Das Design ist klassisch. Jeder kennt es, der schon mal ein Buch aus dem Karl-May-Verlag in der Hand hatte. Nur ist es deutlich größer und schwerer. Denn wenn man Karl May inszeniert – egal, ob im Film oder auf der Freilichtbühne – geht es um Bilder. Große Bilder aus jener Phantasiewelt, die bis heute bei vielen das Bild vom Wilden Westen prägt. Und dieser erste Band zu „Karl May auf der Bühne“ ist mit Bildern reich bestückt.

Nicolas Finke und Reinhard Marheinecke sind tief in die Archive gekrochen, um in dieser neuen Reihe aus dem Karl-May-Verlag einmal die komplette Bühnengeschichte der Karl-May-Inszenierungen in Deutschland aufzuarbeiten. Die begann nicht in Bad Segeberg, nicht in Elspe und auch nicht auf der Felsenbühne in Rathen. Sie begann nicht mal unter freiem Himmel. Was einen ja überrascht, wo man bei Winnetou und Old Shatterhand doch eigentlich an schöne blaue Himmel, jagende Pferde, herrliche Bergszenen denkt.Aber in gewisser Weise steht auch die Bühnenrezeption von Karl May für eine kulturelle Veränderung. Und eine veränderte Beziehung zur Natur. Denn zu Karl Mays Zeiten wäre eher kein Intendant auf die Idee gekommen, Natur als Bühne zu begreifen. Das ist ganz modern und gehört zum 20. Jahrhundert und zu einer sich verändernden Beziehung gerade der Städter und Großstädter zur Natur, die auf einmal als Urlaubs- und Erholungsraum entdeckt wurde, egal, ob draußen in den Wäldern oder in den Parks der Stadt.

Diese Dimension erkunden die beiden Autoren zwar nicht. Aber sie gehört dazu. Genau deshalb entstanden die bekannten und auch die mittlerweile wieder verschwundenen Naturbühnen alle zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es gab ja mal viel mehr als heute. Und etliche finden im Buch auch Erwähnung, weil dort natürlich auch Karl-May-Inszenierungen stattfanden.

Aber Finke und Marheinecke gehen natürlich systematisch vor. Und im Zentrum steht natürlich das Archiv des Karl-May-Verlages, wo ja auch die Abrechnungen über die Tantiemen liegen, die für jede Inszenierung der vom Verlag autorisierten Stückfassungen flossen. Weshalb natürlich auch die beiden bekanntesten frühen Verfasser von Karl-May-Bühnenversionen porträtiert werden, denn sie haben auf ihre Weise auch die Karl-May-Rezeptionen in den jüngeren Verfilmungen geprägt.

Karl May selbst wollte wohl auch mal eine Bühnenfassung herstellen. Aber er hat nie wirklich eine vorgelegt, worüber Marheinecke und Finke natürlich staunen: So berühmt, wie der Sachse zu Lebzeiten war, hätte das Publikum doch auch die Theater gestürmt, wenn dort Winnetou und Nscho-tschi zu sehen gewesen wären. Oder doch nicht?

Man projiziert ja nur zu gern den heutigen Blick in die Vergangenheit. Und schaut, wenn man auch noch richtiger Karl-May-Verehrer ist, mit Glanz in den Augen auf diese Welt, die ja eine reine Welt der Imagination ist. Mays Wilder Westen ist die Phantasie eines Autors, die sich aufs Engste mit den (damals herrschenden) Vorstellungen der meisten Deutschen von Amerika und seinen Helden und Schurken verquickt.

Und vor allem mit ganz europäischen Vorstellungen von Heldentum und Edelmut, geboren in der (deutschen) Romantik und ausgereift bis zur überreifen Frucht in Abenteuerromanen, in denen reisende Europäer den wilden Völkern in aller Welt die Zivilisation brachten.

Das darf man auch bei May nicht vergessen, auch wenn er einer der Ersten war, der dieses Überlegenheitsdenken durchbrach und einen guten Teil seines weißen Personals sich so schurkisch benehmen ließ, wie es die welterobernden Europäer nun einmal auch meistens getan haben. Irgendetwas regte ja diese frühen Karl-May-Leser auch schon an, in dem Gespann Winnetou / Old Shatterhand etwas zu sehen, was faszinierender war als das kleinnationale Gepöbel in der irdischen Politik.

Oder flüchteten auch sie nur in die Phantasiewelten des Burschen aus Radebeul, der die Felsmassive im fernen Amerika überhaupt nicht kannte und wohl genauso wie einst Richard Wagner seine Phantasie-Kulisse in der Sächsischen Schweiz fand?

Jedenfalls schien der Bedarf nach richtigen Karl-May-Stücken auf der Bühne nach dem Ersten Weltkrieg riesengroß. Und der erste Teil des Buches beschäftigt sich intensiv mit diesen frühen Inszenierungen in ganz klassischen Theatern, mit den Spielplänen dieser Theater, den Schauspieler/-innen, die die tragenden Rollen besetzten, und den Reaktionen der Presse auf die Premieren.

So bekommt man durchaus einen Eindruck davon, wie diese ursprünglich oft für Kinder gedachten Inszenierungen auf ihr Publikum wirkten und auf die rauschebärtigen Herren der örtlichen Presse, die einfach keine Erklärung dafür fanden, warum die Stücke so einen Erfolg hatten.

Und so findet dann auch das Leipziger Centraltheater / heutige Schauspielhaus seine Erwähnung, weil es da zumindest ein Gastspiel gab. Immerhin. Denn andere Theater vermerkten das Gastspiel nicht mal in ihren Spielplänen. Es ist wirklich eine Spurensuche, aus der sich nach und nach das Bild einer Theaterwelt ergibt, in der an verblüffend vielen Theatern Karl May gespielt wurde. In zum Teil sehr burlesquen Kostümen und mit Schauspielern, die durchaus auch aus den Filmen ihrer Zeit bekannt sind.

Erst in den 1930er Jahren begann tatsächlich die Zeit der Freilichtbühnen. Und auch wenn die Legende davon erzählt, dass das Freiluftabenteuer mit Winnetou auf der Felsbühne Rathen begann, können Finke und Marheinicke diese Legende entkräften und die wirklich erste Karl-May-Bühne genauso benennen wie alle anderen, die es seither im heutigen Bundesgebiet gab.

Wobei sie natürlich besonderes Augenmerk darauf legen, die Herausbildung der heute als klassisch empfundenen Karl-May-Festspiele besonders zu beleuchten. Und da stimmt es schon, da spielte die Felsbühne Rathen 1938 eine ganz besondere Rolle und war natürlich das lange wirkende Vorbild für die Freiluftbühnen in Elspe/Ratingen und Bad Segeberg. Welch letztere dann ab 1952 zum „Karl-May-Mekka des Nordens“ wurde und zum Auftrittsort legendärer Schauspieler.

So ein richtiges Buch zum Ärgern für alle, die damals nicht einfach hinfahren konnten, um zum Beispiel Raimund Harmsdorf als Old Firehand zu sehen, oder 1991 Ralf Wolter als Sam Hawkens verpassten in der Abschiedssaison von Pierre Brice als Winnetou. Aber andererseits zeigen auch die großformatigen Bilder und Plakate, dass die großen (und zunehmend mit mehr Stunts ausgestatteten) Freiluftinszenierungen nicht allein nur von den bekannten Schauspielernamen leben, sondern auch von ihrer grandiosen Kulisse und dem Gefühl, mittendrin zu sein in einem Abenteuer, wie man es selbst in den furiosesten Verfilmungen nicht ist. Samt Regen, Wind und Sonnenschein.

Und natürlich ist mit Bad Segeberg nicht Schluss. Im zweiten Band soll es dann noch viel mehr um Elspe gehen und die Weiterentwicklung der Bühnenabenteuer bis in die Gegenwart. Ganz bestimmt auch mit weiteren Kuriositäten und Anekdoten und vielen großen Bildern, die auf verblüffende Weise auch zeigen, wie sich unser Verhältnis zu Pathos auf der Bühne verändert hat. Wahrscheinlich würden wir, wenn wir heute ganz zufällig in eine Theaterinszenierung von vor 100 Jahren gerieten, vor Lachern aus dem Sessel fallen.

Jedenfalls wirken die Fotos so. Und aus frühen Stummfilmen kennen wir ja diese übertriebenen Gesten und Mienen, die andererseits natürlich auch bestens zur teilweise sehr pathetischen Sprache bei Karl May passten. Noch so ein Fingerzeig, der sichtbar macht, wie sehr Mays Romane den Geist ihrer Zeit ausstrahlen. Was selbst den Karl-May-Verlag später dazu brachte, bei Bühnenfassungen auf einen Verzicht von Mays altertümlicher Sprache zu drängen.

So schnell kann es gehen. Und so weit ich das sehen kann, hat das noch nicht einmal ein Linguist aufgegriffen, wie sehr der Erste Weltkrieg und das Ende des Kaiserreichs auch das zelebrierte Pathos-Deutsch dieser Zeit überholt und vorgestrig wirken ließen. Überlebt hat es nur noch im Pathos unserer alten und neuen Rechten. Denn das Reich, von dem sie immer noch reden, liegt in den Sphären dieses pathetischen Geredes.

Dagegen sind die Helden Karl Mays tatsächlich irdische Gestalten. Und während sich frühe May-Verteidiger noch entrüsteten, wenn der Stoff mal parodistisch dargeboten wurde, zieht es jüngere Verehrer des Romanautors aus Radebeul heute genauso auf die Freilichtbühnen wie in die Kinovorstellung (gern auch Freiluft) mit „Der Schuh des Manitu“. Denn auch wenn May sich selbst gern viel zu ernst nahm, steckt durchaus Humor in seinen Erzählungen.

Mancher würde wohl sogar behaupten: typisch sächsischer Humor, der immer nicht verrät, dass ein Karl May die Welt aus der Perspektive des armen Schluckers betrachtet hat, den die Kritiker auch dann noch zum Betrüger erklären wollen, wenn seine Bücher ein Millionenpublikum gefunden haben. Er steckt also in so ziemlich allen seinen Figuren, wäre wohl gern ein Old Shatterhand gewesen und ein echter Blutsbruder, musste sich aber oft genug eher wie Sam Hawkens gefühlt haben.

So, wie die meisten Sachsen. Und wenn einem das Schicksal immer wieder einen vor den Latz gibt, dann nimmt man das eben mit Humor. Genau diesem leicht hintersinnigen Humor, der nur aus Sicht der eh schon immer Arrivierten so brav aussieht.

Aber da würden wir ja schon fast in ein anderes Buch rutschen. Obwohl genau das natürlich dazugehört, damit Mays Stücke auch heute noch funktionieren. Selbst wenn die meisten Zuschauer wohl nie einen der Winnetou-Bände gelesen haben. Oder haben sie doch? Stehen überall zu Hause die alten Bände von Opa noch in ihrem unverwechselbaren grünen Einband mit Goldverzierung?

Neben die man jetzt diesen ersten Band mit der Bühnengeschichte stellen kann, ein wenig mit der Hoffnung im Bauch, dass auch die Freilichtbühnen demnächst wieder öffnen und alle hinein lassen, die von edler Blutsbrüderschaft träumen und für die der Wilde Westen gleich am Bahnhof anfängt, da, wo der Zug abfährt Richtung Rathen oder Kiel.

Nicolas Finke; Reinhard Marheinecke Karl May auf der Bühne, Band 1, Karl-May-Verlag, Bamberg/Radebeul 2021, 49 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar