In Fernsehreportagen wird zuweilen behauptet, Paul Gerhardt (1607–1676) wäre heute kaum noch bekannt. Was natürlich Quatsch ist. In Lübben und Mittenwalde, wo er Pfarrer war, steht ein Denkmal von ihm vor der Kirche. In seinem Geburtsort Gräfenhainichen gibt es eine Paul-Gerhardt-Kapelle. An der Nikolaikirche in Berlin hängt eine Gedenktafel. Und seine Lieder werden bis heute gesungen. Auch vom Thomanerchor. Lieder, die auch Fabian Vogt anklingen lässt in seinem kleinen Paul-Gerhardt-Roman.

Der ein kleiner Roman bleibt. Denn wirklich viel weiß man nicht über den 1607 geborenen Theologen, Pfarrer und Liederdichter. Die üblichen biografischen Daten, die für einen Wikipedia-Artikel reichen. Aber wie dachte er? Wie fühlte er? Wie wurde er zu dem Mann, der solche zutiefst gläubigen Lieder in Luthers Tradition schreiben konnte?

Denn das war auch im 17. Jahrhundert ganz und gar nicht gewöhnlich. Dass sich die deutsche Sprache zur Benutzung selbst in Gedichten und Liedern bestens eignete, musste erst ein Dichter wie Martin Opitz den Deutschen nahebringen. Maßstabgebend war dafür sein 1624 erschienenes „Buch von der deutschen Poeterey“. Da war Paul Gerhardt gerade 17 Jahre alt und lernte an der Grimmaer Fürstenschule St. Afra.

Die Stationen seines Lebens sind durchaus noch festzumachen. Und an ihnen entlang erzählt dann auch Fabian Vogt seine Lebensgeschichte, eingerahmt von einer Szene im Himmel oder bei Abschied vom irdischen Leben oder wie immer man es interpretieren will, wenn Paul Gerhardt zurückschaut auf sein Dasein hinieden.

Ein hartes Leben nach unseren heutigen Maßstäben. Seine Eltern verlor er schon früh. Genauso wie seinen Bruder, von dem ihn Vogt im Grimma-Kapitel Abschied nehmen lässt. Er erlebte die Kriegshändel, die Zerstörung seines Geburtsorts Gräfenhainichen, die Pest, die die Hälfte der Wittenberger Bevölkerung dahinraffte, als Paul Gerhardt an der Universität dort Theologie studierte.

Ein Dichter im Dreißigjährigen Krieg

Paul Gerhardts wichtigste Jahre fielen in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Erst spät konnte er seine erste Pfarrstelle in Mittenwalde antreten. Da war er freilich schon berühmt als Autor mehrerer Lieder, die der Berliner Nikolaikantor Johann Crüger in Musik gesetzt hatte. Vielleicht war es ja wirklich so, dass die Berliner diese Lieder sangen bei den Schanzarbeiten beim Wiederaufbau des kriegsversehrten Berlins. Ohne Fantasie kann man dieses Leben nicht ausmalen. Dazu fehlen die nötigen persönlichen Dokumente.

Und so ist es eigentlich ein sehr moderner Paul Gerhardt, den Fabian Vogt hier agieren lässt in seinem Roman, der in Teilen einem Stück folgt, das Vogt schon zuvor verfasst hatte. Und auch die Frauen – gerade Gerhardts Geliebte und Ehefrau Anna Maria – wirken sehr modern und selbstbewusst. Aber was tun, wenn die Briefe fehlen und kein Tagebuch existiert?

Nur ein paar Ernennungsurkunden und Registereinträge. Und vor allem diese Lieder, die von einer innigen Beziehung zur Welt, zu Gott und vom Leben hienieden erzählen. Und deren Anfangszeilen heute selbst noch Menschen geläufig sind, die nie in der Kirche waren und die Lieder aus dem Gesangbuch der Kirche kennen.

Und natürlich rührt Fabian Voigt etwas Wesentliches an, wenn er die Berliner Schanzarbeiter einfach die deftigen Beschreibungen in Gerhardts Liedern wahrnehmen lässt und die tiefe Frömmigkeit darin eher nur beiläufig wahrnehmen. Das wirkt ebenfalls modern. Und so hätten sie auch 1657 nie mit ihrem Pfarrer geredet. Pfarrer waren Respektspersonen, auch dann, wenn sie vom brandenburgischen Kurfürsten entlassen werden konnten, weil sie ihm zu lutherisch waren.

Lieder vom Lebendigsein

Was trotzdem nicht heißt, dass diese Lieder nicht auch die einfachen Leute auf den Kirchenbänken ergriffen. Denn sie erzählen bis heute vor allem vom Zwiespalt, in dem der Mensch lebt. Damals noch heftiger als heute. Denn die Erinnerung an den grausamen Krieg steckte allen noch in den Knochen, viele Menschen waren traumatisiert, hatten alles verloren, was sie liebten, hatten erlebt, wie leicht der in den Krieg ziehende Mensch zur Bestie wird und raubt, plündert, schändet und mordet.

Und da kam dieser Paul Gerhardt daher und sang im Grunde Lieder vom Leben, Lieder, die bis heute dazu ermutigen, die Schönheit der Welt wieder wahrzunehmen und mit Dank anzunehmen und Gott dafür zu danken. Und zwar tätig. So wie in „Geh aus mein Herz und suche Freud’“.

Man ahnt nur, wie schwer die Erinnerung an Krieg und Seuchen auf den Menschen lasteten. Die frühesten Lieder entstanden ja noch während des Krieges. Und anders als viele andere Pfarrer, die selbst verzagten, scheint dieser Paul Gerhardt immer ein Mensch gewesen zu sein, der sich aufrappelte, der sich sagte: „Genug mit der Trauer. Davon wird die Welt nicht besser. Macht die Augen auf, Leute. Da draußen ist das Leben. Nehmt es an.“

Wobei zu den neuen Tönen, die er in die Kirchenmusik brachte, auch dieses erstaunlich vertraute Du gehört, als wäre Gott, wie er ihn anspricht, geradezu gegenwärtig, als könnte man ihn jederzeit ansprechen. So wie es Gläubige vielleicht im Gebet schaffen. Fabian Vogt beschäftigt sich ja nicht grundlos schon länger mit diesem Dichter, dessen Lieder selbst heute noch die Zuhörer anrühren.

Etwas aufrühren in ihnen, was mit dem ganz elementaren Sein in der Welt zu tun hat. Einer Welt, die oft genug trostlos, hart und verwirrend erscheint. Das ist heute nicht anders als zu Paul Gerhardt Zeiten. Wie erdet man sich da? Wie kommt man da wieder zurück in dieses Gefühl, nicht ungewollt auf der Welt zu sein?

Standhaft im Luthertum

Es ist ein Gefühl, das auch Ungläubige, Zweifler und Wutentbrannte kennen. Denn wo der Mensch sich nicht aufgehoben fühlt, beginnt er wild herumzurennen und nach Schuldigen zu suchen. Irgendwer muss doch schuld sein an diesem Gefühl, nirgendwo mehr Wärme und Sicherheit zu finden. Wahrscheinlich predigte Gerhardt auch so und war deshalb auch als Pfarrer gefragt.

Und selbst der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm schien den berühmten Dichter eher ungern entlassen zu wollen. Doch wenn es um sein Luthertum ging, war Paul Gerhardt eisern. Das ließ es sich nicht abfeilschen und ging lieber in eine ungewisse Zukunft.

Auch so ein Aspekt, den Fabian Vogt natürlich gestaltet. Denn damit hat auch die Klarheit in Gerhardts Liedern zu tun. Er lebte seine Überzeugung. Und stand dazu. Ganz wie Luther. Nur das Kämpferische von Luther war ihm wohl fremd. Seine Lieder erzählen eher von Freude und Vertrauen, von Trost nach schwerem Leid. Also den ganz menschlichen Erfahrungen, die wir alle teilen.

Nur dass viele gar nicht mehr wissen, wohin mit den Gefühlen. Ist diese alte evangelische Innigkeit überhaupt noch möglich in unserer Zeit, wo sich jeder seinen eigenen Glauben bastelt und jeder, der will, seinen Zorn und seine Verdossenheit in alle Kanäle pustet?

Dass es auch Gerhardt in seinen Liedern um dieses simple Gefühl geht, gesehen und angenommen zu werden, wird ja selbst in Zeilen wie diesen sichtbar: „Ich will hier bei dir stehen, / verachte mich doch nicht. / Von dir will ich nicht gehen, / wenn dir dein Herze bricht …“ („O Haupt, voll Blut und Wunden“) Es ist ein Ur-Gefühl, eingebettet in tiefste lutherische Frömmigkeit. Und natürlich muss man zumindest versuchen, sich in diese Zeit hineinzuversetzen, die für die meisten Menschen ganz und gar nicht tröstlich war. Und in denen Pfarrer, die fähig waren, ihrer Gemeinde tatsächlich Trost zu spenden, eine ganz wesentliche Rolle spielten.

Eine Rolle, die sie – das beweist ja Paul Gerhardt – auch durch Haltung kundtun konnten. Es macht einen Unterschied, ob ein Amt nur verwaltet wird oder gelebt. Und das macht eben auch das Wesen dieser Lieder aus, die Fabian Vogt dazu animiert haben, das Leben Paul Gerhardts in seinen prägenden Stationen in Szene zu setzen. Wie war es in Grimma, in Berlin, in Mittwalde, in Lübben? Was lässt sich überhaupt noch nachempfinden nach so langer Zeit?

Ein sehr moderner Paul Gerhardt

Der Leser wird so natürlich einem Paul Gerhardt begegnen, in dem eine Menge Fabian Vogt steckt. Ein Paul Gerhardt, der sich wahrscheinlich sogar wundern würde über die Dialoge, in denen er spricht. Sehr souveräne Dialoge, die aber eben auch – ganz Fabian Vogt – ein sehr modernes Verhältnis zu Glauben und Gottvertrauen formulieren.

Das war mal ein gängiges Wort, das auch Leute benutzten, die mit Kirche nichts am Hut hatten. Weil es etwas assoziiert, was größer ist als unsere mickrigen Maßstäbe von Wohlstand, Karriere und Individualismus. Eine Welt-Verbundenheit, die Paul Gerhardts Lieder bis heute nacherleben lassen. Und ein Vertrauen darauf, dass einen die Trauer nicht unter sich begräbt und dass man bei allem Ärger doch geliebt wird von irgendwem. Und sei es eben Gott.

Wobei dieser Paul Gerhardt auch zauberhafte Lieben erfährt. Was dazugehört. Denn wer sich nicht einlässt auf die Welt, wird auch keine Liebe finden. Dieses Gefühl, tatsächlich gesehen und berührt zu werden. Motto: „Du, meine Seele, singe …“ Und so tauchen bei Gerhardt eben auch Schlüsselworte auf wie Lust, die daran erinnern, dass man sich immer einlassen muss auf die Welt, sonst erlebt man ihren Zauber nicht.

Das ist jetzt modern interpretiert. Doch irgendwie so muss es dieser begabte Liederdichter gemeint haben. Und abgegolten ist das nicht. Das gilt auch in unserer so selbstgerechten Zeit. Denn noch eins fällt auf – auch wenn es Fabian Vogt nicht so hervorhebt – , nämlich welche Last diese Lieder von den Schultern der Singenden nehmen, wenn sie das Gottvertrauen mit einer ganz großen Bescheidenheit verbinden.

Wer das fühlt, muss nicht mehr jagen und glänzen und immerzu beweisen, was er kann. Der darf sich auch einmal gelten lassen. Und sich geborgen fühlen. Aufgehoben und gesehen. Dankbar für alle täglichen Gaben. Aber wer ist das schon noch? Das ist die Frage.

Das Buch ist eine recht lebendige Einladung, sich einmal hineinzuversetzen in die durchaus ermunternde Weltsicht eines Mannes, der in wirklich finsteren Zeiten Zuversicht und Hoffnung verbreitete.

Fabian Vogt „Meines Herzens Lust!“ edition chrismon, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2025, 18 Euro.

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