LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 69, seit 19. Juli im HandelDass da etwas Besonderes am Leipziger Schiller-Gymnasium im Leipziger Norden geschieht, haben über die Schule hinaus nicht zuletzt durch die „Schiller-Akademie“ Interessierte längst mitbekommen. Ein Lehrer fordert nun seit zwei Jahren gestandene Politiker und Zeitzeugen gemeinsam mit seinen Schülern im Diskurs heraus, lebt vor, was die jungen Menschen so dringend suchen: Verantwortungsübernahme, demokratische Streitkultur und eine gemeinsame Suche nach Antworten auf die Fragen ihrer Generation.

Jens-Uwe Jopp schreibt in der knappen Freizeit für die LZ, engagiert sich im Leipziger Schillerverein und ist doch zuerst und vor allem Pädagoge für Geschichte und Deutsch. Und als dieser hat er 2019 seinen Schülern eine Rede zum bestandenen Abitur mit auf den Weg gegeben, die es wahrlich in sich hat.

Gemeinsam mit dem „Loser“ Friedrich Schiller schickte Jopp die jungen Menschen in ihr nun ganz eigenes Leben, mahnte zur fortwährenden Selbstreflexion und gab ihnen einen Aufruf zur Selbstermächtigung an die Hand. Hier als Niederschrift zum Nachlesen. (Vorwort Michael Freitag)

Die Rede an den Abiturjahrgang 2019

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Anwesende,

da ich ganz offiziell gebeten wurde, hier einige Worte zu verlieren, möchte ich zunächst sagen, dass ich allen Mitbewerberinnen und Mitbewerbern zum diesjährigen Reifezeugnis, zum bestandenen Abitur gratuliere, Ihnen und Euch allen alles Gute für den weiteren Lebensweg wünsche.

Damit kann ich den offiziellen Teil beenden und zu den, wie es im Deutschlandfunk jeden Freitagabend heißt, „Nachrichten in einfacher Sprache“ kommen. Jetzt steht die Zeit der Entscheidungen an, liegt sie vor euch. Denn wir leben in bewegten Zeiten. Ihr müsst nun entscheiden.

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten. In bewegten Zeiten heißt es nun jeden Morgen, in freiwilliger Weise mehr denn je, zu entscheiden: Bleibe ich liegen oder bewege ich mich … z. B. aus dem Bett? Für einige von euch uferte diese tägliche Gewissensentscheidung in den vergangenen Monaten und Jahren in regelrechte Qualen aus.

Andere, die meisten wohl von euch, arrangierten sich mit der Situation. „Was hilft´s, steh ich eben auf.“ Solider Pragmatismus, unromantisch aber eben auch praktisch. Andere engagierten sich, halfen neben ihrem „Job“ als Abiturient mit, besondere Situationen zu schaffen, Höhepunkte mit zu organisieren und damit zu einer positiven Erinnerungskultur in unserer Schule beizutragen. Funktionen in der demokratischen Mitbestimmung, irgendwann ist jeder, ist jede(r) auch einmal Patenschüler oder –schülerin, Veranstaltungen mussten moderiert und technisch abgesichert werden.

Alles wichtig, um der hassgeliebten Schule ein besonderes Gesicht und Gewicht zu verleihen, damit sie den manchmal ächzenden Stoffdruck etwas fröhlicher und stolzer trägt. Dazu braucht es eine Erinnerungs-Kultur.

Denn wir leben in bewegten Zeiten

Die Erinnerungskultur ist unserem Land, das gespalten ist, zum Reizwort geworden. In der Beurteilung der verschiedenen Fallbeispiele oder historischen Zeitabschnitte ja beinahe zum Gradmesser einer gesellschaftspolitischen Haltung. Da wird relativiert, verharmlost und ver-rückt. „Warum gibt´s eigentlich keine Stolpersteine für Wehrmachtssoldaten?“ traut man sich wieder zu fragen. Um im nächsten Moment klagend zu verkünden, dass man in diesem Land nur „belogen und betrogen“ wird.

Dass Macht korrumpiert, zeigt die Geschichte, ist nicht das Privileg einer einzelnen Partei oder Organisation. Ist menschengemacht. Wie so ziemlich alles auf diesem Planeten. Es bewegt sich viel. In heutiger Zeit. Es kracht mächtig im politischen Gebälk, das herrschende System in der Gesellschaft wird oft nicht nur angekratzt, sondern es wird einem Richtungsstreit ausgesetzt. Die „Einen“, national, regional denkend, den Verlust fürchtend und scheinbar zum härteren Vorgehen gegen alles „Fremde“ im eigenen Leben bereit.

Härte, wenig Nachsicht ist da angesagt. Pessimistisch. Die Imperative der Freiheit vertauschend. Nicht wie bei Schiller zuerst „fremde Freiheit schonend“, sondern zuerst eigene zeigen.

„Ich bin auch wichtig und mich nimmt man nicht ernst.“

Nachvollziehbar in gewisser Weise. Gefangen in eigenen Wahrnehmungskanälen, das Vertrauen in die Gestaltungskräfte der Demokratie verloren. Und das in einer Gesellschaft, in der es nicht immer gerecht zugeht. In einer Demokratie, die eben repräsentativ ist, oft nervt, Zeit kostet, auch Macht und Korruption beinhaltet, Lobbyismus fördert usw. Immerhin aber versehen mit bürgerlichen Rechten und Freiheiten, die man in vielen Teilen der Erde vergeblich sucht.

Vielleicht bemerken das nur viele nicht, dass es nicht der fremde Nachbar oder die Nachbarin sind, die einem das Leben schwer machen, sondern nur die eigene empfundene Perspektivlosigkeit, die fehlende eigene Hoffnung in das Miteinander in einer Gesellschaft. Die sich in diesem Zusammenhang als „Patrioten“ empfinden, sind sie in Wirklichkeit nicht das Gegenteil davon? Und ist es nicht Ausdruck ganz geringen Selbstvertrauens, wenn eine reiche Gesellschaft sich insgesamt nicht zutraut, die selbst verursachten menschengemachten Probleme zu meistern, sie als Herausforderung zu begreifen? Sich dabei verschließt, anstatt sich zu öffnen? Menschenrechte nur national definiert werden?

Schiller, der alte „Moraltrompeter“

Er mahnte immer wieder oberlehrerhaft die „Freiheitsfähigkeit“ des Menschen an, der seiner Ansicht nach zentrale Bildungsbedeutung zukäme. Seine nervtötende Didaktik, sein abstrakt wirkender Idealismus, welche uns heute manchmal die Augen rollen lassen – sie sind aber eine Moral, die einem nicht das „Siegen“ beibringen, sondern eher die Hoffnung und Zuversicht in einen humanen Weg der Zukunft weisen. „Brüder, überm Sternenzelt MUSS ein lieber Vater wohnen!“

Ein junger Mittzwanziger schreibt das, optimistisch, voller Euphorie, unter Hartz –IV- Verhältnissen lebend, aber niemand anderes für sein „Elend“ verantwortlich machend – stattdessen sich im Versuch zu begreifen, die Welt, die sich im revolutionären Umbruch befindet, ein Stück lebenswerter für alle zu schreiben. Und dabei jahrelang ein finanzieller „Loser“ zu sein.

Deswegen will ich nach den „Einen“ nicht von den „Anderen“ sprechen. Denn auch der Optimist, der Hoffnungsvolle und Zuversichtliche lebt nicht ohne den Zweifel. „Ich behaupte mal, mindestens 50% der klimastreikenden Schüler*innen geht am Freitag nur zur Demo, weil sie nicht in die Schule müssen.“ Das schrieb mir zuletzt ein Bekannter. Möglich. Vielleicht lösen wir das Problem irgendwann mal mit Teststreifen im Gehirn oder schließen die Schularbeitsverweigerer an moderne Lügendetektoren an?

Sicher sind da auch die berühmten „Trittbrettfahrer“ bei den „Futuristen“ an den „Fridays“ dabei. Wie sollte es auch anders sein? Ändert es etwas daran, dass – kurzer Rückschwenk zur Erinnerungskultur – gerade wir mit unserer Geschichte des 20. Jahrhunderts ein Vorbild im Erfüllen der Klimaschutzziele sein könnten? Natürlich, Schulpflicht ist Schulpflicht und mit guten Leistungen im Rücken streikt es sich besser und überzeugender.

Aber Ehrlichkeit, Selbstreflexion und individuelle Erinnerungskultur der „Alten“ gehören auch dazu.

„Nie sieht er andere in sich, nur sich in anderen.“

Schreibt Schiller und beschreibt den moralisch wenig überzeugenden Bürger. Nur sich selbst in anderen zu sehen, macht überheblich, arrogant und unnachgiebig im Zugestehen von eigenen und fremden Schwächen, verbaut dadurch Möglichkeiten der Selbstregulation und -korrektur. „Andere in sich zu sehen“ stärkt das Bewusstsein, dass man früher selbst mühsam den steinigen Weg der Selbsterkenntnis nehmen musste und heute muss. Immer und immer wieder.

Dann wirken die Bemühungen nach konstruktiven, verstandenen und akzeptierten Lösungen glaubhafter. Für Sie, für uns alle und für unser Land.

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