„Ist Klimagerechtigkeit wählbar?“, diese Frage stellte sich jetzt zur Bundestagswahl 2021 auch das Konzeptwerk Neue Ökonomie, das jetzt die Wahlprogramme der großen Parteien daraufhin untersucht hat, ob sie den Herausforderungen des Klimawandels überhaupt gerecht werden. Aber das Fazit ist ernüchternd: Keine der großen Parteien bietet ein Wahlprogramm, das der Dramatik der Klimakrise und der 1,5 °C-Grenze gerecht wird.

Das ist das Ergebnis der Wahlprogrammanalyse: „Ist Klimagerechtigkeit wählbar?“, die das Konzeptwerk Neue Ökonomie am Mittwoch, 25. August, veröffentlichte.„Wir haben die Wahlprogramme der fünf großen demokratischen Parteien aus Klimagerechtigkeitsperspektive analysiert, um festzustellen, inwiefern sie eine transformative Politik anstreben oder auf ein ‚Weiter so‘ mit grünem Anstrich setzen. Dafür haben wir die vorgeschlagenen klimapolitischen Maßnahmen anhand eines Ampelsystems verglichen“, erläutert Ronja Morgenthaler.

„Das Ergebnis zeigt: Klimagerechtigkeit ist nicht wählbar, Klimazerstörung hingegen schon! Obwohl die Parteien durch Gesetze und Maßnahmen den Weg in eine gerechte und ökologische Zukunft ebnen könnten, steht eine ausreichende und zukunftsfähige Klimapolitik nicht zur Wahl. Weder rechnen die Parteien mit realistischen Emissionsbudgets, mit denen die Einhaltung der 1,5 °C-Grenze möglich wäre, noch formulieren sie ausreichende Maßnahmen, in den fürs Klima relevanten Sektoren Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr, Wohnen/Gebäude und Landwirtschaft.“

Dennoch zeige die Analyse der Programme, dass es für das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Klimazerstörung einen Unterschied macht, welche Parteien regieren. Denn drei der untersuchten Parteien haben zumindest sichtbare Ambitionen, das Land klimatauglich und sozial verträglich umzubauen. Doch selbst sie können sich nicht von den Stereotypen trennen, die letztlich das rücksichtslose Wachstumsdenken unserer Konsumgesellschaft begründen.

Das „Wachstum“ in den Köpfen

Selbst die Grünen müssen sich deftige Kritik dafür gefallen lassen, dass sie in ihrem Wahlprogramm vor allem auf die Marktkräfte setzen: „Für umfassende globale Klimagerechtigkeit ist auch das Programm der Grünen zu schwach. Wirtschaftswachstum und Rebound-Effekte werden nicht kritisch genug aufgegriffen, das Vertrauen auf Marktkräfte ist zu stark. Das Programm setzt voraus, dass sich die illusionären Versprechungen eines grünen Kapitalismus erfüllen.“

Eine Stelle, an der sichtbar wird, dass selbst Wahlprogramme schon Kompromisse sind, mit denen die Parteien versuchen, ihre potenzielle Wählerschaft nicht zu verschrecken. Denn dass 65 Prozent der Bundesbürger Klimaschutz für „sehr wichtig“ halten (Rang vier nach Bildungswesen, Gesundheitswesen und sozialer Gerechtigkeit), bedeutet ja nicht, dass sie deswegen auch Klimaschutz wählen werden.

Das zeigt ja schon der Blick auf ein Thema wie soziale Gerechtigkeit: Sie hat bei zwei Dritteln der Deutschen hohe Priorität. Aber Parteien, die soziale Gerechtigkeit in ihrem Programm haben, erreichen seit Jahren keine Mehrheit bei Bundestagswahlen.

Die Erkenntnis, dass etwas wichtig ist, bringt Wähler/-innen eben noch nicht dazu, das Thema auch zum Entscheidungskriterium bei ihrer Wahl zu machen. Erst recht, wenn das bedeutet, dass sie dadurch selbst entweder Abstriche machen müssten, Vorteile einbüßen würden oder gar ihren Lebensstil spürbar ändern müssen.

Du musst dein Leben ändern …

Und beim Klimaschutz ist jetzt schon absehbar, dass eine Menge Menschen ihre gewohnten Verhaltensweisen ändern müssen. Und Wahlen sind immer noch scheinbar sanfte Gelegenheiten, sich die notwendigen Folgen wenigstens politisch erst einmal vom Leib zu halten. Auf die nächste oder übernächste Wahl zu verschieben, auch wenn man innerlich weiß, dass man die wertvollsten Jahre auf diese Weise schon vertan hat.

Wer freilich nicht mit sich handeln lässt, das sind die Atmosphäre der Erde, sind die Meere, Wälder und Gletscher. Sie unterliegen Naturgesetzen, die einfach ihre Konsequenzen haben. Der Mensch könnte zwar alles tun, die Klimaerwärmung zu bremsen, denn er hat sie ja auch verursacht.

Aber vor diesem „könnte“ steht die ganze Liste der Bequemlichkeiten einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern suggeriert, dass ihnen die Verantwortung für ihr Handeln genommen ist, dass das andere für sie schon so regeln werden, dass niemand verzichten muss.

Unsere Demokratie ist in gewisser Weise auch eine Bequemlichkeitsdemokratie, die den Eindruck erweckt, man würde auch seine Verantwortung als Bürger abgeben, wenn man seinen Wahlzettel in die Urne steckt. Und dann „sollen die mal eine Lösung finden“.

Der fehlende Mut zu Konsequenzen

Aber wie das Konzeptwerk Neue Ökonomie hier zeigt, stecken diese erhofften Lösungen nicht mal in den Wahlprogrammen. Am kühnsten zeigt sich sogar noch die Linkspartei, der das Konzeptwerk attestiert: „Das Programm berücksichtigt an vielen Stellen Forderungen für globale Klimagerechtigkeit, geht hierin jedoch nicht so weit, wie es nötig wäre und ist teils widersprüchlich (bedingungsloses Festhalten an Industriearbeitsplätzen, Kohleausstieg erst 2030).“

Das „erst 2030“ ist trotzdem etwas ungerecht, denn ganz und gar nicht auf dem Weg zum Klimaschutz ist ja bislang noch die FDP: „Mit ihrem Ziel von Klimaneutralität bis 2050 fällt die FDP sogar hinter den aktuellen gesetzlichen Rahmen zurück. Die Partei ignoriert die verheerende Nicht-Nachhaltigkeit des Wirtschaftssystems und empfiehlt ihr immer gleiches Rezept aus Wirtschaftswachstum, mehr Marktwirtschaft, Deregulierung und Bürokratieabbau.“

Womit die FDP genauso wenig den Ernst der notwendigen Veränderungen erfasst hat wie die CDU und die CSU, denen das Konzeptwerk Neue Ökonomie geradezu fahrlässige Schwammigkeit attestiert: „Das Regierungsprogramm spiegelt die Weigerung der Union wider, die Dringlichkeit der Klimakrise auch nur in Ansätzen anzuerkennen. Es klebt am Status Quo und befördert die Illusion, dass Marktmechanismen, grünes Wachstum und Technologieförderung unter höchstens marginal veränderten Rahmenbedingungen und Preissignalen irgendwie Klimaneutralität hervorbringen werden.“

Durchwursteln als Programm

Hier findet man – auch wenn der bayerische Ministerpräsident manchmal anders klingt – sichtlich keinen Motor für eine echte Klimaneutralität in Deutschland. Sondern nur wieder das freundliche Durchwursteln, bei dem man vor allem die alten, fossilen Unternehmen und die autobegeisterten Wähler/-innen um keinen Preis auch nur erschrecken möchte.

Und die SPD, die jetzt gerade dabei ist, möglicherweise den Kanzler zu stellen? Sie halte faktisch am Bestehenden fest, kritisiert das Konzeptwerk. Und sie verpasse echte Chancen: „Leider verkennt die Partei das große sozialpolitische Potenzial von partizipativ und gerecht gestalteten Strukturwandelprozessen und verpasst die Chance, allgemeine Arbeitszeitverkürzung, Umverteilung von Arbeit und mehr Wirtschaftsdemokratie als sozialdemokratische Kernpositionen für das 21. Jahrhundert zu besetzen.“

Vielleicht würde das alles auch nicht so sehr beunruhigen, wenn eben nicht die Inhalte der Wahlprogramme auch Grundlage der anstehenden Koalitionsverhandlungen werden würden. Aber was kommt dabei heraus, wenn die Parteien – selbst wenn wir eine Klima-Koalition bekommen – dann von einem viel zu niedrigen Arbeitsziel ausgehen und dann auch nicht konsequent genug arbeiten in den nächsten vier Jahren?

Denn in diesen vier Jahren müsste eigentlich als Paket beschlossen werden, was in den vergangenen 16 Jahren versäumt worden ist, Jahren, von denen selbst die amtierende Bundeskanzlerin sagt, es hätte wohl doch mehr passieren müssen.

Viel Rhetorik, wenig Konkretes

„In Summe zeigt sich, dass Klimapolitik zwar auf der rhetorischen Ebene insgesamt einen deutlich höheren Stellenwert hat als bei allen bisherigen Wahlen – vor allem bei den Grünen, der Linkspartei und mit deutlichen Abstrichen bei der SPD. Trotzdem sind die von den Parteien formulierten Ziele unzureichend“, zieht das Konzeptwerk Neue Ökonomie seine Bilanz.

„Klimaneutralität bis 2045 oder 2050 ist nicht mit Klimagerechtigkeit und geteilter Verantwortung weltweit vereinbar, auch 2035 oder 2041 bedeuten aus heutiger Sicht schon die Überschreitung klimagerechter Budgets. Noch drastischer sieht es bei konkreten Maßnahmen aus, die oft nur in Ansätzen in die richtige Richtung gehen und meist unzureichend sind, um die selbst gesetzten Ziele zu erreichen.“

Da spricht schon die Skepsis mit, ob die nächste Regierungskoalition den Mumm haben wird, wirklich die notwendigen Beschlüsse zur Klimaneutralität zu fassen. Es wird wohl nichts anders übrig bleiben, als den Druck aus der Gesellschaft aufrechtzuerhalten.

„Wahlen alleine reichen nicht aus – es braucht den Einsatz von allen – und zwar nicht nur als Wählende, sondern als Menschen, die sich mit ganzem Herzen einsetzen“, stellt das Konzeptwerk Neue Ökonomie fest.

„Für eine demokratische, soziale und klimagerechte Gesellschaft – in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen. Damit werden sie Teil der globalen Bewegungen, die sich gegen die Zerstörung stellen und Alternativen aufbauen. Veränderung entsteht durch Druck von unten – auf der Straße, in den Betrieben, in vielfältigen Initiativen für ein gutes Leben für alle. Gemeinsam verschieben wir den Rahmen dessen, was realpolitisch möglich ist.“

Nicht zu vergessen die lokale Ebene, wo kommunale Parlamente wie der Stadtrat Leipzig durchaus die Möglichkeiten haben, einen Oberbürgermeister, seine Verwaltung und die Eigenbetriebe dazu zu verpflichten, wenigstens in der Stadt anzufangen, die Herausforderungen des Klimawandels ernst zu nehmen.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar