger, wie beängstigend es in der Welt aussieht. 93 Prozent schätzen die Umweltzustände weltweit als schlecht ein.

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