Seit die russische Armee die Ukraine überfallen hat, wird ja in Deutschland heftig darüber diskutiert, ob sich die Bundesrepublik ein komplettes Embargo von russischem Erdgas leisten kann und welche Folgen das für die deutsche Wirtschaft hätte. Denn gerade die Industrie ist noch immer abhängig von russischen Energieimporten. Das IWH in Halle hat mal nachgerechnet.

Lieferstopp für russisches Erdgas: Rezession wäre wohl sicher

Eins scheint zumindest sicher: Ein Stopp der russischen Gaslieferungen würde zu einer Rezession der deutschen Wirtschaft führen. Nicht alle Regionen wären davon gleich betroffen: Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) rechnet vor allem dort, wo das verarbeitende Gewerbe ein großes Gewicht hat, mit einem deutlich stärkeren Einbruch der Wirtschaftsleistung als andernorts.

Dass deutsche Politiker zögern, die Gasimporte aus Russland sofort zu stoppen, hat genau damit zu tun: Die deutsche Industrie kann diese Gasmengen nicht einfach aus anderen Quellen ersetzen.

Sollte es zu einem Stopp für Lieferungen russischen Gases in die Europäische Union kommen, wären diese kurzfristig nicht vollständig zu ersetzen und die Gaspreise würden nochmals stark steigen, geht das IWH auf das absehbare Szenario ein. Falls die privaten Haushalte und, solange die Vorräte reichen, auch die Unternehmen nicht rationiert werden, dürften ab dem Jahreswechsel 2022/2023 die Speicher aufgezehrt sein.

Wird unterstellt, dass die Gasmengen in den einzelnen Industriezweigen im Frühjahr 2023 proportional gekürzt werden, entstünden Wertschöpfungsverluste, die auch auf die übrigen Wirtschaftsbereiche ausstrahlen. Es wäre mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2023 um rund 2 % zu rechnen.

Wertschöpfungsverluste heißt in diesem Fall: Produktionsausfälle, zunehmende Lieferengpässe und damit auch mögliche Entlassungen gerade in Industriebereichen, die auf Gas als Brennstoff zwingend angewiesen sind.

Eine erste Prognose über mögliche regionale Folgen

Wie sehr die einzelnen Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland davon betroffen wären, kann anhand der Wirtschaftsstruktur der einzelnen Kreise abgeschätzt werden, denn die Wirtschaftsbereiche würden in unterschiedlichem Ausmaß von der Krise erfasst: Das verarbeitende Gewerbe sowie die Wirtschaftszweige Bergbau und Energieversorgung wären besonders betroffen.

Der Anteil der Wirtschaftszweige an der Bruttowertschöpfung ist von Kreis zu Kreis stark unterschiedlich. Wird der Rückgang an Bruttowertschöpfung nach Wirtschaftsbereichen proportional zum jeweiligen Anteil der Kreise an der gesamten Wertschöpfung eines Wirtschaftsbereichs auf die Kreise umgelegt, so ergibt sich ein differenziertes Bild, in dem eine große Spreizung deutlich wird.

„Wo das verarbeitende Gewerbe eine besonders hohe Wertschöpfung erzielt, etwa in etlichen Kreisen und Städten Süddeutschlands, ist auch mit besonders hohen Wertschöpfungsverlusten zu rechnen“, sagt Oliver Holtemöller, Leiter der Abteilung Makroökonomik und Vizepräsident am IWH.

Mögliche Wertschöpfungsverluste nach einem Gasstopp in den einzelnen Bundesländern. Grafik: IWH
Mögliche Wertschöpfungsverluste nach einem Gasstopp in den einzelnen Bundesländern. Grafik: IWH

In Ostdeutschland falle der Wertschöpfungsverlust geringer aus als im Westen, weil das verarbeitende Gewerbe in Ostdeutschland mit 14 % ein geringeres Gewicht an der gesamten Wertschöpfung hat als in Westdeutschland (21 %). Aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsproduktivität in den Kreisen seien die zu erwartenden Effekte auf die Beschäftigung prozentual nicht identisch mit den zu erwartenden Wertschöpfungsverlusten.

„Je geringer die Arbeitsproduktivität ist, desto mehr Erwerbstätige sind von einem bestimmten Wertschöpfungsrückgang betroffen“, so Holtemöller.

Was dann in der Gesamtrechnung einen möglichen Wertschöpfungsverlust in Westdeutschland von 173 Milliarden Euro bedeuten könnte, in Ostdeutschland von 27 Milliarden Euro.

Folgen für Sachsen und Leipzig

Für Sachsen kommen die Berechnungen des IWH auf einen möglichen Verlust in der Bruttowertschöpfung von 7,2 Milliarden Euro, was dann aus Sicht des IWH den Verlust von 127.000 Arbeitsplätzen bedeuten würde. Sogar bis auf Kreisebene haben die IWH-Rechner das heruntergebrochen. Demnach wäre auch Leipzig als Industriestandort mit einem möglichen Verlust an Wertschöpfung in Höhe von 1,158 Milliarden Euro und dem Verlust von 18.928 Arbeitsplätzen betroffen. Schon die Genauigkeit der Zahlen dürfte irritieren, ist aber logisch, wenn man das ganze Land mit derselben Formel durchrechnet.

Denn die Frage, ob tatsächlich Erdgas jeweils die tragende Energiequelle des betroffenen Industriebezirks ist, beantwortet diese Berechnung ja nicht. Dazu müsste viel mehr ins Detail gegangen werden. Und da wird es schwierig. Der Saalekreis, der mit seiner Chemieindustrie um Leuna viel stärker von Erdgasimporten abhängig ist, taucht in der Berechnung nur mit einem Verlust an Bruttowertschöpfung von 0,455 Milliarden Euro auf.

Was zumindest die Richtung vorgibt, in die jetzt gedacht werden muss: In welchen Industriezweigen kann Erdgas schon jetzt komplett durch Strom als Energiequelle ersetzt werden? Und in welchen Industriezweigen muss das (russische) Erdgas schnellstmöglich durch im Land hergestellten Wasserstoff ersetzt werden?

Denn das ist ja die Kehrseite der Ängste vor einem Lieferstopp: Dass Deutschland die vergangenen 17 Jahren eben nicht dazu genutzt hat, sich aus der extremen Abhängigkeit russischer Erdgasimporte zu lösen. Das knappe Zeitfenster, das den Berechnungen zugrunde liegt, macht deutlich, wie groß der Handlungsdruck inzwischen ist.

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