Wie war das damals in Leipzig 1899? Wie löste die Polizei ihre Fälle? Löste sie überhaupt ihre Fälle? Nachdem die Krimiautoren in den vergangenen Jahren die durchaus spannende Zeit der Weimarer Republik für sich entdeckt haben, wagen sich die ersten auch schon ins 19. Jahrhundert vor, eine Zeit, in der Polizei noch eine kommunale Angelegenheit war und der Polizeidirektor Mitglied des Ratskollegiums. Kein Wunder, dass Kriminalkommissar Joseph Kreiser mit seinem Chef ein paar gewaltige Probleme hat.

Denn es ist ja nur zu logisch: Wenn der Mann so direkt in der Dienstbarkeit der Stadt steht, haben einige Leute einen sehr kurzen Draht und beschweren sich beim Polizeidirektor persönlich, wenn ihnen ein neugieriger Kriminalkommissar zu sehr auf die Pelle rückt. Es hat durchaus seinen Sinn, dass das Polizeiwesen ab 1922 verstaatlicht wurde und auch die noblen Herren aus der Wirtschaft nicht einfach mal in der Wächterstraße anrufen können, wenn ihnen die Polizeiarbeit nicht passt.In das neue Polizeigebäude in der Wächterstraße, die „Wächterburg“, ist Leipzigs Polizei übrigens gerade erst 1890 eingezogen. Das war auch das Jahr, in dem die Leipziger Polizei neu eingeteilt wurde und auch erstmals eine eigene Kriminalabteilung entstand, in der Gregor Müllers Held seinen Dienst versieht. So gut er kann, denn da ist ja nicht nur der Chef, der ihn behandelt wie einen undisziplinierten Botenjungen. Da sind auch die missgünstigen Kollegen, die ebenso den kurzen Weg zum Chef kennen, um den „Neuen“ immer wieder anzuschwärzen.

Die Schattenseiten der Boomtown

Kein leichtes Leben, das sich der alleinlebende Joseph Kreiser da zumutet. Dass er seinen ersten Fall in „Völkerschau“ mit Bravour gelöst hat, spielt da sichtlich keine Rolle. Und dass ihm seine sexuelle Veranlagung noch gewaltige Scherereien einbringen wird, ist schon absehbar, auch wenn er sich in diesem Band schon mal dem Polizeireporter Feodor Beier outen muss, der seinerseits ein sehr talentierter Bursche ist, wenn es um das Einschätzen seiner Mitmenschen geht.

Aber wir sind ja im Jahr 1899, mitten in einem Wilhelminischen Kaiserreich mit seinen strengen Sittengesetzen, mit denen ein verlogenes Bürgertum sich ein moralisches Mäntelchen umhängte, während man wie selbstverständlich die Dienste angemeldeter Huren und „gefallener Mädchen“ in Anspruch nahm.

Ein solches Mädchen stürzt gleich zu Beginn dieser Geschichte aus dem Fenster. Es sieht wie Selbstmord aus und eigentlich geht das Joseph Kreiser gar nichts an. Um Selbstmorde kümmert sich die Kriminalpolizei nicht. Aber kurzentschlossen übernimmt er den Fall und handelt sich damit schon mal den ersten Ärger mit seinem Chef ein.

Man merkt schon, dass Georg Müller studierter Archäologe und erfahrener Rechercheur ist und sehr viel Wert darauf legt, das Leipzig des ausgehenden 19. Jahrhunderts möglichst authentisch zu zeichnen. Eine Stadt, in der das Sterben noch viel gegenwärtiger war als heute und Selbstmorde fast schon Alltag – gerade bei den Menschen am Rande der Gesellschaft, denen der Weg aus der Armut verbaut ist und Ausweglosigkeit kein Fremdwort.

Eine Zeit, in der Pfandleiher noch eine unersetzliche Rolle spielten, weil sie die einzigen waren, zu denen man die letzten Wertgegenstände bringen konnte, um wenigstens ein bisschen Geld zu bekommen, wenn man wirklich nichts mehr zum Leben hatte.

Weltuntergangsstimmung

Und bei einigen Menschen in diesen armseligen Verhältnissen taucht Joseph Kreiser im Lauf dieser Geschichte auf, sieht ihre erbärmlichen Wohnbedingungen und ist hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl und seiner Rolle als Ermittler. Und außerdem drängt die Zeit, denn eigentlich soll er sich um die Quelle für mysteriöse Lottoscheine einer „Jahrhundertlotterie“ kümmern, die den Käufern der Scheine nach Silvester eine große Verlosung in Aussicht stellt – nur sind die Scheine gefälscht und gehören zu keiner der offiziellen Lotterien. Wer hat sie also gedruckt? An wen fließt das Geld, das die Botenjungen dafür einsammeln?

Da die Handlung des Romans am 27. Dezember 1899 beginnt, weiß der Leser also, dass Kreiser so richtig unter Druck steht und von einer ruhigen Zeit zwischen den Festen keine Rede sein kann, auch wenn er bei seiner blinden Vermieterin Hannah Faber geradezu ein liebevolles Zuhause gefunden hat und sich mit ihr allabendlich auch über seine Fälle unterhalten kann.

Was insofern Sinn ergibt, als die alte Dame ihm auch diesmal bei der Lösung des Falles hilft – wenn auch eher indirekt, weil es bei den drei scheinbaren Selbstmorden, die Kreiser vorfindet, augenscheinlich um eine biblische Endzeitprophezeiung geht. Die dann wieder in die Zeit passt – im Roman lässt Kaiser Wilhelm II. das Ende des 19. Jahrhunderts einfach mal ein Jahr vorziehen, weil ein Jahr später das Jubiläum des 1871 gegründeten Kaiserreichs anstünde.

Aber die Zeit war ja sowieso schon voller Weltuntergangsstimmung. Während in den entwickelten Ländern Europas der Kapitalismus eine Orgie der Technik feierte und das Bürgertum die Wohltaten eines wachsenden Wohlstands feierte, traten mit dem Nationalismus und dem Antisemitismus zwei Gespenster auf die Bühne, die schon einmal andeuteten, dass das kommende 20. Jahrhundert ganz bestimmt kein friedliches werden würde. Und hinter den Kulissen wurde längst an der Kriegsmaschinerie gebaut, die 14 Jahre später Europa in einen blutigen Krieg zerren würde.

Das elektrische Straßenbahnzeitalter hat gerade begonnen

Man ahnte so etwas und die begnadetsten Schriftsteller der Zeit nahmen diese Stimmung auch auf. Auch wenn sie in dieser Geschichte erst einmal nicht vorkommen. Denn Kreiser hat gar keine Zeit zum Lesen. Nicht mal zum Lesen der von ihm an den Tatorten konfiszierten Akten. Denn spätestens als ein jüdischer Geldverleiher zu Tode kommt, ist klar, dass hinter den scheinbaren Selbstmorden System steckt und die Fälle alle zusammenhängen.

Und als ihm seine Vermieterin Hannah Faber eher beiläufig erzählt, dass es in der Apokalypse des Johannes um vier unheilvolle Reiter geht, wird Kreiser klar, dass es bei drei inszenierten „Selbstmorden“ nicht bleiben wird. Und als er gar begreift, wer das vierte Opfer sein wird, muss er seinem völlig untrainierten Körper alles abverlangen und jagt durch das tiefverschneite Leipzig – eine durchaus sportliche Leistung, wenn man bedenkt, dass er sonst lieber die Droschken und Straßenbahnen nutzte, die damals durch Leipzig fuhren.

Auf die Straßenbahnen konnte man noch aufspringen, denn sie hatten offene Perrons. Und sie fuhren auch durch Straßen, wo man heute vergeblich nach Straßenbahngleisen sucht. Außer natürlich da, wo die wirklich Armen wohnten – im Naundörfchen zum Beispiel und im Seeburgviertel.

So ganz unbekannt ist emsigen Leserinnen und Lesern dieses Leipzig natürlich nicht. Denn der 1912 erschienene Leipzig-Roman „Maurice Guest“ von Henry Handel Richardson spielt ja nur zehn Jahre vor den Ereignissen in Müllers Buch. Und Richardson hatte das Leipzig von 1890 noch selbst erlebt – mitsamt den damals noch fahrenden Pferdebahnen, die erst 1896 durch elektrische Bahnen ersetzt wurden.

Joseph Kreiser ist also mit richtig modernen Fahrzeugen unterwegs. Und die Schutzmänner, die er immer wieder für seine Ermittlungen einspannt, erinnern noch zu Recht an die Schutzleute der Zeit vor 1890, als sie ihre Hauptwache noch am Naschmarkt hatten – samt kleineren Wachen im Stadtgebiet verteilt, so wie am Johannisplatz oder in der Zeitzer Straße.

Das Antlitz der Armut

Man merkt tatsächlich, dass Gregor Müller das Zeitkolorit genau studiert hat und mit akribischer Genauigkeit versucht, uns dieses Leipzig auch bildhaft erleben zu lassen – samt seinem Schummerlicht, dem kurz eingeblendeten Weihnachtsmarkt und dem ewigen Bemühen, mit Kaminen und Öfen wenigstens ein bisschen Wärme in die Wohnungen zu bekommen. Entsprechend eisig war es dann in den Behausungen der Armen, die Kreiser in Begleitung des Staatsanwalts Gustav Möbius betritt.

Dass in all dieser Trostlosigkeit dann auch noch seelische Nöte die Menschen plagen, ist da eben nicht nur ein Konstrukt. Am Rossplatz zeigt das Panorama die opulente Inszenierung der Schlacht bei St. Privat, in der die sächsischen Truppen im August 1870 einen gewaltigen Blutzoll zahlten, als sie die Preußen heraushauen mussten.

Eine Schlacht, die in Sachsen wie in Preußen jahrzehntelang gefeiert wurde – in Sachsen auch unter dem Aspekt, dass man hier mit vielen Toten gezeigt hatte, dass man genauso gut national dachte und handelte wie die zuvor immer bekämpften Preußen. Für Militärs wie den alten Major, der das zweite Opfer ist, ein einziges militärisches Ruhmesblatt. Aber wie ging es den einfachen Soldaten, die in dieser Schlacht verheizt wurden?

Eine Frage, die mit zur Lösung der Geschichte gehört, auch wenn es Kreiser am Ende nicht wirklich vergönnt ist, dem Täter so richtig auf den Zahn zu fühlen. Vielleicht hätte er auch nicht allzu viel herausbekommen im Verhör, denn die moderne Psychologie steckte ja auch noch in den Kinderschuhen.

Selbst mit seiner Menschenfreundlichkeit scheint dieser Kreiser ja nicht wirklich hineinzupassen in dieses Zeitalter, für das die Herren Direktoren der Polizei und der Zwangsanstalt St. Georg durchaus typisch gewesen sein könnten. Denn Polizei wurde in diesem gar nicht so fernen Jahrhundert durchaus noch als System begriffen, die vermuteten Unbotmäßigkeiten der Hungerleider zu bändigen und die (aus Hunger und Not) kriminell gewordenen Frauen und Männer in geschlossener Unterbringung zu korrigieren.

Ein wohl vertrautes Weltbild

Es sind zwar scheinbar einfache Szenen, in denen Gregor Müller das thematisiert. Aber man muss es thematisieren. Dann versteht man auch, woher das heutige konservative Denken sein ganzes negatives Weltbild hat, in dem gerade die von Not und miesen Einkommen Geplagten alleweil wie Sünder betrachtet werden, die an ihrem Schicksal selber schuld sind und sowieso zu faul zum Arbeiten, wenn man ihnen nicht mit Sanktionen Beine macht.

Das nur so am Rande. Manchmal ist es wichtig, sich daran zu erinnern, wie die „gute alte Zeit“ wirklich war. Und Müller verklärt dieses Leipzig im Wilhelminischen Zeitalter nicht. In „Völkerschau“ hat er schon den damals für normal angesehenen Rassismus thematisiert, hier taucht jetzt auch der Antisemitismus auf, dessen schlimmste Schriften damals in Leipzig gedruckt wurden. Da wird wohl auf diesen Joseph Kreiser noch so einiges an Zumutungen zukommen. Denn der letzte Kreiser-Roman aus Müllers Tastatur wird das nicht gewesen sein. Die Geschichte ist auf Serie angelegt.

Und sie ist eine Einladung an all jene Krimi-Freunde, die gleichzeitig auch wirklich wissen wollen, wie es sich damals lebte in diesem Leipzig, dessen Glanzseiten in jedem Geschichtsbuch stehen. Aber wie die nicht von Glück und Geld Begünstigten lebten, das findet man auf den Glanzpostkarten nicht. Das braucht eine gewisse Phantasie, um es sich auszumalen und dabei nicht zu romantisieren. Denn die hohe Zahl an Selbstmorden damals erzählt von vielerlei, aber nicht von einer Idylle der Armut, in der die meisten Leipziger/-innen leben mussten.

Gregor Müller Leipziger Zeitenwende, Gmeiner Verlag, Meßkirch 2022, 12 Euro.

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