Was da am Mittwoch, 15. September, in Bezug auf einen Grünen-Antrag „Lebendige Auseinandersetzung mit der Friedlichen Revolution“ geschah, dürfte man schon als gehörigen Misstrauensbeweis gegenüber der Verwaltung und ihrem Versuch verstehen, die Definitionshoheit über den Herbst '89 zu behalten. Denn während der Verwaltungsstandpunkt krachend abgelehnt wurde, bekam die Neufassung des Grünen-Antrags eine deutliche Mehrheit.

Auf den ersten Blick sind es scheinbar nur Details. Denn die Verwaltung spielte im Grünen-Antrag erst einmal gar keine Rolle. „Ziel, Inhalt und Struktur der Veranstaltungen und der Formen und Orte des Bewahrens der Werte der Friedlichen Revolution werden mit wissenschaftlicher Begleitung betrachtet und evaluiert“, hatte die Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen beantragt.„Im Ergebnis wird dem Stadtrat ein langfristiges Konzept für die lebendige Auseinandersetzung mit der Friedlichen Revolution 89 zur Beschlussfassung vorgelegt. Dieses Konzept dient als Grundlage für die Ausschreibung des 89er Gedenkens und wird Bestandteil des noch zu erarbeitenden Konzeptes Erinnerungskultur.“

Aber Leipzigs Verwaltung roch den Braten natürlich. Denn wenn ein (unabhängiges) wissenschaftliches Gremium eine Konzeption für das Leipziger Gedenken verfasst, das dann wirklich den historischen Vorgängen entspricht, sind erst einmal alle Konzepte der stadteigenen Einrichtungen Makulatur, die hier bislang die Federführung hatten. Und es war auch nicht das Kulturdezernat, das dann den Verwaltungsstandpunkt formulieren durfte, das durfte nur mitwirken.

Die eigentliche Stellungnahme kam direkt aus dem Referat Grundsatz und Koordination, und das ist direkt dem Arbeitsbereich des OBM angegliedert. Was im Ergebnis auch bedeutet: Oberbürgermeister Burkhard Jung begreift den Umgang mit dem Gedenken an den Herbst ’89 als strategische Aufgabe seines Büros.

Wer hat die Deutungsmacht über den Herbst 89 in Leipzig?

Er möchte sich die Sache nicht aus der Hand nehmen lassen. Und so wurde der erste Antragspunkt in der Stellungnahme der Verwaltung gleich mal komplett umgeschrieben:

„Der Oberbürgermeister wird beauftragt, Ziel, Inhalt und Struktur der Veranstaltungen und der Formen des Bewahrens der Werte der Friedlichen Revolution mit wissenschaftlicher Beglei­tung zu evaluieren. Die damit verbundene Aufgabenstellung wird durch das Stadtgeschichtliche Museum (SGM), das Kuratorium ‚Tag der Friedlichen Revolution‘ und die LTM GmbH formuliert. Den formalen Prozess der Evaluierung steuert das Dezernat Kultur. Der Auftragnehmer wird durch das Kuratorium ‚Tag der Friedlichen Revolution‘ bestimmt. Der Stadtrat wird zur Aufgabenstellung, dem Auftragnehmer und den erforderlichen Kosten der Evaluierung zum gegebenen Zeitpunkt durch eine Vorlage informiert. Die erforderlichen Mittel für die externe Evaluierung werden im Budget des De­zer­nates Kultur zur Verfügung gestellt.“

Deutlicher kann man gar nicht schreiben, dass sich hier der OBM seine Steuerungsmacht für das Leipziger Gedenken nicht aus der Hand nehmen lassen möchte. Im Erläuterungstext wird das noch einmal explizit ausgeführt:

„Die städtische Förderung der Veranstaltungen zur Erinnerung an die Friedliche Revolution ist derzeit wie folgt geregelt: jährlich stellt die LTM einen beachtlichen Teil ihres Budgets für die Lichtfeste zur Verfügung, zu den aller 5 Jahre zu begehenden Jubiläen wird ein gesonderter Betrag aus dem Gesamthaushalt bzw. aus dem Budget für Großveranstaltungen durch die Verwaltung zur Verfügung gestellt. Wie diese Finanzierung entsprechend angepasst werden kann, wird nach Vorlage der Konzeption vorgeschlagen und durch einen Beschluss des Stadtrates legitimiert.“

Da ist der Stadtrat völlig außen vor, in irgendeiner Weise Einfluss auf die Leipziger Gedenkveranstaltungen nehmen zu können. Eine Stadtratsminderheit findet das sogar gut. Denn sonst wäre es erst gar nicht zur Abstimmung des Verwaltungsstandpunktes gekommen, der aber mit 18 Ja-Stimmen, 34 Ablehnungen und neun Enthaltungen regelrecht versenkt wurde.

Gedenken darf nicht in Routine erstarren

„Die Erinnerungskultur, um die Friedliche Revolution dauerhaft im Gedächtnis zu bewahren, unterliegt einem Generationswechsel und erfordert damit eine Neujustierung der Erinnerungsformen und -schwerpunkte. Diesen Prozess aktiv zu gestalten hat sich der Stadtrat bereits vorgenommen: In einem ersten Schritt wurde 2018 auf interfraktionelle Initiative hin das Kuratorium ‚Friedlichen Revolution ’89‘ eingerichtet“, gehen die Grünen in ihrem Antrag auf die Vorgeschichte ein, die mit einigen heftigen Debatten um das Leipziger Lichtfest 2018 begonnen hatte.

Schon die Schaffung des Kuratoriums war ein klarer Ansatz, der Verwaltung und auch der bis dahin federführenden LTM endlich die Deutungshoheit über den Herbst ’89 aus der Hand zu nehmen. Denn deren Interpretation der Friedlichen Revolution schien irgendwo vor ein paar Jahren regelrecht erstarrt zu sein.

„Mit der gewaltfreien Revolution von 1989 wurde ein gewaltbereites Regime besiegt. Es wurde die Tür zur Freiheit geöffnet, Rechtsstaatlichkeit zum Grundprinzip erhoben und ganz essenziell wurde eine Beteiligungs-Demokratie begründet. Diese Errungenschaften müssen immer wieder lebendig veranschaulicht werden. Wie wertvoll und zugleich wie leicht zerbrechlich sie sind, zeigen uns mit Rassismus, Antisemitismus und Sexismus die anhaltenden menschenfeindlichen Tendenzen in unserer Gesellschaft“, ging der Grünen-Antrag auf das ein, was gerade in den letzten Jahren ringsum geschehen ist.

„Die Revolutionen von 1989/90 in Mittelosteuropa ermöglichten ganz Europa Freiheit, Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das Aufkommen autoritärer Tendenzen in Teilen der europäischen Gemeinschaft in den letzten Jahren mit der Stärkung der extremen, rechten und populistischen Parteien unterstreicht die Aufgabe, die europäische, weltoffene Demokratie und unsere europäischen Werte lebendig im Bewusstsein der Menschen zu halten.“

Das Kuratorium kann die Konzeptionsarbeit beginnen

Die Debatten von 2018 führten ja bekanntlich 2019 dazu, dass der Leipziger Promenadenring von unterschiedlichsten Künstler/-innen bespielt wurde.

„Nachdem wir 2019 den 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution in sehr würdiger und bedeutsamer Weise auf hohem künstlerischem Niveau unter breiter Beteiligung unserer Bevölkerung und Teilnahme unserer Gäste begehen konnten, ist jetzt der Zeitpunkt, die Werte, Errungenschaften und Orte der Friedlichen Revolution von 1989 neu in die sich verändernden Blickwinkel unserer heutigen Zeit zu übersetzen“, betonen die Grünen.

„Ziel, Inhalt und Struktur der Veranstaltungen und der Formen und Orte müssen kritisch-konstruktiv hinterfragt und ggf. angepasst, verändert oder erweitert werden. In der weiteren konstruktiven Zusammenführung der Potenziale der verschiedenen Akteure aus Verwaltung, privaten Initiativen und Akteuren der Zivilgesellschaft liegen noch erhebliche Reserven. Noch zu viel geschieht und organisiert sich nebeneinanderher und es gibt erhebliche Reserven in der wertschätzenden Kooperation, Vernetzung und gemeinsamen Präsentation. Die nun angebrochene Zeit nach dem Jubiläum bietet uns Raum, ohne Zeitdruck die begonnenen wichtigen Prozesse der Erneuerung fortzusetzen.“

Mit den „erheblichen Reserven“ bei der „konstruktiven Zusammenführung der Potenziale“ haben die Grünen ihre eigentliche Kritik sogar sehr fein in Spitze verpackt. Dass die Verwaltung sehr wohl verstanden hat, dass ihr hier die Deutungshoheit über die Friedliche Revolution aus der Hand genommen werden sollte, merkte man in der kompletten Umformulierung von Antragspunkt 2: „Unter der Federführung des SGM wird basierend auf den Ergebnissen der Evaluierung ein langfristiges Konzept für die lebendige Auseinandersetzung mit der Friedlichen Revolution gemeinsam mit dem Kuratorium ‚Tag der Friedlichen Revolution‘ und der LTM GmbH erarbeitet und mit weiteren relevanten Akteuren abgestimmt“, hatte die Verwaltung daraus gemacht.

Jetzt sollte also das Stadtgeschichtliche Museum (SGM) quasi für die Stadt die Federführung (und Deutung) übernehmen. Und die LTM war auch wieder drin. Das vom Stadtrat erst initiierte Kuratorium war also gleich mal wieder eingekastelt und damit in seiner Arbeit eingeschränkt. Ohne SGM und LTM ginge also nichts.

Genau das aber wollten die Grünen nicht. Sie hatten sehr deutlich formuliert, dass sie eine Konzeption ohne städtische Einmischung wollten: „Mit dem Arbeitsauftrag hinsichtlich eines langjährigen Konzeptes wird das Kuratorium ‚Tag der Friedlichen Revolution‘ beauftragt. Die Erarbeitung des konkreten Konzeptes soll anschließend durch die Initiativgruppe ‘Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober’ unter Berücksichtigung der fachlichen Expertise des Stadtgeschichtlichen Museums und ggf. weiterer externer Partner/-innen erfolgen.“

Also genau so, wie es der Stadtrat am 18. Januar 2019 beschlossen hat. Der Verwaltungsvorschlag war also nichts anderes, als der Versuch, den Beschluss von Januar 2019 wieder auszuhebeln. Aber da machte die Stadtratsmehrheit am 15. September nicht mit. Der Grünen-Antrag wurde mit 39 zu 15 Stimmen angenommen. Sieben Stadträt/-innen enthielten sich der Stimme. Das Kuratorium kann also losarbeiten mit der Konzeption für ein Gedenken, das nicht in tränendrückender Rückwärtsgewandtheit erstarrt, sondern auch berücksichtigt, dass die Feinde der Demokratie längst schon wieder aktiv sind.

Die Debatte vom 15. September 2021

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