Was passiert eigentlich mit einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder nur noch als funktionierende Teile einer auf Effizienz getrimmten Wirtschaft betrachtet? Kann es sein, dass sie seelisch völlig entleert wird, keine Träume und Visionen mehr hat? Und dass das auch auf die Literatur zurückschlägt? Denn wenn das Leben auf Erden keine Aussichten mehr bietet, zur gelingenden Geschichte zu werden, dann passiert doch genau das, was Lu und Sedna in diesem Roman passiert.

Oder vielmehr nicht passiert. Denn mit Vor- und Rückblenden und immer neuen Perspektivwechseln erzählt die 1992 geborene Liis Kasepha ja letztlich vom Verschwinden Lus. Und der Leere, die sie hinterlässt.

„Eines Tages ist Lu dann wirklich verschwunden und niemand weiß, warum. Die meisten finden es okay. Nur Sedna kann sie nicht vergessen. Fünf Jahre lang war sie Lus Verbündete, Geliebte und Gegnerin. Ihre Freundin lebte von Büchern, mythologischen Gestalten, Träumen und vom Vergessen. In ihrer ganz eigenen Sphäre aus Sinnlosigkeit und Verlogenheit verlor es sich leicht. Wann wird subjektive Wahrnehmung zur Wahrheit? Und was ist eigentlich real? Es gibt einen Zustand, in dem Realität und Fiktion eins werden“, fasst der Verlag aus seiner Sicht das zusammen, was im Buch passiert. Und gibt gleich noch das Fazit mit: „Ein Paartanz aus Einbildungskraft und realer Begebenheit, der dazu verführt, in der Unterwasserwelt der Unterschiedslosigkeit den eigenen Realitätssinn fallenzulassen.“

Aber das ist es nicht wirklich.

Es geht im Buch nicht um Unterschiedslosigkeit. Auch wenn Lu ihre ganz offensichtlichen Schwierigkeiten hat, Nähe zuzulassen. Sich überhaupt einzulassen auf andere Menschen. Warum, das erfahren wir nicht. Auch nicht durch die Rückblenden, die Lu auch schon als Einzelgängerin zeigen in jenem Hippie-Dorf in der Karibik, in das die Mutter nach der Trennung von Lus Vater mit Lu und und ihrer Schwester Samira gezogen war. Vielleicht klingt hier etwas an, was der Verlag in der Kurzbiografie der Autorin so beschreibt: Liis Kasepha „wuchs in streng religiösen, patriarchalen Strukturen und unter den Bedingungen relativer Armut auf.“ Irgendwo in Brandenburg zwar und nicht in der Karibik.

Wenn allein Geld bestimmt, was möglich ist

Aber welche Perspektiven entstehen eigentlich im Leben, wenn schon von vornherein die Grenzen gesetzt sind und sichtlich die Netze beschädigt sind, die normalerweise junge Menschen in ihr Leben tragen. Ein Schicksal, das ja immer mehr junge Menschen erleben . Gerade in jenen Bereichen unserer Gesellschaft, die wir als prekär verstehen. Wo man sich eben nicht alles kaufen kann und die Varianten der Freiheit arg reduziert sind. Gerade für Menschen wie Lu, die nicht wirklich richtig wissen, wohin sie eigentlich einmal wollen in ihrem Leben.

Die sich aber auch nicht festlegen lassen wollen. Weshalb sie in dem kleinen Stück Freiheit landet, das es vor einigen Jahren in einigen ostdeutschen Städten noch gab – verlassene Wohnquartiere und Industriebrachen, Orte, die von jungen Menschen als preiswerte und selbstgestaltete Wohnorte für sich entdeckt wurden.

Auch in Leipzig gab es das ja einmal. Es machte dereinst für ein paar Jahre den Ruf der „Leipziger Freiheit“ aus. Bis die alten Industriebauten in Lofts umgebaut wurden und die verwahrlosten Straßenzüge saniert – mit der Folge, dass die Pioniere, die hier erst ein kreatives Milieu geschaffen hatten, ausziehen mussten, weil sie sich die neuen Mieten nicht mehr leisten konnten. Ihnen folgen die Hipster, die oft immer noch glauben, sie leben im selben wilden Milieu, wenn sie abends in den Freisitzen abhängen und Lärm veranstalten. Tun sie aber nicht.

Und sie merken auch gar nicht, wie sie Menschen wie Lu und Sedna eigentlich erst heimatlos gemacht haben. Nicht nur, weil deren Wohnungen in den alten, abgewohnten Häusern verloren gingen, so wie erst Lus erste Wohnung verloren ging und dann auch die von Sedna. Wobei Sedna noch genügend vernetzt ist, um Hilfe zu finden und Umzüge zu organisieren. Aber ein unausgesprochener Streit zwischen den beiden entspinnt sich auch um die Frage, wie sehr Sedna eigentlich ihre Unabhängigkeit verkauft hat, wenn sie Tag für Tag zur Arbeit geht, während Lu sich treiben lässt?

Leben auf Distanz

In Manchem erinnert diese Lu an die Heldin aus Judith Kleibs Roman „Königinnenreich“. In Manchem kommt einem auch Marlen Hobracks Buch „Klassenbeste“ in den Sinn. Denn es ist dieselbe gesellschaftliche Ebene, auf der diese drei Bücher handeln – ganz unten, wo für die Verwirklichung von Lebensträumen eigentlich kein Geld vorhanden ist und junge Frauen zwangsläufig vor der Wahl stehen, sich zu verdingen – und sei es als nächtliche Putzfrau in einem Autohaus – oder letztlich zum Spielball eine Gesellschaft zu werden, der das Scheitern und Verschwinden von jungen Menschen herzlich egal ist.

Aber wie reagieren sie darauf? Wie gehen sie damit um, wenn alle Botschaften lauten: Wenn ihr kein Geld habt, seid ihr uns egal?

Genau das scheint Lu ja verinnerlicht zu haben. „Lu, die war ganz sicher nicht verliebt gewesen“, reflektiert Luft, ihr Freund, der scheinbar die ganze Zeit mit dem Zirkus unterwegs ist, das Ende der Beziehung zu Lu, in die er heftig verliebt gewesen sein muss. „Sie war nicht von der Art, die es braucht, um sich zu verlieben. Ganz sicher war sie gar keiner liebevollen Gefühle fähig …“

Und so ähnlich schaut auch Sedna, die eigentlich Maria heißt, zurück auf diese Liebeskiste mit Lu, die ganz offensichtlich zu einer echten Bindung nicht fähig ist. Was sie auch weiß. Es ist eine erstaunlich abgeklärte Vertrautheit, mit der Lu davon erzählt, wie sie die Menschen um sich herum verletzt, auf Distanz hält, in sich selbst verkapselt, als gäbe es gar keinen Anlass, sich für andere Menschen zu öffnen und damit verletzlich zu werden.

Nichts soll sie binden. Und so ist ihr Verschwinden nicht das erste, das insbesondere Luft verstört, der ihr auch noch versprechen musste, sie zu suchen, wenn sie verschwinden sollte. Aber wo soll er sie suchen? Es ist ein Versprechen, das er nicht einlösen kann. Und das ihn letztlich zwingt, wieder über dieses seltsame Verhältnis zu Lu nachzugrübeln, obwohl sie ihn längst vergessen hat.

Kein Raum für Nähe

Denn das, was Luft denkt, dass ein Versprechen immer beide binden sollte, ist nicht Lus Welt. Sie sitzt längst wieder in einem Zug, aus dem sie unterwegs aussteigt, um eine neue, wildfremde Stadt zu betreten. Nur mit ihrem Rucksack und den paar Klamotten darin. Und einem Gedichtband von Wolf Wondratschek, den sie längst auswendig kann. Das letzte all der Bücher, die sie einmal verschlungen hat und die alle wieder aus ihrem Leben verschwunden sind. So wie die vielen Hefte, die sie mit ihren Notizen vollgeschrieben hat. Wo sind die eigentlich abgeblieben?

Und was stand darin? Das erfahren wir auch von Sedna nicht, die in Lus Leben eingedrungen ist, ahnend, dass Lu das tatsächlich als Eindringen empfunden hat. Obwohl an dem Tag, da ihr die Wohnung gekündigt wurde, Sedna die einzige war, die sie anrufen konnte.

Eigentlich geht es nicht um die Vermischung von „Realität und Fiktion“. Nicht wirklich in diesem Sinn. Eher um die Realitäten, die entstehen, wenn wir es mit anderen Menschen zu tun bekommen haben. Und zwar erst recht solchen, die nicht von sich reden, die sich verschließen und keinen Einblick geben wollen in ihre Gefühle, Wünsche, Vorstellungen. Und auch nicht wirklich zulassen möchten, dass sich andere Menschen in sie verlieben. Sogar dann, wenn die geliebte Person sich bewusst abweisend und kurz angebunden gibt, unberechenbar wie Lu, die nicht nur Luft einmal zu einer heftigen Attacke bringt, weil der es natürlich nicht aushält, dass ihn Lu immer wider derart kalt abserviert.

Kein Wunder, dass Lu auch diese Zeilen von Wondratschek auswendig kennt: „Für eine große Liebe/ braucht es zwei Einzelgänger/und ein Gebet.“

Niemand ist in diesem Buch mehr Einzelgänger als Lu. Und nichts scheint ihr am Ende so wichtig zu sein wie die völlige Ungebundenheit. Sodass sie ohne jegliche Nachricht fortgeht und gerade Luft zurücklässt, mit der unlösbaren Aufgabe, sie zu suchen. Stück für Stück rekapitulieren Sedna und Luft die Zeit mit Lu, wissend, dass diese junge Frau, die sie beide geliebt haben, sie nie wirklich an sich herangelassen hat. Und da man als Leser auch die Perspektive von Lu einnehmen kann, erfährt man auch ihre geradezu nüchterne Sicht auf das Leben und die Dinge, die ihr geschehen. Als wäre ihr letztlich gleichgültig, was ihr geschieht.

Züge, die nie ankommen

„Ich verliebe mich in die Vorstellung von einem Zug, der nie ankommt. Sobald ich wieder wach bin, werde ich mich in einen solchen Zug setzen.“ Dabei muss sich Lu gar nicht erst in so eine Vorstellung verlieben, denn so lebt sie. Gut möglich, dass das sogar das Lebensgefühl vieler junger Menschen ist, die ratlos auf ein Leben blicken, in dem nichts wirklich Textur hat und Sinn ergibt. Schon gar nicht Nähe zu Menschen. Was natürlich eine Menge verrät über Lu und ihr Verlorensein in der Welt. Wenn Sedna sie besitzergreifend umarmen will, macht sie sich steif.

Man ahnt, wie frustrierend das ist und warum Sedna am Ende wütend ist – auf Lu genauso wie auf Luft, der sich – so empfindet es Sedna – viel zu sehr in Lus Leben eingemischt hat. Denn wenn Menschen derart grußlos verschwinden, bleibt eine Leere zurück, das nicht beantwortbare Rätsel, was da eigentlich so schiefgegangen ist. Eine Abweisung, die am Ende keine Antwort findet. Die aber doch erstaunlich an das Grundgefühl in einer Gesellschaft erinnert, in der immer mehr junge Menschen derart unberührt und fremd durch die Welt laufen. Als gäbe es nichts mehr, was wirklich wichtig und erstrebenswert ist. Als wäre alles gleichgültig und unwichtig, jeder Ort beliebig. Und damit auch die Menschen, die da wohnen.

Eine Beliebigkeit, die man überall haben kann. Während die Zerstörung der Welt mit der Gefühllosigkeit des Geldes einfach weiter geht. Denn während Sedna versucht, die Erinnerungen an Lu zusammenzusammeln, verglüht sie auf ihrem Balkon.

Zu viel hinein interpretiert? Wahrscheinlich nicht. Eher erzählt genau diese Geschichte davon, wie die völlige Gefühllosigkeit der Besitzenden, Reichen und Leeren dafür sorgt, eine Welt zu erschaffen, in der junge Menschen sich immer verlorener fühlen. Rastlos und wie ausgespuckt. Völlig egal, was sie machen. Und wirkliche Gefühle nur Belastung sind. Die Gefahr, dass man sich falsch festlegen könnte. Und sich dann doch verloren geht. Und zwar viel gründlicher als Lu, die irgendwo in einer wildfremden Stadt aussteigt aus dem Zug, der sowieso einen unverhofften Aufenthalt hat. Ist auch egal. Jeder Ort ist beliebig. Jede Nacht kann sie verschlucken. Wahrscheinlich hat sie auch nie mehr gewollt, als gründlich verloren zu gehen.

Liis Kasepha „Zwischen uns das Wasser“, Thelem Universitätsverlag, Dresden und München 2022, 19,80 Euro..

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