Ist das eigentlich ein Roman? Oder schon eine ganz andere Kunstform? Der Verlag nennt es eine „tragikomische Familiengeschichte“. Und übertreibt wieder mal. Denn was Kathrin Bach hier zu einer Biografie in lauter lakonischen Notizen versammelt, ist nicht tragischer und auch nicht komischer als das, was die meisten Leute mit ihren Familien erleben. Nur lässt man das für gewöhnlich nicht so sehr an sich heran. Und schließt lieber Versicherungen ab, um sich gegen alle Vorfälle und Unfälle des Lebens zu versichern. Wer Versicherungsagenten als Eltern hat, der muss es wissen: Es klappt einfach nicht.
Aber natürlich bekommt man so einen völlig anderen Blick auf die Ängste der Mitmenschen. In diesem Fall in einem Dorf ganz in der Nähe der einstigen deutsch-deutschen Grenze. Der nächste Supermarkt ist auf der anderen Seite. Man kommt nur mit dem Auto hin. So wie man an die meisten Orte, die einen mit der Welt verbinden, nur mit dem Auto kommt.
Was auch einer der Gründe dafür ist, dass die Erzählerin unter einer lebenslangen Angst leidet. Denn als kleines Kind hat sie einen dieser Unfälle miterlebt, die auf ländlichen Landstraßen so schnell passieren, weil jemand schnell mal überholen will oder einfach nicht sieht, wer da entgegenkommt. Das Kind und seine Mutter kommen glimpflich davon. Die Fahrerin des anderen Autos aber ist tot.
Und es ist nicht der einzige verstörende Tod, den die Erzählerin schon als Kind erlebt. Nicht nur im eigenen Familienkreis. Denn auf dem Dorf bleibt nichts verborgen. Wenn das Totenglöckchen bimmelt, geht die Nachricht fix um im Dorf. Und bald wissen alle, was es war – ein Infarkt, ein Unfall, der Krebs oder eine von denen vielen selbstgewählten Todesarten, die sich irgendwie häufen. Als wären die Menschen hier ihres Lebens überdrüssig. Als gäbe es einfach nichts, was sie hier hielte.
Es kann immer was passieren
Wenn man jung ist, geht man weg, so wie die Autorin. Die ihre Ängste trotzdem nicht los wird. Denn es sind auch die Ängste ihrer Eltern und Großeltern. „Ich habe meine Angst. Ich habe die Angst meiner Mutter und die meines Vaters. Ich habe die Angst von Oma F und Opa F. Ich habe die Angst von Oma G und Opa G.
Weil ich weiß, dass immer was passieren kann.
Weil ich weiß, dass jeder jederzeit gehen kann.
Weil ich weiß, dass jedes Auto zercrashen kann.
Jedes Haus abbrennen und jede Aorta reißen.“
Das sind Ängste, die alle kennen. Und deswegen sind Versicherungen so beliebt. Einige dieser euphorischen Werbungen für den Nutzen aller möglichen Versicherungen hat Kathrin Bach mit ins Buch aufgenommen. Jede klingt logisch. Wer nicht doof ist, zahlt einfach seine Raten und kann dann, wenn was passiert, mit finanzieller Unterstützung rechnen. Nur gegen eins kann man sich eben nirgendwo versichern: Dass was passiert.
Und das Versicherungsbüro der Eltern im Dorf ist dafür wie die Wissenszentrale. Denn wer mit den Leuten Verträge macht, muss alle Risiken kennen. Schaut also gewissermaßen direkt hinein in die Häuser, die Familien, die Finanzlage der Leute und ihre gesundheitlichen Risiken. Und entwickelt dann einen sehr nüchternen Blick auf die Welt und das Dorf, kennt die Versicherungssummen für die Häuser in der Neubausiedlung, die Autos, die Leben.
Leben, die aus lauter scheinbar völlig glanzlosen Versatzstücken bestehen. Und genau die schildert Kathrin Bach in lauter lakonischen Notizen. Scheinbar entsteht daraus keine Geschichte. Aber trotzdem ist genau das unsere Geschichte: die Zimmer, in denen wir gelebt haben, die Abendessen mit den Eltern, die erste Party mit den Dorfjugendlichen (die auch die letzte ist), der Beutel ganz unten im Reisegepäck, die rote Schüssel unterm Bett, die Krankheit des Vaters, die Äpfel im Handschuhfach. Ein ganz normales Leben.
Nur nicht darüber reden
Und zwischendrin immer wieder: die Ängste. Die Ängste der Mutter. Die Ängste des Vaters. Die Ängste der Erzählerin, die sich später, als sie schon nicht mehr im Dorf lebt, psychologische Hilfe sucht. Um über ihre Ängste und ihren immer wiederkehrenden Angst-Traum zu reden, der von einem Krankenhaus erzählt, von flackerndem Blaulicht und dem Wort „Notaufnahme“.
Und gleichzeitig erzählt sie von diesem kurz angebundene Dorf mit seinen knappen Gesten, mit denen sich die Dorfbewohner begrüßen. Diesen Nicht-Dialogen, wenn man sich auf der Straße trifft: „Na, ihr Urlauber?“ – „Na.“ Dialoge, die es so ähnlich auch in der kleinen Familie gibt. Wer irgendwo in der Gegend aufgewachsen ist, wird das wiedererkennen.
Wer da gelebt hat, weiß, dass die alte Grenze dabei keine Rolle spielt. Man ist hüben wie drüben so. Kurz angebunden. Möglichst nichts merken lassen. Die Dramen spielen sich alle daheim ab, hinter verschlossenen Türen. Draußen tut man dann so, als hätte man sein Leben im Griff. Da zeigt man, dass einem das alles nichts anhaben kann. Zumindest, bis der Arzt oder der Krankenwagen kommt.
Wer hat schon Angst? Hier hat man keine Angst.
Vielleicht, weil man – wenn man es zugäbe – über Zukunft reden müsste. Über all das, was man erwartet. Und was nicht kommt, weil irgendwas anderes passiert. Meistens etwas, womit man nicht rechnen wollte. Deshalb hat man ja Versicherungen. Solange die laufen, ist alles irgendwie geregelt.
Nur dass etwas passiert, können sie nicht verhindern.
Es geht nitt der Reih nach
Omas wissen so etwas. Oma F bekommt zum Beispiel ein ganzes Merkblatt mit einer einzigen Lebensweisheit: „Es geht nitt der Reih nach.“
Sie weiß, dass nicht alle ein glückliches Alter erleben. Auch die scheinbar Stärksten können vorher schon im Krankenhaus landen. Viel früher, als sie nach den üblichen Statistiken dran gewesen wären. Also gibt es auch eine Liste mit Beerdigungen, die die Erzählerin besucht hat: Die letzte besonders frustrierend, weil die Corona-Zeit keine Versammlung auf dem Friedhof zulässt.
Auch so etwas passiert. Und so ist Kathrin Bachs Sammlung lauter simpler Lebensnachrichten letztlich doch ein Roman, erzählt sich das, was passiert, als ein erlebtes und des Notierens wertes Leben. Letztlich eine verschriftliche Versicherung des eigenen Lebens mit seinen kleinen, so ganz normalen Dramen. Und seinen Ängsten. Und manchmal Erinnerungen, die sich dann in der Wohnung der Erzählerin sammeln.
Bilder, Notizen. Aber genau das versichert uns, dass wir tatsächlich gelebt haben. Das ist unser Leben. „Und ich habe diesen Text. – Weil ich weiß, dass alles stirbt, wir vorher aber auch ein bisschen leben.“
So klingt Trost. Wenn wir ihn ernst nehmen und ihn nicht maulfaul wegdrücken und so tun, als wäre alle gut. Weil immer was passieren kann. Auch im anderen Leben, das wir anderswo führen. Dorfkinder wissen das, gerade die, die weggegangen sind. „Immer, wenn ich meinen Eltern Tschüss sage, habe ich Angst, dass ich ihnen gerade zum letzten Mal Tschüss sage. Dass das der Moment ist, an den ich mich später erinnern werde, wenn ich darüber nachdenke, wann ich meine Mutter, wann ich meinen Vater zum letzten Mal gesehen habe.“
Es gibt keine Sicherheit
Noch so eine Geschichte, die sonst eher flapsig erzählt wird von ehemaligen Dorfkindern. Da geht man weg und keiner weiß, wie man das richtig erzählen soll. Weil man weggehen musste und doch gern dageblieben wäre. Oder diese Abschiede immer im Kopf hat. Denn: Es kann immer was passieren.
Eine Berufsunfähigkeitsversicherung hat die Erzählerin auch. Auch wenn diese irgendwie nicht viel Sinn ergibt für jemanden, der vom Schreiben lebt. Die Berufsbezeichnung kann man anpassen. Die Summe aber soll bleiben, sagt sie ihren besorgten Eltern. „Ich wisse, dass es keine Sicherheit gebe. Und ein Leben, in dem ich nicht mehr schreiben und lesen könne, wolle ich mir nicht vorstellen.“
Und vielleicht muss man Leben genau so erzählen. Als etwas Zerbrechliches, das man nicht versichern kann, so sehr man das auch möchte. Es kann immer was passieren. Deshalb erzählen wir uns Lebensgeschichten. Und machen Listen mit den Dingen, die uns zugestoßen sind.
Und wenn man dann noch Versicherungsagenten als Eltern hat, weiß man erst recht, dass man sich gegen das, was passiert, nicht versichern kann. Manchmal teilt man dann die Ängste, auch wenn man nicht darüber spricht: „Seitdem ich Auto fahren kann, schreibt mir meine Mutter vor längeren Fahrten: Fahr vorsichtig!!!“
Hinter der Lakonie verbirgt sich das Gefühl, dass genau das unser Leben ist. Voller Tragik und auch viel Komik. Und der immer leise mitlaufenden Angst, dass was passieren könnte.
Kathrin Bach „Lebensversicherung“, Edition Azur bei Voland & Quist, Berlin 2025, 24 Euro.
Empfohlen auf LZ
So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:




















Keine Kommentare bisher