Da prallten einmal mehr Welten aufeinander: Ein radfahrender Stadtrat, der in anderen Städten sehr wohl sah, dass flächendeckend im Straßennetz Tempo 30 verhängt werden konnte. Und ein Verkehrs- und Tiefbauamt, das schon den Vorstoß aus dem Stadtrat für rechtswidrig hält. Denn welche Verkehrsanordnungen im Straßenraum getroffen werden, ist hoheitliche Aufgabe. Das könne nicht demokratisch angewiesen werden.

Es ist ja bekanntlich nicht der erste Antrag aus einer Ratsfraktion, der von der Stadtverwaltung mit Verweis auf die StVO rundweg abgelehnt wurde: „Der Beschluss zu Verkehrsregelungen, wozu auch die Anordnung von Verkehrszeichen gehört, nach der bundeseinheitlich geltenden StVO, wäre rechtswidrig. Die Ausführung der StVO ist nach § 24 Sächsisches Straßenverkehrsrechtsgesetz eine Pflichtaufgabe nach Weisung.

Sie obliegt den Straßenverkehrsbehörden im übertragenen Wirkungskreis und unterliegt der Fachaufsicht der oberen Straßenverkehrsbehörde. Für die Erledigung dieser Weisungsaufgaben ist nach § 53 Abs. 2 Sächs. GemO allein der Bürgermeister zuständig. Eine Übernahme dieser Aufgaben durch den Stadtrat ist grundsätzlich rechtswidrig, der Stadtrat kann diesbezüglich nur Prüfaufträge erteilen.“

Eine dicke Keule quasi für den übermütigen Stadtrat Marcus Weiss (Die PARTEI), der doch tatsächlich glaubte, Stadtrat und Verwaltung könnten beim Thema Verkehrssicherheit so ein bisschen kooperativ arbeiten. Immerhin gab es schon in der Vergangenheit stapelweise Stadtratsanträge zu Tempo-30-Zonen, die auch oftmals Erfolg hatten.

Aber vorsichtigerweise hatten die Ratsfraktionen die Verwaltung dabei jeweils gebeten zu prüfen, ob so etwas Vernünftiges – zum Beispiel vor Krankenhäusern, Schulen oder Kitas – möglich wäre.

Da konnte das zuständige Verkehrsordnungsamt schlecht nein sagen und prüfte – manchmal auch ein paar Jahre lang. Aber so langsam mehrten sich die Tempo-30-Zonen und dort, wo sie eingeführt wurden, minderte sich nicht nur die Zahl der Verkehrsunfälle, sondern auch der Lärm und die Luftbelastung.

Aber natürlich kann auch die Leipziger Straßenverkehrsbehörde nicht über alle Straßen in der Stadt verfügen. Bei den überörtlichen Straßen haben auch noch höhere Instanzen ein Wörtchen mitzureden, wie man der rigiden Antwort aus dem Verkehrsdezernat entnehmen kann: „Die Zonen-Anordnung darf sich nach der StVO allerdings nicht auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen), noch auf weitere Vorfahrtsstraßen erstrecken. Diese Straßen dienen der Bündelung des Verkehrs abseits von Wohngebietsstraßen und müssen gewährleisten, dass ein leistungsfähiges, auch den Bedürfnissen des ÖPNV und des Wirtschaftsverkehrs entsprechendes Vorfahrtstraßennetz sichergestellt wird.

Hauptnetzstraßen haben eine Verbindungs-, bzw. eine maßgebliche Erschließungsfunktion und müssen somit eine gewisse Verkehrsmenge und zum Teil auch überörtlichen Verkehr aufnehmen und auch zügig abwickeln. Deshalb hat der Verordnungsgeber für Beschränkungen des fließenden Verkehrs besonders hohe Anforderungen gestellt.“

Man sieht: Ganz unmöglich ist das auch dort nicht. Und wer das Verkehrsverhalten auf solchen Hauptstraßen beobachtet, sieht, dass alle Ausreden, kein Tempo-Limit zu verhängen, wirklich nur Ausreden sind. Denn auch hier fließt der Verkehr – durch die Ampelkreuzungen bedingt – in der Regel bei 30 km/h am ruhigsten und flüssigsten. Was aber viele Kraftfahrer nicht daran hindert, die Zwischenstrecken mit jaulendem Motor und quietschenden Reifen zurückzulegen.

Dasselbe Amt, das nun so rigide den Antrag von Marcus Weiss für rechtswidrig erklärt, erklärt im weiteren Text dann genau das: „Des Weiteren können Beschränkungen des fließenden Verkehrs zum Schutz vor Lärm und Abgasen angeordnet werden. Grundlagen für diese Anordnungen sind u. a. der Lärmaktionsplan und der Luftreinhalteplan der Stadt Leipzig. Entsprechende Geschwindigkeitsbeschränkungen wurden und werden auch in Zukunft bei Erfordernis angeordnet.“

Nur über die Erfordernis will das Amt selbst bestimmen. Solche Erfordernis sieht es bei:

– Wohngebieten und Gebieten mit hoher Fußgänger- und Fahrraddichte. „Von dieser Möglichkeit hat die Stadt Leipzig schon flächendeckend Gebrauch gemacht. Dieser Teil des Antrags wurde somit bereits erfüllt. Radverkehrsanlagen sind in solchen verkehrsberuhigten Wohngebieten entbehrlich und benutzungspflichtige Radwege nicht zulässig.“

– bei besonderen Gefahrenlagen, z. B. wenn Unfalluntersuchungen ergeben haben, dass häufig geschwindigkeitsbedingte Unfälle aufgetreten sind oder aufgrund unangemessener Geschwindigkeiten bzw. gefahrenträchtiger Streckenführungen besondere Gefahrensituationen entstehen. „Ob solche Beschränkungen in Form der Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Einzelfall angeordnet werden, entscheidet regelmäßig die Verkehrsunfallkommission.“

– im unmittelbaren Bereich von an Hauptverkehrsstraßen liegenden Kindergärten, Kindertagesstätten, Schulen, Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern. „Diese Geschwindigkeitsbeschränkungen wurden bereits dort, wo sie geboten sind, angeordnet und sind fast überall auch bereits aufgestellt.“

***

Und am Ende fegt man dann auch die Vorstellung von Marcus Weiss vom Tisch, mit Tempo 30 könnte der Radverkehr in Leipzig sicherer gemacht werden. Selbst die jüngste StVO-Novelle von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) wird dafür zurate gezogen: „Obwohl dies in verschiedenen Gremien diskutiert wurde, hat der Verordnungsgeber auch mit der Novellierung der StVO vom April 2020 ausdrücklich nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, für Hauptverkehrsstraßen ohne Radverkehrsanlagen die Anordnung von Geschwindigkeitsbeschränkungen zu erleichtern und vom Nachweis der besonderen Gefahrenlage zu befreien. Insbesondere hat er nicht gestattet, Tempo ,30‘ auf innerstädtischen Straßen als Regelgeschwindigkeit festzulegen.“

Natürlich hat er das nicht. Andreas Scheuer ist nicht der Bundesverkehrsminister, der die fahrradfreundliche Stadt der Zukunft befördern wird.

Aber wie will nun das so regeltreue Verkehrsdezernat die Sicherheit der Radfahrer/-innen in Leipzig erhöhen?

„Die Sicherheit des Radverkehrs auf den Hauptnetzstraßen im Stadtgebiet wird in erster Linie durch die Anlage von Radfahrstreifen oder baulichen Radwegen erhöht. Entsprechend dem vom Stadtrat beschlossenen Radverkehrsentwicklungsplan prüft und realisiert die Verwaltung sukzessive an weiteren Hauptverkehrsstraßen Radverkehrsanlagen. Für jede Maßnahme bedarf es jedoch im Einzelfall einer Bewertung und Abwägung aller Randbedingungen, zu denen u. a. auch die Leistungsfähigkeit des MIV und die Ansprüche des ruhenden Verkehrs gehören.“

Man sieht: Auch der ruhende Verkehr ist aus amtlicher Sicht wichtiger als der Radverkehr. Radwege gibt es erst nach „einer Bewertung und Abwägung aller Randbedingungen“, also nicht als Normalangebot.

Deutlicher hat das zuständige Dezernat noch nie formuliert, was es vom Radverkehr in Leipzig hält: Es ist eine Sonderverkehrsform, die nur nach strenger Einzelfallprüfung eine Verkehrsanlage bekommt. Und Tempo 30 schon mal gar nicht.

Wie verräterisch Sprache doch sein kann.

Provokation oder sinnvoller Weg? Marcus Weiss beantragt Tempo 30 im ganzen Stadtgebiet

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