Wir sind auch auf der Welt, um die Welt zu sehen. Das vergessen wir viel zu oft, wenn wir uns vereinnahmen lassen von der großen Geld-und-Arbeit-Maschine. Aber ganz unübersehbar nehmen immer mehr Leipziger/-innen die nächste sich bietende Gelegenheit wahr, um die Welt tatsächlich einmal zu erleben – als Backpacker, als Jakobspilger oder – wie Anke und Uwe Müntz – auf einer 500 Tage dauernden Segeltörn durch den Nordatlantik.

So ein Abenteuer ist natürlich nicht ganz so leicht zu bewerkstelligen wie eine kurzentschlossene Wanderung auf dem Weg der Freundschaft, eine 3.000-Kilometer-Tour durch Deutschland oder eine spontan begonnene Fußreise auf dem Jakobspilgerweg.Auch wenn es die schlagzeilenträchtigen Alleinsegler gibt, die auch schon mal die Welt umrunden. Aber wenn man es so machen will wie die Müntz’, dann ist das echtes Teamwork. Und gleichzeitig eine Begeisterung, die die ganze Familie teilt. Die man auch braucht, wenn man nicht nur mit dem kleinen Segler über den Cospudener See huschen will, sondern das gemeinsam Erwirtschaftete in ein hochseetüchtiges Segelboot investiert.

Was Axel und Uwe Müntz sowieso ein Leben lang praktizieren. In Leipzig betreiben sie die Tischlerei Gebrüder Müntz gemeinsam, bewohnen gemeinsam ein Haus und betreiben auch das Segeln gemeinsam. Und als dann auch noch die Grafikerin Anke den Uwe heiratete, teilte auch sie die Freude am Segeln. Als die beiden 2016 heirateten, wussten sie, was auf sie zukommen würde, wenn sie Axels Idee einer richtig großen Hochzeitreise durch den nördlichen Atlantik in die Tat umsetzen würden.

Die Faszination der Welt

Wahrscheinlich sogar das beste Projekt, mit dem man wirklich austesten kann, wie stark man sich aufeinander verlassen kann. Denn gleichzeitig bedeutete das auch für Axel Müntz, dass er anderthalb Jahre lang die Tischlerei allein schmeißen musste. Denn blau machen heißt ja in diesem Fall nicht nur, von Island bis Marokko die Wellen zu reiten, sondern eben auch: nicht da sein.

Das muss man sich erst einmal erarbeiten und loskommen, ohne schlechtes Gewissen. Aber sie haben es getan. 2017 und 2018 haben sie ihre große Acht gefahren, die sie nach Norwegen, auf  die Shetland- und die Faröer-Inseln, nach Island und Irland, Spanien und Portugal, Marokko und auf die Azoren geführt hat, bevor sie über die bretonische Küste und die Kanalinseln zurückkehrten in das geschäftige Mitteleuropa.

Und auch wenn sie unterwegs an viele Orte kamen, für die sie sich fest vornahmen, dorthin wieder zurückzukehren, so macht man so eine Tour im Leben eben doch nur einmal. Und weil sie es wussten, haben sie von Anfang an dokumentiert, was sie sahen und erlebten.

Die vielen faszinierenden Fotos in diesem Buch hat Anke Müntz angefertigt. Es hätte auch ein reiner Bildband werden können für all die Ungläubigen, die einfach keine Vorstellung davon haben, welche faszinierenden Schönheiten in anderen Ländern zu sehen sind – und zwar meistens weitab der Touristenströme und der überlaufenen Städte. Die Fotos sind eine einzige Feier der Schönheit unseres Planeten, des Meeres, der Küsten und Inseln.

Allein unter Ausländern

Denn natürlich sind die beiden nicht nur gesegelt, sondern haben in jedem der angesteuerten 14 Länder, auf jeder der 24 Inseln, vor denen sie ankerten, und von jedem der 54 Häfen aus die Gelegenheit wahrgenommen, das Hinterland zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Mietauto zu erkunden. Wenn man schon so lange unterwegs sein darf, dann sollte man sich wirklich auch auf die Länder einlassen, die man besucht. Und auf die Menschen sowieso.

Das Tagebuch der Reise hat Uwe Müntz geschrieben – in einem zuweilen übermütigen, kessen Tonfall, gern auch gespickt mit Überlegungen zu Land und Leuten. Den beiden Reisenden war ja klar, dass sie mit ihren ganz sächsischen Weltsichten und Vorurteilen auf Reisen gingen.

Als geübte Segler wussten sie zwar schon, dass in den Segelhäfen der Welt alles geregelt ist und überall dieselben internationalen Regeln einzuhalten sind. Aber freundliche Hafenmeister und offenherzige Segelbekanntschaften sind das eine. Segler bilden sowieso eine eigene, internationale Gemeinschaft.

Aber für Uwe immer wieder zur Überraschung wurden die Begegnungen mit den Menschen auf dem Festland. Da war man anderthalb Jahre immer nur unter lauter Ausländern unterwegs – und es waren alles schöne, manchmal aufregende, oft herzergreifende Begegnungen. Denn es gilt bei Reisen wohl genauso wie beim Zuhausebleiben: Wer offenen Herzens auf andere zugeht, wird in der Regel auch freundlich empfangen.

Wer dann gar noch so wie Anke und Uwe Müntz völlig allein unterwegs ist und weiß, dass man unterwegs auch auf Hilfe anderer Menschen angewiesen ist, sonst funktioniert die Reise ja nicht, der geht sowieso schon mit anderen Erwartungen auf die Fahrt.

Und auch mit einer anderen Zuversicht, sonst bekommt man unterwegs nämlich nicht die leeren Propangasflaschen für die Kombüse gefüllt, bekommt keine Tipps zu herrlichen Thermalquellen, trifft keine Werkstattbesitzer, die einem auch noch im entlegendsten Winkel des Kontinents seltene Ersatzteile für den Bootsmotor besorgen usw.

Beim Lesen einfach mal verreisen

Wer sich auf Reisen begibt, begibt sich auch in die Hände der Welt, muss darauf vertrauen, dass andere Menschen in anderen Ländern einem ebenso hilfreich und freundlich begegnen, wie man das auch daheim tun sollte, wenn dort Reisende stranden. Und so erleben auch diese beiden Segler, was auch schon die oben erwähnten Welt-Wanderer erlebten: Menschen sind fast überall gastfreundlich und hilfsbereit. Manche sogar noch viel gastfreundlicher, sodass Reisende dort unverhofft auch mal am Familientisch landen können.

Und noch etwas fällt auf: Es gibt im ganzen Buch wieder keine Politik, keine Tagesnachrichten. Als würde das ganze Theater, das die großen Medien jeden Tag veranstalten, für das wirkliche Leben der Menschen überhaupt keine Rolle spielen. Mal von der Fußballweltmeisterschaft abgesehen, deren Ergebnis die beiden Reisenden kurz vor dem Ende ihrer Reise auch noch in Frankreich erlebten.

Text und Fotos vereinen sich tatsächlich zu einer dicht gepackten Reise. Wenn man nicht aufpasst, ist man selbst beim Lesen erst einmal für ein paar Tage weg, hat Möwenkreischen im Ohr, das Rauschen der Wellen, das Tuckern des Motors, wenn das Boot durch eine der vielen nicht erwarteten Flauten hindurch muss. Es ist, als würde man selbst einmal kurz abtauchen in Ferien, die nicht aufhören sollen.

Zumindest lässt das der Text vermuten, wenn die beiden kurzerhand beschließen, einfach mal für ein paar Wochen im Hafen zu bleiben und das Land zu genießen und sich auch einfach mal den Einheimischen anzuvertrauen, um wirklich zu erleben, wie es hinter dem Küstengebirge aussieht.

Raus aus dem Maschinentakt

Was man dabei erfährt, ist natürlich, dass es gerade in diesen ozeanische Regionen viel ruhiger und gelassener zugeht als in den großen Städten des Kontinents. Das Blau-Machen ist für die Beiden tatsächlich ein Wechsel in einen völlig anderen Lebensrhythmus. Einen, der uns wahrscheinlich viel besser bekäme, wenn wir uns das alle viel öfter trauen würden. Aber die meisten von uns können ja nicht mal im Urlaub wirklich loslassen und auf durchgeplante und durchgetaktete Abläufe verzichten.

Was wohl auch der Grund dafür ist, warum bei uns so viel Mürrischkeit und Missmut spazieren geht. Denn wer nicht bei sich ist, nie zu sich kommt, der wird seine Erlösung immer von irgendwelchen anderen Leuten erwarten, von denen man glaubt, sie wären schuld am eigenen Missbehagen. Obwohl wir es in der Regel selbst sind – auch dann, wenn wir glauben, andere Leute würden unsere armselige Freiheit beschneiden oder sie uns gar wegnehmen.

Natürlich erzählt das reich bebilderte Buch so auch von Freiheit. Freiheit, die wir uns selbst organisieren, wenn wir einfach den Mut finden, unsere Träume zu verwirklichen und der Neugier auf die Schönheit der Welt Raum geben. Das kann kein anderer für uns tun. Das müssen wir selbst hinkriegen – auch wenn dazu oft eine Menge Organisationstalent, viel Mut zum Selbermachen und handwerkliches Geschick gehören.

Die hat nicht jeder. Oder mal so formuliert: Wir haben uns abhängig machen lassen wie die Babys. Wenn wir selbst für das Abenteuer des Urlaubs alle Verantwortung an einen „Ferienanbieter“ abgeben, kommen wir natürlich nie raus aus diesem Kokon, der uns Schutz und Geborgenheit vorgaukelt, die aber reine Illusion sind. Die eher unsere Angst davor nähren, uns der Welt tatsächlich einmal mutig zu stellen und uns zuzutrauen, die eingetakteten Pfade zu verlassen.

Respekt und Demut vor der Welt

„So nichtig und unbedeutend wir uns manchmal fühlten, waren wir immer dankbar für dieses Erleben“, schreibt Uwe Müntz. „Respekt und Demut vor der Natur und Ehrfurcht vor den Elementen machen uns nicht klein, im Gegenteil. Sie machen uns zu einem Teil von ihnen.“

Womit er ja auch eins unserer brennendsten Probleme anspricht: Unsere Abkapselung von der Natur, die mit der Abkapselung vor der Welt da draußen einhergeht. Wir sind auch der faszinierenden Welt entfremdet, sitzen in unseren Höhlen und starren die Schatten an der Höhlenwand an. Statt einfach den Mut zu fassen, den Kokon zu verlassen und uns der Welt auszusetzen.

Auch wenn sich nicht jeder 500 Tage Auszeit nehmen kann, weil der Bruder das Geschäft weiterführt. Das ist ein Glücksfall. Aber das ganze Buch ist auch ein Lied auf die Weite und Offenheit der Welt. Und auf unsere Sehnsucht nach dem Aufbrechen. Denn ganz am Ende, als alle Texte und die vielen tausend Bilder von der Reise gesichtet sind, spürt Uwe Müntz es wieder „leise wispern: Denn nach der Reise ist vor d…“

Anke Müntz; Uwe Müntz Blaugemacht, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 28 Euro.

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