Ein „Buch der Stunde“ nennt es der Verlag, und das ist in gewisser Weise auch, was Martin Gross mit dieser Wintergeschichte aus den Tiefen Sibiriens vorgelegt hat. Einer Geschichte, die auf eigenen Erlebnissen basiert. Denn in jenen Jahren, als Russland von Jelzin zu Putin wechselte, war er tatsächlich dort, um wissenschaftliche Projekte mit russischen Partnern vorzubereiten. Vollkommen überzeugt, die Russen würden nur darauf warten, sich den Werten und Vorstellungen Europas zu öffnen.

Pustekuchen war’s. Obwohl das jetzt etwas leger ausgedrückt ist. Denn natürlich ging es Gross wie all den heute so emsig über den Ukraine-Krieg Debattierenden: Sie schauen mit europäischen Augen auf dieses Russland.  Manchmal achselzuckend, manchmal bedauernd, meist vorwurfsvoll, warum es dieses Russland einfach nicht fertigbringt, sich wie alle anderen zivilisierten Staaten zu verhalten.

Eine völlig missglückte Wirtschaftsreform

Dabei haben die Missverständnisse schon viel früher begonnen. Und der Held in der Geschichte, die Gross anhand seiner Tagebuchaufzeichnungen entwickelt hat, stößt schon früh auf diese Ignoranz des Westens, der ja nicht nur in Ostdeutschland glaubte, man müsste nur die ganze Wirtschaft wieder privatisieren, dann würden aus verwalteten Bürgern auch automatisch glühende Demokraten.

Dass das auch in Ostdeutschland so simpel nicht funktioniert hat, wissen wir. Dass es in Russland gänzlich danebenging, kann man schon in Philipp Thers 2015 mit dem „Preis der Leipziger Buchmesse“ ausgezeichneten Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ nachlesen (Wir haben es damals in zwei Teilen besprochen – hier und hier).

Die Radikalkur, mit der die westlichen Berater Russland das neoliberale Denken beibrachten, endete 1998/1999 mit einer Wirtschaftskrise, die nicht nur die Grundlage für die enorme Bereicherung der Oligarchen war, sondern auch die Rückkehr der Apparatschiks zur Macht.

Olga, die Kollegin, die den Helden der Geschichte bei seinem Aufenthalt im (erfundenen) sibirischen Jakuschevsk betreut, spricht von „eurer verfluchten Marktwirtschaft“. Und der Held kommt schon früh ins Grübeln:

„Wahrscheinlich hat sie ja recht. Das hier ist die Monster-Version der Freiheit. ‚Wenn ihr frei sein wollt, müsst ihr liberalisieren, privatisieren, deregulieren, kommerzialisieren!‘ Und das machen sie jetzt auch hemmungslos, die ehemaligen Kader. Vermutlich werden die Russen noch in 50 Jahren ‚westliche Werte‘ verbinden mit der Raffgier, die jetzt das Land ruiniert. Und nach diesem Desaster hätte ich auch kein besonderes Vertrauen mehr in den Westen.“

Die allgegenwärtige Armut

Die Stadt, die der Erzähler kennenlernt, ist arm und heruntergekommen. Bitterkalt außerdem, da er ja im Winterhalbjahr hier ins tiefste Sibirien gekommen ist und nun den kargen Alltag der Menschen kennenlernt. Selbst die Universitäten sind dem Sparzwang zum Opfer gefallen, sodass sich die Dozent/-innen im Nebenerwerb etwas dazuverdienen müssen.

Das Studium selbst ist völlig verschult und durch zentral vorgegebene Studienpläne normiert. Eigentlich haben da all die schönen EU-Projekte, für die der Erzähler extra das Auslandssemester eingelegt hat, keine Chance, locken zwar mit einem Zusatzverdienst in wertvollen Valuta, während der Rubel-Kurs unbarmherzig fällt.

Aber wen man tatsächlich ansprechen muss, um tragfähige Beziehungen zwischen Universitäten im Westen und in Russland herzustellen, weiß der Erzähler nicht, den man durchaus mit Martin Gross identifizieren kann, auch wenn er die Szenerie bewusst verändert hat. Ein Jakuschevsk gibt es nicht. Es steht für mehrere russische Hochschulstädte, die Gross besucht hat.

Und die Menschen, mit denen er es an der Hochschule und in der Stadt zu tun bekommt, gab es zwar wirklich – aber er hat sie sämtlich anonymisiert, wohl wissend, dass selbst die selbstverständlichsten Aussagen und Handlungsweisen ihnen gewaltigen Ärger einbringen konnten und können.

Denn was heute wieder wie selbstverständlich erscheint – die vollkommene Kontrolle durch Geheimdienst und Polizei über sämtliche Bürger des Landes – war auch vor 20 Jahren schon Gegenwart, vielleicht ein wenig versteckter, nicht so offen.

Auch wenn der Erzähler schnell merkt, dass sein ganzer Aufenthalt permanent die Aufmerksamkeit der „Organe“ auf sich zieht, während er einfach nicht weiß, wen er eigentlich ansprechen muss, wer hier Einfluss und Beziehungen hat.

Neid und Misstrauen

Der Leser taucht mit ihm ein in ein Land, das Kenner der russischen und sowjetischen Kultur nur zu gut kennen. Ein Land voller Misstrauen, in dem die (Vor-)Urteile über den Westen und seine Bedrohlichkeit auch nicht erst in den letzten 20 Jahren gewachsen sind.

Vorurteile, die immer auch aus dem Vergleich resultieren – denn immer dann, wenn Gross gerade dabei ist, Vergleiche zu Deutschland zu ziehen, wird er gebremst. Als wolle er mit dem, was er als normal erlebt hat, hier immerfort Neid erzeugen. In einer Welt, in der die Existenz der Menschen von ihren Beziehungen abhängt, einstigen DDR-Bewohnern noch als „Vitamin B“ bestens im Gedächtnis.

Nur erstreckt sich dieses „Beziehungen haben“ auf das ganze Leben. Denn die eigentliche Macht liegt nicht bei den Bürgermeistern und Rektoren, sondern bei den „Bisinesmen“: „Sie haben die ruinierten Firmen aufgekauft, haben sich Kredite besorgt, vielleicht auch einen West-Partner, und haben die Betriebe in ihren Clans aufgeteilt …“

Und es kommt gar nicht gut an, wenn der Gast dann ausgerechnet nach den „schwierigen Themen“ fragt – verseuchten ehemaligen Betriebsgeländen, den bettelnden Kindern auf der Straße, den hellerleuchteten Siedlungen im Wald. Oder seine Studentinnen dann gar dazu anstiftet, die Bücher deutscher Autor/-innen, die er behandelt, selbst zu interpretieren.

Damit können sie nichts anfangen. Im Gegenteil: Es hat gar keinen Platz in ihrem eh schon vollgestopften Studium, in dem sie alle Mühe haben, gute Noten zu bekommen. Denn nur ein guter Abschluss gibt den jungen Frauen überhaupt eine Chance, damit später einen etwas lukrativeren Job zu bekommen. Ein kleiner Makel, und das ganze Studium war für die Katz.

Und so langsam begreift er auch, warum die jungen Frauen sich für jeden Tag in der Hochschule schön machen und in Schale werfen, geradeso, als wollten sie sich dem doch schon etwas älteren Dozenten da vorn besonders anempfehlen.

Aber das Phänomen sieht er nicht nur an der Hochschule. So langsam bekommt er mit, dass es die ganze Gesellschaft durchzieht und die jungen Russinnen gar nicht anders können, als so möglichst schnell einen gut verdienenden Partner zu finden.

Die falsche Rahmengeschichte

Logisch, dass dann auch viele Gespräche über Liebe und Partnerschaft das Tagebuch durchziehen. Denn spätestens, als der Gast die Deutsch-Studentin Dilja kennenlernt, wird für ihn das Leben in Russland konkreter, lernt er die Wohn- und Einkommensverhältnisse besser kennen. Und das Denken der jungen Frauen, das sich so deutlich von dem unterscheidet, was er bei seinen Partnerschaften in Deutschland erlebt hat.

Im Februar, als sich sein Aufenthalt so langsam dem Ende zuneigt, hat er schon einiges mehr begriffen von der Fremdheit, mit der Russland noch immer auf „den Westen“ schaut. Denn anders als in Ostdeutschland gab es keine Treuhand und auch keinen wirklichen Elitenwechsel.

„Die Rahmengeschichte stimmt nicht ganz. Offenbar ebenso wie die Rahmengeschichte der ganzen politischen Entwicklung. Wir alle, oder so ziemlich alle, haben doch vor fünf oder zehn Jahren noch gedacht: Mit dem Scheitern des Sozialismus beginnt eine Ära der Demokratie und Freiheit, weltweit. Aber die neue Freiheit ist hier offenbar eine Freiheit des Stärkeren. Und die hiesige Demokratie ist wohl eher eine Monster-Mutation. Und der Westen erkennt darin immer noch einen ‚Reformprozess‘. Das beschert Russland hohe Staatsgäste und hohe Kredite. Und beschert uns eine optimistische Sicht auf den Lauf der Welt.“

In der Nachbemerkung stellt Gross dann fest, wie verblüffend aktuell das alles (wieder) ist.

Das Gefühl einer doppelten Niederlage

Mitten in seiner Zeit in Jakuschevsk fällt die Ankündigung von Polen, Ungarn und Tschechien, der Nato beitreten zu wollen. „Sie fürchten die Nähe Russlands.“

Was blieb also nach dem Ende des Sozialismus? Ein Land, das für sich das Gefühl hatte, eine doppelte Niederlage erlebt zu haben – eine wirtschaftliche und eine militärische. Und so erwähnen es auch mehrere Gesprächspartner im Tagebuch: Was bleibt uns also anderes als die Macht? Gefühlt ist Russland noch immer eine Großmacht. Auch wenn das einstige Sowjetimperium sich 1990 aufgelöst hat.

Heute wissen wir, dass gerade die hohen Funktionsträger diesen alten Traum vom russischen Imperium nie aufgegeben haben. Und wie sehr er mit dem Stolz der Russen selbst in engster Verbindung steht. Man ist zwar arm, ohne das Gemüse von der Datscha wäre man aufgeschmissen. Auf den Straßen herrscht (wenn nicht gerade starker Frost ist) ein geradezu ärmlicher Tauschhandel.

Aber in den Gesprächen mit Dilja, Olga oder seinem bei der Stadtverwaltung angestellten Freund Mischa bekommt Gross so langsam mit, dass sie alle nicht die Wahl haben. Mancher träumt zwar von einer Reise nach Deutschland.

Aber die Freiheit oder gar das Geld, solche Träume einfach in die Tat umzusetzen, haben sie nicht. Sie müssen in den – von außen gesehen – ärmlichen Verhältnissen irgendwie klarkommen, wissen auch, dass sie den Herren „Bisinesmen“ am besten nicht in die Quere kommen und an den Vorgaben „von oben“ besser nichts ändern.

Und so stecken die Verhandlungen um gemeinsame Projekte zwischen den Hochschulen bald fest, merkt der Erzähler, dass er – aus lauter Unwissenheit – wohl einigen einflussreichen Personen auf die Füße getreten ist, während er in Dilja so etwas findet wie einen wärmenden Halt in einer Stadt, die er mal glaubt ins Herz geschlossen zu haben, und dann wieder mit dem leisen Entsetzen anschaut, in dem die Frage mitschwingt: Hält er es hier überhaupt bis zum Ende seiner Gastdozentur aus?

Eine unmögliche Liebe

Am Ende schafft er es tatsächlich noch, eine Zugreise in eine Filiale der Hochschule hoch im Norden am Polarkreis organisiert zu bekommen, also jenes Russland kennenzulernen, das man ja auch mit den unendlichen sibirischen Weiten und den tagelangen Fahrten mit den Zügen assoziiert.

Und mit Dilja hat er auch noch die Begleiterin, die er sich gewünscht hat, auch wenn ihm hier endgültig klar wird, wie unmöglich eine solche Beziehung wäre.

Aber er lernt auf der Fahrt eben auch die Welt kennen, in der die russischen Gas- und Ölfelder liegen. Jene Welt, die in den folgenden Jahren zum Devisenbringer für Russland werden sollte. Auch wenn das Geld dann wohl doch eher bei den diversen Oligarchen und in der Rüstung landete.

Noch träumte man da oben den Traum eines neuen, modernen und weltoffenen Russland. Noch scheint alles möglich. Und Gross nimmt auch kein Urteil vorweg, bleibt auf einer sehr sachlichen Ebene, auf der er auch sich selbst und seine Beziehungen zu den Menschen, denen er begegnet, analysiert.

Menschen, die ihm tatsächlich ans Herz gewachsen sind. Manche sind gestorben inzwischen, mit manchen war er bis zum Kriegsausbruch im regem E-Mail-Kontakt.

Es ist wie so oft mit Literatur: Sie lebt davon, dass ihre Autoren die Welt, über die sie schreiben, tatsächlich kennen und nicht nur durch die politische Brille betrachten, auch wenn jeder diese Brille mitbringt, egal, wohin er reist.

Wer sich dann tatsächlich auf die Orte und Menschen einlässt, merkt ziemlich bald, wie sehr man mit mitgebrachten Vorurteilen um sich schaut und wie wenig man tatsächlich begreift, wenn man nicht wirklich ganz eintaucht in den Alltag des Landes.

Demokratie lässt sich nicht mit Geld exportieren

Der Ukraine-Krieg wird dadurch zwar nicht begreifbarer. Nur dieses Russland selbst, in dem die Menschen gelernt haben, mit wenigem zu leben und sich in die Dinge zu fügen. Und die Hierarchien lieber nicht infrage zu stellen, denn das geht schief, wie das spätere Schicksal von Mischa zeigt. Martin Gross jedenfalls gelingt es, die westliche rosarote Brille abzulegen.

Und auch die westeuropäische Art zu hinterfragen, die Demokratie einfach mit Geld exportieren zu wollen. Was – so deutet er unter dem 20. Februar durchaus an – auch in den anderen osteuropäischen Ländern wohl nicht so gut geklappt hat. Denn „sie wollen vor allem weg von Russland. Und von diesem Armuts-Sozialismus.“

Der Tagebuchschreiber jedenfalls kann sich gut vorstellen, wieder nach Russland zu fliegen. Auch wenn er schon zu Recht fürchtet, dass ihm beim nächsten Mal das Visum verweigert werden könnte.

Gross ist wieder hingeflogen. Das Tagebuch ist auch eine Quintessenz mehrerer Aufenthalte, in dem sich sein Bild vom kalten, winterlichen Sibirien manifestiert hat, seine Irritationen und seine Einsamkeit. Denn einsam ist er trotzdem und eigentlich fremd bis zum letzten Tag, auch wenn er mit Dilja jemanden gefunden hat, dem er tatsächlich nahe sein kann.

Aber man wird sein Land nicht los. Das ist eigentlich das unterschwellige Thema dieses Tagebuch-Romans. Man denkt sein Leben immer in den Möglichkeiten, die man in der Kindheit erlernt hat und für normal begreift. Und deshalb übersieht man oft (und leider oft auch automatisch), dass der Andere völlig anders denkt und anders wertet.

Und so passiert das eben leider auch in der Politik. Man möchte den freundlichen Präsidenten sehen und seinen Versprechungen glauben. Und übersieht die Welt, die er tatsächlich im Kopf hat. Und deshalb ist die nun scheinbar 20 Jahre zurückliegende Geschichte, die Martin Gross erzählt, so etwas wie „ein Buch der Stunde“. Ein kleiner Schlüssel dafür zu verstehen, warum die Sache so in Missvergnügen enden musste.

Martin Gross Ein Winter in Jakuschevsk Verlag Sol et Chant, Letschin 2022, 26 Euro.

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