Wer gelebt hat, der hat etwas zu erzählen. Manchmal passt die Geschichte nahtlos in die großen Generalerzählungen, die auch die Medien erzählen. Manchmal ist es eine Heldengeschichte, manchmal auch eine Opfergeschichte oder die einer lebenslangen Suche nach dem Stein der Weisen oder nur der großen Liebe. Meistens aber passt sie in keine Schublade. Was fängt man damit an, wenn eine das trotzdem erlebt hat?

John Wyttmark, geboren 1962 in Dessau und in der Nähe von Leipzig zu Hause, versteht sich als „Lebensbeschreiber“. Er macht also genau das, was man mit solchen Lebensgeschichten macht. Er erzählt sie. „Was ist Lebenswahrheit?“, fragt er. Oder für die Akademiker unter uns: Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Und wer bestimmt, was richtig ist und was falsch?

Natürlich ist das eine rhetorische Frage. Die Leute, die Adornos flapsigen Spruch immer wieder falsch interpretierten, vergessen immer die Machtfrage. Immer.

Sie interpretieren Adorno aus alter pietistischer Selbstgerechtigkeit. Es ist der alte theologische Zeigefinger, der von den Gezeigten Buße, Reue und ein Geständnis aller Sünden fordert. Das liegt Wyttmark nicht, denn er weiß, dass das wie ein Sprechverbot ist. Wer seine Geschichte nicht erzählen darf, weil sie in den Augen der unbescholtenen Moral die falsche ist, verstummt. Dessen Wissen wird für null und nichtig erklärt.

„Wenn ein Mensch stirbt, stirbt die Bibliothek seines Wissens“, schreibt Wyttmark im Epilog, in dem er seinen Lesern noch einen Schlüssel mitgibt für das, was sie gelesen haben.

Der lange Schatten des Krieges

Einen Schlüssel, den die meisten gar nicht brauchen werden, zumindest all jene nicht, die ihren Eltern und Großeltern zugehört haben, wenn sie erzählt haben. Und damit sind nicht Opas Histörchen aus dem Krieg gemeint.

Was die Großväter tatsächlich im Krieg erlebt haben und was es mit ihnen angestellt hat, haben die meisten sowieso nie erzählt. Sie haben lieber so getan, als sollten wir Jüngeren das schon alles wissen. Irgendwoher. Nur halt nicht von ihnen.

Was Gründe hat. Denn der Krieg richtet Unheil an, noch viele Jahrzehnte, nachdem er zu Ende ist. In den Köpfen derer, die er geschunden hat, geht er weiter. So wie es Maria erlebt hat, Martas Kindheitsfreundin, die sie in einem Kinderheim in Bitterfeld kennengelernt hat.

Während Marta ihre Eltern schon in Schlesien verloren hat, beide früh und ausgezehrt verstorben, verlor Maria ihre Eltern erst danach – nach der Heimkehr des Vaters aus dem Krieg, der sich brutal an Frau und Tochter verging. Bis zu dem Tag, an dem die Mutter es nicht mehr aushielt und den Mann erschlug – und sich selbst die Pulsadern aufschnitt.

Das ist eine von den Geschichten, die Wyttmark einflechtet in die Lebensreise seiner Titelheldin. Eine von den vielen Geschichten, die so typisch sind für die Kriegs- und die Nachkriegsgeneration. Und Karl, dem Mann, den Marta sich auswählt für ihr Leben, ging es nicht anders. Noch in der langen Leidenszeit, in der er unter Alzheimer leidet, taucht das Gespenst seines gewalttätigen Vaters auf.

Die Fäden des Lebens verknüpfen

Im Aufeinander-mit-dem-Finger-Zeigen waren die Moralapostel in Ost wie West nach dem Krieg beide gut. Im Wundenverbinden und Traumata-Aufarbeiten aber nicht. Es sind die Enkel und Urenkel, die jetzt die Geschichten erzählen müssen. Und auch das, was daraus wurde. Mit einer gewissen Bewunderung. Man merkt schon, dass hinter Marta Gundlachs Geschichte auch ein tatsächlich erlebtes Schicksal steckt. Eines, das Millionen Frauen und Kinder erlebten.

Kinder, die wie Marta und ihre beiden Schwestern nach dem Ende des Krieges aus ihrer alten Heimat in Schlesien vertrieben wurden. Und dabei noch einmal Dinge erlebten, die einen Menschen fürs Leben zeichnen. Oder zerstören.

So, wie es Martas älterer Schwester Gertrud geschah, die sich nach Vergewaltigung und der Geburt des daraus entstandenen Kindes das Leben nahm. Erst nach der Deutschen Einheit wird Marta nach Wolfratshausen fahren und das Schicksal ihrer Schwester erkunden können. Und auch ihre taubstumme Schwester Gerda wird sie erst spät wiederfinden.

Erst dann verknüpft sie wieder die Fäden ihrer Lebensgeschichte. Dazwischen: Das Leben im Kinderheim, wo ihr Maria über die ersten schweren Tage hinweghilft und Halt gibt in einem von Drill dominierten Erziehungswesen, das Leben als billige Dienstmagd in einer Familie, aus der sie regelrecht flüchtet, als sich die Gelegenheit ergibt und sie Karl kennenlernt, den schmucken Burschen, den sie unbedingt haben will.

Die Reue der neuen Helden

Und Karl hat Beziehungen. Er ist überzeugtes Mitglied der Partei, kann Marta eine Arbeit besorgen und ein Studium, das sie eigentlich in hohe Ämter bringen kann in diesem Land, in dem Parteibuch und die „richtige Haltung“ Karrieren befördern. Wovon übrigens ein guter Teil der damals produzierten DDR-Literatur erzählt.

Ein papiergewordener Kanon, in dem die noch zweifelnden Helden am Ende alle „Einsicht in die Notwendigkeit“ zeigen und in den Schoß der gnädigen Partei zurückkehren. Oder irgendetwas anderes tun, was man damals so als heldenhafte Reue empfand. Ist ja nicht so, dass das moralische Priestertum nur der Kirche gehört.

Ein wenig klingt das an, wenn Wyttmark seine Heldin im Sessel nachsinnen lässt über die Konflikte, die sie selbst erlebte im Staatsdienst, aber auch mit ihrem Karl, dessen Rolle als Offizier der Staatssicherheit sie erst spät so richtig begreift. Eigentlich erst 1982 nach der Hinrichtung seines Genossen Werner Teske. Hat er da einen Freund verraten? Hat er sich schuldig gemacht? Hat er seinen Freund ans Messer geliefert?

„Was ist mit den gesellschaftlichen Manipulationen innerhalb von Diktaturen, wie die DDR eine war?“, fragt Wyttmark. Er lässt das ja auch seine Heldin Marta erleben, die in der Kreisleitung auch für Enteignung von Privateigentum zuständig war – und sich wohl schuldig macht. Noch so eine Szene, die hängenbleibt. Ihr fester Glauben an die „Richtigkeit der Sache“ bekommt tiefe Risse.

Und auch ihr Karl verliert nicht nur den Glauben, sondern verzweifelt regelrecht. Die Sache mit Teske hat seine Überzeugungen erschüttert. „Ein halbes Jahr später wurde Karl krank, Depression, die ihm aber half, aus dem Dienst auszuscheiden. Bis zum Schluss waren Karl und auch Marta keine Feinde des DDR-Systems.“

Wo beginnt die Schuld?

Sie haben ein Häuschen. Mit ihrem Sohn Thomas hat sich Marta auch den Kinderwunsch erfüllt. Doch etwas muss da schiefgelaufen sein. Denn die Besuche von Thomas sind selten geworden. Als wolle er Marta nicht mehr besuchen in ihrem Haus, in dem sie noch zehn Jahre lang die zunehmende Alzheimer-Erkrankung ihres Mannes ausgestanden hat. Bis zu dem Tag, an dem sie das Kissen nahm, um ihn von seinem Leiden zu erlösen.

Da stolpert man: Hätte das nicht ein Kriminalroman werden müssen? Steht da nicht die Frage der Schuld im Raum?

Wäre das nur so einfach. Man merkt schon, warum Wyttmark gegen den erhobenen Zeigefinger anschreibt, diese verlogene Attitüde der Immerreinen und Unbescholtenen. Dabei gibt es kein Leben ohne Schuld. Das weiß Marta nach alledem nur zu gut.

Und nicht nur bei Karl, auch bei ihrer Freundin Maria ist sie es, die vor die Entscheidung gestellt wird über das Abschalten oder Weiterlaufen lassen der lebenserhaltenden Systeme.

Am Ende ist es ein Busfahrer, dem sie ihre Geschichte erzählen kann. Noch so ein Einsamer, der seine Familie verloren hat. Und nun sitzen sie da und merken, wie sehr es Menschen braucht, die einfach nur zuhören. Und verstehen wollen. Oder mitfühlen.

Weil man nicht alles verstehen kann. Weil oft erst beim Erzählen klar wird, was für Stolperfallen, Ecken und Sackgassen so ein Leben hatte. Aber man hat es gelebt. Und die Menschen darin sind unersetzlich. Sie sind das, was man gelebt hat. Genau das zählt.

Was das Leben mit einem macht

Marta grübelt viel. Ihr Leben ist Erinnerung. Es gibt niemanden mehr, vor dem sie sich rechtfertigen muss. Nur eins steht für sie fest: Ins Pflegeheim geht sie nie. Diese Hilflosigkeit will sie nicht erleben. Es ist fast dieselbe Haltung, mit der sie die ersten Stunden im Kinderheim verbracht hat. Da lag schon genug Schlimmes hinter ihr.

Und wirklich ermutigend fing das auch nicht an. Da bleibt einem nur der Wille, sich nicht zerbrechen zu lassen und die Dinge durchzustehen. So fremd ist einem das auch Jahrzehnte später nicht. Auch wenn man die Eiseskälte in den Heimen der Nachkriegszeit so nie erlebt hat.

Was macht das mit den Menschen? Was hat es mit ihnen gemacht?

Im Sessel vor dem Fernseher endet eigentlich ein ganz und gar nicht spektakuläres Leben. Und trotzdem ist es eine vollgültige Lebensreise. Eine, wie sie viele erlebten. Gutgläubige, Überzeugte, Zweifelnde, Mitlaufende, Hadernde, Ruhelose und Selbstgerechte.

Die meisten darum bemüht, leidlich ehrliche und anständige Menschen zu sein und zu bleiben und ein vollgültiges Leben zu leben.

Kein „richtiges“, wie es die Moralapostel immer fordern, die selten selbst ein gutes Vorbild sind. Sondern eines, das sich irgendwie ganz normal anfühlt. Und meistens auch völlig unspektakulär war. Und dann lässt man sie doch mal erzählen, diese alten Frauen und Männer.

Und auf einmal merkt man, was sie alles erlebt haben. Unverschuldet oder gewollt, oft in dem Glauben, dass das sowieso allen passiert. Und dann lauscht man und merkt: Nein, so hat das nur Marta Gundlach erlebt auf ihrer scheinbar so unauffälligen Lebensreise.

Wyttmark John Die Reise der Marta Gundlach Sparkys Edition, Kirchheim/Teck 2022, 13,90 Euro.

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