Im Koalitionsausschuss von CDU/CSU und SPD einigten sich die Koalitionspartner am 9. Oktober auch darauf, das gerade erst von der Vorgängerregierung eingeführte Bürgergeld wieder abzuschaffen und eine neue Grundsicherung einzuführen, die in ihrer Härte direkt wieder an die einstige Hartz-IV-Gesetzgebung anknüpft. Dass auch die SPD dem zugestimmt hat, sorgt längst für heftigen Protest. Der DGB stellt schon Streiks gegen diese Sozialkündigungen in Aussicht. Und der Sanktionsfrei e.V. erinnert an ein grundsätzliches Gerichtsurteil.
Denn auch aus Sicht des Sanktionsfrei e. V. sind die Ergebnisse des Koalitionsausschusses zur „Neuen Grundsicherung“ nichts weniger als ein kalkulierter Verfassungsbruch. SPD und Union ignorieren damit die eindeutige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von 2019. Damit trage die SPD ein weiteres Mal Mitverantwortung für die massive Entrechtung von Menschen in Armut.
Verschärfungen gehen über Hartz IV hinaus
Mit den beschlossenen Punkten geht die Koalition sogar über die Sanktionspraxis zu Hartz-IV-Zeiten hinaus. Geplant sind folgende Änderungen:
Terminversäumnisse:
– 30 % Sanktion nach zwei verpassten Terminen
– 100 % Sanktion (Regelsatz) nach drei verpassten Terminen
– Entzug von Regelsatz und Miete nach vier verpassten Terminen
Pflichtverletzungen:
– 30 % Sanktion nach der ersten Pflichtverletzung
– 100 % Sanktion (Regelsatz) nach Ablehnung eines Arbeitsangebots
– Entzug von Regelsatz und Miete bei mehrfacher Ablehnung von Arbeitsangeboten
Darüber hinaus soll das Schonvermögen verringert, die Karenzzeit für die Miete abgeschwächt und der Vermittlungsvorrang wieder eingeführt werden. Der Referentenentwurf soll im Herbst 2025 vorliegen, das Gesetzgebungsverfahren ist für Herbst/Winter 2025 geplant. Die ersten Änderungen sollen voraussichtlich zum 1. Juli 2026 in Kraft treten.
Totalsanktionen führen in Obdachlosigkeit – nicht in Arbeit
„Totalsanktionen gab es schon zu Hartz-IV-Zeiten“, stellt Helena Steinhaus, Gründerin des Vereins Sanktionsfrei, fest. „Solche Leistungsentzüge führen zu Obdachlosigkeit und keineswegs in Arbeit.“
Im Juni hat der Verein eine Umfrage unter 1.1014 Bürgergeldbeziehern in Auftrag gegeben. Darin wurde deutlich, dass die Befragten mit einem kompletten Leistungsentzug eine akute existenzielle Bedrohung und vor allem die Angst vor Obdachlosigkeit verbinden. Auch Stellungnahmen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung belegen, dass Totalsanktionen im Rahmen von Hartz-IV zu Obdachlosigkeit und Kontaktabbruch mit dem Jobcenter führten und Studien aus Großbritannien zeigen, dass bei Kürzungen der Wohnkosten mehr Obdachlosigkeit die Folge ist.
„Neue Grundsicherung“ ist klar verfassungswidrig
Mit dem Urteil von 2019 hat das Bundesverfassungsgericht Kürzungen des Existenzminimums auf maximal 30 % des Regelsatzes begrenzt. Nur unter sehr strengen Auflagen sieht es eine Kürzung des kompletten Regelsatzes als angemessen – ein Wegfall der Unterkunftskosten ist jedoch im Rahmen dieses Urteils vollkommen ausgeschlossen.
Die geplante Reform würde also gleich auf mehreren Ebenen mit diesem Urteil kollidieren, stellt Sanktionsfrei e.V. fest: Schon wegen eines zweiten Terminversäumnisses ist die Koalition bereit, die maximale Kürzung des Existenzminimums zu verhängen. Mit jedem weiteren Terminversäumnis würde das Existenzminimum also verfassungswidrig unterschritten werden.
Verschärfungen im Bürgergeld treffen die Schwächsten der Gesellschaft
Terminversäumnisse sind der häufigste Grund für eine Sanktion – in den meisten Fällen treffen sie Menschen, die aus gesundheitlichen, psychischen oder anderen Einschränkungen einen Termin nicht wahrnehmen können. Viele können wegen einer Angststörung Briefe nicht mehr öffnen oder das Haus nicht mehr verlassen.
Grundsätzlich treffen Verschärfungen im Bürgergeld die Schwächsten der Gesellschaft und richten rein gar nichts gegen Sozialbetrug aus. Von den 5,5 Millionen Menschen im Bürgergeldbezug sind knapp 2 Millionen Kinder und Jugendliche.
Rund 800.000 Menschen arbeiten bereits und müssen mit Bürgergeld ihren Lohn aufstocken. Weitere 1,1 Millionen stehen dem Arbeitsmarkt derzeit nicht zur Verfügung, weil sie Angehörige pflegen, Kinder betreuen, einer Ausbildung oder Maßnahme nachgehen oder erkrankt sind. Laut IAB konnten im letzten Jahr nur 100 vermeintliche „Totalverweigerer“ verzeichnet werden.
Das zeigt nach Ansicht von Sanktionsfrei deutlich: Die angekündigten Verschärfungen arbeiten sich an Phantomen ab. Mit den neuen Sanktionen lassen sich keine Gelder sparen, sie dienen lediglich als Drohkulisse für Menschen im Bürgergeld und Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor. Der Verein Sanktionsfrei appelliert deshalb an das Gewissen der SPD: Nach Hartz IV und Bürgergeld darf sich die Partei nicht noch einmal als Steigbügelhalter für eine Aushöhlung des Sozialstaats bereitstellen.
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Der gemeinnützige Verein Sanktionsfrei setzt sich seit 2015 für eine menschenwürdige Grundsicherung ein. Mit juristischer und finanzieller Unterstützung sowie durch Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Erwerbslosigkeit und Armut unterstützt der Verein die Belange von Personen in Bürgergeld und Grundsicherung.
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