Dass es bei der Mobilitätswende nicht nur um ein anderes Verkehrsverhalten geht, ist noch längst nicht in den Köpfen der meisten Menschen angekommen. Die Allgegenwart der motorisierten Verkehrsmittel versperrt nicht nur den Blick auf die Straße, sondern auch auf die Stadt. Denn das Auto hat die Lebensqualität in den Städten radikal verändert. Und das nicht zum Besseren.

Und nicht nur das. Es hat den Lebensrhythmus der Menschen verändert, hat Millionen zu Pendlern gemacht, hat ländliche Strukturen ausgehöhlt und öffentliche Verkehrsträger unrentabel gemacht. Und es ist so sehr zum unersetzlichen Alltagsvehikel für viele Menschen geworden, dass sie gar nicht mehr sehen, was durch die Verplanung der Stadt in einen autogerechten Verkehrsraum alles verloren gegangen ist – an Aufenthaltsqualität, Sicherheit, sozialen Qualitäten und so simplen Dingen wie Zeitgefühl, Wahrnehmung von Natur, Stille und Freizeit.

Eine mit Autos vollgestellte Stadt vermittelt kein Freizeit-Gefühl. Und bedient ein falsches Freiheitsverständnis, was so weit geht, dass auch Arbeit entgrenzt wird und die Erholung der Menschen zerbröseln lässt.

90 Jahre falsches Denken

Vielleicht sind Städte ganz ohne private Automobile noch undenkbar. Auch dieses sehr engagierte Buch geht diesen Schritt noch nicht. Denn die vergangenen Jahrzehnte haben ja gezeigt, wie tief die Vorstellungen von der autogerechten Stadt nicht nur im Bewusstsein der meisten Autobesitzer stecken, sondern auch in dem der Planer und Gesetzgeber.

In den Gesetzen sowieso. Spätestens, wenn Stadtverwaltungen beteuern, dass viele Dinge, die sich Fußgänger, Radfahrer und andere Teilnehmer der Mikromobilität wünschen, rein rechtlich nicht gehen, wird deutlich, wie sehr das Primat des Automobils seit 1933 auch in den Gesetzen verankert wurde.

1933, das Jahr steht in diesem Fall nicht für die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, sondern für die Charta von Athen, die eigentlich Grundlage legen sollte für modernes Bauen, für die „Auflösung des klassischen Urbanismus durch große Freiflächen und die funktionale Trennung von bebauten Quartieren nach Wohnungen (z. B. Großwohnsiedlungen in Trabantenstädten)“ (Wikipedia), also eine ganze Reihe der modernen Baukatastrophen, die sich zunehmend zu sozialen Brennpunkten entwickelt haben.

Und zwar genau deshalb: Weil Funktionen, die früher die kompakte urbane Stadt lebendig und attraktiv machten, nun getrennt wurden. Und weil die Funktionsbereiche so radikal voneinander separiert wurden, entstanden auch die heute üblichen riesigen Distanzen zwischen Wohnen, Einkaufen, Arbeit und Erholung. Logisch, dass Athen auch der Auftakt für die „autogerechte Stadt“ war.

Mit all ihren Zerstörungen, die bis hinein in die sozialen Beziehungen der Menschen reichen. Und daran haben auch die beiden Leipzig-Chartas von 2007 und 2020 nichts geändert – die in einem Beitrag dieses Buches dann auch entsprechend kritisiert werden. Denn sie beide sind viel zu vage formuliert, als dass sie wirklich eine Stadt der Zukunft begründen könnten, in der wieder Lebensqualitäten die Stadtplanung bestimmen und eine Rückgewinnung des Stadtraums für Menschen, die sich umweltgerecht und wohnortnah bewegen. Damit auch klimagerecht und energiesparend. Und damit auch freier als heute.

Autofahren ist keine Freiheit

Denn so vielen Menschen hinter dem Steuer ist überhaupt nicht bewusst, wie sehr die „Freiheit“ des Autofahrens tatsächlich erzwungene Mobilität ist. Asoziale Mobilität sowieso. Und natürlich stimmt es für die Meisten: Unter den gegenwärtigen Bedingungen können sie meist gar nicht anders, als ihre Mobilitätsprobleme mit dem Auto zu lösen, weil sämtliche Funktionalitäten des Lebens separiert sind und weit auseinandergezerrt und viele Orte ohne Auto nur schlecht erreichbar sind. Und weil die Verkehrsstrukturen für Mikromobilität entweder gar nicht existieren oder jahrzehntelang nur stiefmütterlich ausgebaut wurden.

Aber die Dinge ändern sich. Und vor allem bei jüngeren Menschen verändern sich auch Verhaltensweisen. Egal, ob aus klimapolitischen Einsichten oder einfach, weil sie die Welt der Mikromobilität als Bereicherung für ihr Leben entdeckt haben. An den Herstellern von Mobilitätsangeboten für Mikromobilität liegt es jedenfalls nicht, dass die Veränderung so schwerfällt.

Während die Absatzzahlen der großen Automobilhersteller in den vergangenen Jahren gesunken sind, sind die von Fahrradproduzenten kontinuierlich gestiegen. Und nicht nur die Zahlen verkaufter Fahrräder nahmen zu, sondern auch die Vielfalt der Angebote. Ein Beitrag beschäftigt sich allein mit der zunehmenden Diversifizierung von Fahrrädern – vom simplen Stadtrad bis zum Mountainbike.

Andere Beiträge widmen sich der zunehmenden Elektrifizierung. Denn den Großteil des Verkaufsbooms in den letzten Jahren machten E-Bikes aus, die den Bewegungsradius gerade älterer Radfahrer deutlich erweitern und auch Strecken attraktiv machen, die sonst eher für Pkw und ÖPNV Sinn machten. Was dann den Blick auf die Radschnellwege lenkt, die in Deutschland mit einem Schneckentempo geplant werden, dass man sich fragt: Ist das Absicht? Zeigen hier hochbezahlte Planer, wie egal ihnen der Radverkehr immer noch ist?

Autodenken produziert verstopfte Städte

Was längst Engpässe auch in der Stadt zur Folge hat. Denn während eine von fossilem Denken geprägte Wirtschaftselite mit lauten Tönen um jeden Meter Straßenraum kämpft, prägen längst Lastenräder das Bild der Großstädte – viele davon längst im wirtschaftlichen Einsatz auf „der letzten Meile“. Und das betrifft nicht nur Start-ups, sondern auch große Lieferanten wie Post und UPS. Denn Lastenräder haben viele Nachteile nicht, die sperrige Transporter immer öfter haben in zugeparkten Straßen, auf denen es keine regulären Haltemöglichkeiten mehr für Lieferdienste gibt.

Mikromobilität spart nicht nur enormen Raum auf den Straßen der Städte, sie senkt auch die Transportkosten massiv und ist – wenn sie gar mit E-Motor unterstützt ist – auch in entsprechenden Tests schneller.

Die Frage steht tatsächlich, warum sich die Verkehrsplaner dann so schwertun, gerade die Radwege auszubauen und leistungsfähig zu machen. Dabei zeigt selbst der Blick nach Dänemark und in die Niederlande, dass es Jahrzehnte dauert, bis dieses Verkehrssystem für den Radverkehr wirklich so gut ausgebaut ist, dass es den Motorisierten Individualverkehr (MIV) auf den zweiten Rang verdrängt.

Denn wenn die sicheren Radwege und -straßen existieren, steigen immer mehr Menschen ganz selbstverständlich aufs Rad um – gerade dann, wenn die Strecken überschaubar sind und auch sichere Abstellplätze am Ankunftsort existieren. Wie sich das Leben mit dem Rad verändert, schildern mehrere Autoren in diesem Buch, darunter so mancher Planer, Forscher und Soziologe.

Denn Mikromobilität schafft sogar mehr Mobilität –  wer Rad fährt, bewegt sich und verbringt sein Leben nicht als unbewegliche Masse hinterm Steuer. Logisch, dass auch das traurige Leben der heutigen Kinder ins Bild rückt, von denen ein Großteil mit dem Elterntaxi Jahr um Jahr zur Schule gefahren wird.

Wenn das Autodenken den Raum verzerrt

So nebenbei kommt auch hier die verfehlte Planung in Land und Stadt ins Spiel, denn dass Schulen auf einmal nur noch mit Bus und Auto erreichbar sind, ist ja das Ergebnis deutscher Spar-Politik, die ganze Regionen von einst fußläufig erreichbaren Infrastrukturen entblößt hat. Wer heute auf dem Land wohnt, kommt ohne Pkw kaum noch irgendwohin.

Und dabei war es einmal das Fahrrad, das in den Städten überhaupt erst einmal individuelle Mobilität für größere Kreise ermöglicht hat. Das Fahrrad ermöglichte auch in Zeiten der DDR vielen Menschen Beweglichkeit, auch wenn sie kein Auto besaßen. Und mit Täve Schur wird in diesem Buch auch ein Sportidol gefeiert, das für viele junge Menschen Ansporn war, selbst in die Pedalen zu treten.

Natürlich wird auch die Rolle der E-Scooter diskutiert, die eigentlich nirgendwo wirklich in die Verkehrsstrukturen passen. Für Radwege sind sie in der Regel zu schnell und dürften sie eigentlich auch nicht benutzen. Und „die letzte Meile“ decken sie auch nicht ab, wie so gern behauptet wurde, anders als Fahrräder.

Da stellen sich natürlich einige Autoren die Frage, wer dann aber nun die Mikromobilität voranbringen kann oder sollte. Dass es sogar Firmen in der Hand haben, wird dann schnell deutlich. Denn sie müssen ja keine Dienstwagen bereitstellen, wenn ihre Mitarbeiter auch mit dem Jobrad zur Arbeit kommen können.

Im Freizeitbereich ist das Fahrrad schon lange die Nr. 1. Auch mit unerwarteten Folgen, wenn man an den Druck der Mountainbiker auf Naturschutzgebiete und klassische Wanderwege denkt. Aber das ist natürlich auch so, weil viele Großstädter ihren Bewegungsdrang eben nicht auf dem Arbeitsweg austoben, wo sie dann eher fluchend im Stau stehen, sondern im Aktiv-Urlaub, wo es dann auch schon mal mit E-Mountainbike auf die Berge geht.

Auch keine gute Entwicklung. Denn natürlich macht Mikromobilität keinen Sinn, wenn sie noch mehr Belastung für eine eh schon gestörte Natur mit sich bringt.

Das Fahrzeug für das moderne Leben

Aber mehrere Autorinnen und Autoren sprechen natürlich an, dass es beim Umsteigen aufs Rad vor allem um die Einstellung geht. Selbst im klassischen Fahrradland China, das in den letzten 30 Jahren nach dem falschen Vorbild des Westens die Automobilität forciert und riesige Autobahnen durchs Land gebaut hat. Mit dem zu erwartenden Effekt: Stau wie im Westen.

Was immer mehr Chinesen längst dazu bringt, sich moderne E-Bikes anzuschaffen und am Stau vorbei zur Arbeit zu fahren. Auf einmal ist das Rad wieder „Inbegriff eines modernen Lebens“. Ein Image, das es bei vielen täglichen Radfahrern längst hat, die ihr hochwertiges Bike längst auch als Statussymbol betrachten. Sich aber längst auch in Spezialgeschäften die wettergerechte Kleidung kaufen, die das Radfahren auch bei nicht so schönem Wetter angenehm macht.

Aber spätestens beim Thema Citylogistik wird klar, dass sich die Straßen der Städte grundsätzlich ändern müssen, dass es besser ausgebaute Strukturen für die Mikromobilität braucht. Und ein Bild von einer Stadt, aus der die riesigen Mengen parkender, sich stauender, drängelnder Automobile verschwinden.

Städte, in denen es sicherer wird, leiser und trotzdem aktiver. In denen Straßen nicht mehr als Stellplatz für fossile Transportmaschinen gelten, sondern Aufenthaltsqualitäten zurückgewinnen – und damit auch soziale Qualitäten, die die autogerechte Stadt eben nicht hat und nicht haben kann.

Auch das Gehirn liebt Bewegung

Dass auch noch die Themen einer Reparatur-Kultur und eines echten Recycling-Lebens der Fahrräder angesprochen werden, gehört natürlich auch zum Thema. Denn auch die idiotisch kurzen Lebenszyklen von Automobilen gehören zum Themenbereich Umweltzerstörung.

Dass das Thema Gesundheit auch im Mobilitätsdenken längst angekommen ist, machen dann auch die am Ende des Buches versammelten 10 Thesen zur Zukunft der Mikromobilität deutlich. Denn wer sich täglich auf dem Rad bewegt, spart sich viele teure Stunden im Fitnesscenter und so manchen drängenden Hinweis seines Arztes.

Das Auto hat eben nicht nur den Körper des Fahrers bequem gemacht (mit neckischen Folgen wie Übergewicht und schmerzenden Rücken), es hat auch das Denken gelähmt. Jeder Sportarzt wird es seinen Klienten erzählen, wie dankbar das menschliche Gehirn für Bewegung und gute Durchblutung ist.

Man kann – wenn die Radwege sicher sind – sogar Gedanken schweifen lassen. Und merkt dann auch, dass Radfahren etwas fürs Gehirn ist – und damit auch die „wissensbasierte Mobilitätskultur“ befeuert. Da wird dann leichter vorstellbar, wie aus „Straßen für Autos weiche Mobilitätsräume“ werden. Und wieviel Raum es in den Städten zu gewinnen gilt, wenn man auf tausende Parkplätze verzichten kann.

Und all das ist eben keine Utopie mehr, sondern existiert längst in Ansätzen, wird in Verkaufszahlen sichtbar und in Diskussionen, die gerade in der Corona-Zeit aufflammten, die nun einmal eine seltene Gelegenheit war, Land zu gewinnen auf einem Gebiet, auf dem autoverliebte Politiker seit Jahrzehnten immer nur gebremst haben. Das wurde nicht immer genutzt.

Noch steckt das Autodenken fest in den Köpfen vieler Entscheider, die sich eine Stadt ohne Autos einfach nicht vorstellen können oder wollen. Natürlich ist es der Abschied von einem Bild, das seit 90 Jahren die Köpfe von Planern, Entwicklern und Autobauern besetzt. Aber auch die persönlichen Schilderungen im Buch machen deutlich, dass eine Welt ohne die ausgeuferte Automobilität von heute sehr wohl denkbar ist. Machbar sowieso.

Alexandra Hildebrandt, Claudia Silber (Hrsg.) „Zukunft Mikromobilität. Wir wir nachhaltig in die Gänge kommen: Ein Rad-Geber“, Büchner Verlag, Marburg 2022, 36 Euro.

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Danke für die Rezension. Ich lese diese mit Interesse und gutem Willen. Aber ich bedaure schreiben zu müssen, daß es mich vor lauter Moral und Zeigefinger schüttelt. Und wie so oft, ich teile auch Meinungen zu Aspekten. Konkret fällt mir ein, wie absurd nach dem Neubau der Plagwitzer Brücke nun das Einbiegen in die Nonnenstraße geraten ist: Als Radfahrer ist man – im Grunde wegen des neuen Radweges – ziemlich veralbert. Und ich bleibe durchaus interessiert daran, in das Buch zu gucken. Aber ich kann mir im Traum nicht vorstellen, daß ich vor lauter Erlösungsphantasien, die darin vermutlich dargelegt werden, und spätestens beim in den Vordergrund vorrückenden Fitness-Gedanken, wirklich daran Freude hätte, die Sichtweisen der Autoren und der Herausgeberinnen kennenzulernen.

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