Für FreikäuferWas passiert, wenn eine Stadtverwaltung zum Fähnchen im Wind wird und ein bisschen Getrommel in der autofreundlichen Tageszeitung ausreicht, um gleich mal einen „Sinneswandel“ in der Verkehrspolitik auszulösen? Beim Pro Bahn e.V. ist man jedenfalls ziemlich entsetzt darüber, dass schon ein bisschen Windmachen in der Zeitung genügt, über Jahre erarbeitete Änderungen in der Leipziger Verkehrspolitik einfach vom Tisch zu pusten.

Obwohl parallel mehrere große Beschlusspakete im Verfahren stecken, die endlich den Rahmen bilden sollen dafür, dass Leipzig mal ein zukunftsfähiges und umweltfreundliches Verkehrssystem bekommt. Das hat es nämlich nicht. Radfahrer und ÖPNV-Nutzer wissen das.

Vor diesem Hintergrund war das, was Michael Jana, Leiter des Leipziger Verkehrs- und Tiefbauamtes, in der LVZ erzählen durfte, ein Alleingang. Ein Alleingang, der so allein nicht passierte, denn wenig später erzählte dann auch Oberbürgermeister Burkhard Jung in einem LVZ-Interview ähnlich unbeschlossene Wolkenträume. Zum Beispiel zu einer weiteren „City-Tunnel-Röhre“ in Ost-West-Richtung: „Wenn wir über 700.000 Einwohner groß werden, muss die kommen! Wir brauchen eine leistungsfähige Ost-West-Verbindung für den Schienenverkehr. Und wir müssen über den Autoverkehr der Zukunft diskutieren. Natürlich macht es Sinn, bestimmte Tangenten auszubauen. Wichtig ist, für den Verkehr der Zukunft zu planen – und nicht auf Basis der fossilen Stadt von heute.“

Ja, was denn nun? „City-Tunnel-Röhre“ und Tangentenausbau würden genau die Gelder verbrennen, die dringend zum Ausbau des ÖPNV gebraucht würden.

„Pressekampagne“ nennt Pro Bahn das, was jetzt wieder über die alte Autofahrer-Zeitung inszeniert wurde, ohne dass auf Zahlen und Fakten eingegangen wird.

„Neu“ sei daran jedoch nichts, denn die massiven Straßenneubauforderungen mitten durch die sensiblen Leipziger Auwald- und Erholungsgebiete gleichen uralten Planungen aus den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Aus Sicht des Fahrgastverbandes taugen die Vorschläge in der Phase einer dynamischen Stadtentwicklung gar nicht, die aufgelaufenen Verkehrsprobleme zu lösen. Völlig „ideologiefrei“ müsse dazu festgehalten werden, dass derartige Investitionen mit Vorlaufzeiten von 10 oder gar 20 Jahren für die heutigen Herausforderungen schlicht zu lange dauern würden. Lösungen brauche es jetzt.

Denn der Blick auf die aktuelle Stadtpolitik zeigt, warum Leipzigs Stadtpolitik derart leicht umzublasen ist.

Sie scheint zumindest vom OBM nicht allzu ernst zu sein, wenn er neue Riesenprojekte offenherzig begrüßt, im Tarifmoratorium im Stadtrat aber mit (falschen) Zahlen argumentiert, um die nächsten Fahrpreissteigerungen bei den LVB zu eröffnen.

„Gleichzeitig zur Etablierung von Ausbauvisionen mit Kosten im dreistelligen Millionenbereich schafft es der Stadtrat nicht, den alljährlichen überdurchschnittlichen Anstieg der ÖPNV-Tarife wenigstens auszusetzen“, stellt Carsten Schulze-Griesbach vom Pro Bahn e.V. Mitteldeutschland fest. „Die ohnehin fragwürdige, gar falsche Begründung, man müsse sonst überlegen, welche Schule nicht gebaut werden könne oder welche dringend nötige Kita nicht errichtet werden könne, passt überhaupt nicht zur Freude über Millionenkosten im Straßenbau. Hier wird Schindluder mit den Sorgen der Bevölkerung getrieben! Die Zielvorgaben des von allen mitgetragenen Stadtentwicklungsplans Verkehr und Öffentlicher Raum werden damit nicht erreicht.“

Und wie ist das mit dem Wirtschaftsverkehr? Auch da ändert sich der Blickwinkel, wenn man nicht nur neue Straßen als Lösung sieht.

Entsprechend deutlich ist die Kritik von Pro Bahn. Denn auch das hatte die dem Aktionsplan „Mobilität Leipzig 700plus“ zugrunde gelegte Studie deutlich benannt: Die drängendsten Probleme hat Leipzig bei der ÖPNV-Erschließung des Nordraums. Die meisten dort Arbeitenden kommen ohne Auto gar nicht hin, weil das ÖPNV-Netz geradezu mickrig ist – von modern und leistungsfähig kann dort gar keine Rede sein.

„Die Leipziger Wirtschaft, welche angeblich mit dem Thesenpapier zum massiven Ausbau der Tangenten glücklich sein soll, braucht stattdessen eine viel bessere Erreichbarkeit für die Beschäftigten“, stellt Carsten Schulze-Griesbach fest. „Hier schafft man es nach 20 Jahren nicht, mehr als eine verschämte Buslinie alle halbe Stunde in das größte Areal ‚GVZ‘ mit 7.000 Arbeitsplätzen fahren zu lassen. Nicht mal für leicht einzurichtende Buslinien reicht das Geld! Nahe dem S-Bf. Leipzig MDR fehlt seit Jahren noch die versprochene Fußgängerbrücke, um den namensgebenden Arbeitsplatzstandort ohne kilometerlangen Umweg erreichen zu können. Hierdurch wird die Wirtschaft ausgebremst. Pro forma geschlossene Straßenringe helfen im zunehmenden digitalisierten Business nicht weiter.“

Und dann wird er noch deutlicher. Denn hier wird einseitige Parteipolitik gegen jede Art umweltfreundlichen Verkehr gemacht.

„Die gleichen Stadträte, welche vor zwei Jahren dem Ende der Linie 9 im Süden zugestimmt haben, stimmten auch gegen das Deckeln der Fahrpreise, gegen dringend nötige Investitionszuschüsse für die Straßenbahn und äußerten sich nun hocherfreut darüber, dass ein Amtsleiter ohne Abstimmung mit anderen Ämtern sich der millionenteuren Straßenbau-Visionen angenommen hat. Das ist Politik gegen die Leistungsfähigkeit der Stadt, gegen leistungsfähigen Nahverkehr – im Grunde gegen die Bürger und Wirtschaft“, sagt Carsten Schulze-Griesbach. „Statt in Beton müssen deutlich mehr Mittel bereitgestellt werden, um endlich eine Liniennetz-Erweiterung zu schaffen, die Umrüstung auf Niederflurfahrzeuge zügig zu beenden und um mit dem Stadtwachstum mithalten zu können. Zum Wohle aller. Deshalb: Keine Alleingänge eines Amtsleiters – Leipzig hat die veralteten Straßenbau-Konzepte nicht verdient!“

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Ein Blitzlicht in einen drögen Wahlkampf, in dem alle ungelösten Probleme unter den Tisch gelächelt werden

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