Seit 2003 wünscht man sich im Leipziger Osten ein Gymnasium. 2023 soll es so weit sein. Im und neben dem ehemaligen Schulgebäude der Hermann-Liebmann-Oberschule in der Ihmelsstraße werden eine Oberschule und auch ein Gymnasium einziehen. Die seit 2013 laufenden Planungen werden dann ausgeführt sein. Während die umfangreichen Bauarbeiten an den Zusatzgebäuden noch in vollem Gange sind, ist das 1907 gebaute, alte Schulgebäude bereits saniert und bezugsfertig.

Alexander Bußmann soll die Räume des Gymnasiums mit Leben füllen. Der 36-Jährige trägt derzeit noch den Titel Außenstellenleiter, denn de facto ist das Gymnasium eine Außenstelle des Humboldt-Gymnasiums in der Möbiusstraße. Seit diesem Schuljahr hat er ein kleines Kollegium zusammen und versucht nun mit ihnen gemeinsam eine neue Schule inhaltlich ausformen.https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2022/11/acht-monate-krieg-gegen-die-ukraine-rueckblick-auf-die-ersten-wochen-in-leipzig-482127

Zu tun gibt es genug: Das Schulkonzept muss weitergeschrieben werden, das Kollegium erweitert, ein Name gefunden und vor allem die Frage beantwortet werden: Was ist eigentlich eine Quartiersschule für uns? Denn das soll der Schulcampus zukünftig sein. Im ersten Schuljahr begleiten wir Alexander Bußmann und sein Kollegium bei ihren Anstrengungen.

Die Sonne legt sich über den neuen Schulhof der Quartiersschule in der Ihmelsstraße. Das ist dort, wo von der Wurzner Straße gerade die Torgauer Straße abgegangen ist. Eigentlich führt die Ihmelsstraße gar nicht mehr an der Schule entlang, weswegen der Name für Ortsunkundige irreführend ist.

Die Straße ist enterbt und im Moment türmt sich hier ohnehin das Baumaterial. Eine Schule entsteht – an diesem Standort derzeit noch mit Hilfe von Baufacharbeitern und gleichzeitig im Kopf von Alexander Bußmann und seinem zehnköpfigen Lehrerkollegium. „Zurzeit sind wir am Barnet-Licht-Platz untergebracht – zusammen mit zwei anderen Schulen: der Oberschule Barnet-Licht-Platz und dem Gymnasium Prager Spitze. Dort haben wir vier Unterrichträume.“

Denn Bußmann & Co haben auch schon drei Klassen zu unterrichten, mit insgesamt 44 Schülern. Die Anfänge sind bescheiden für die fünf Stammlehrer und die fünf zusätzlich abgeordneten Kollegen, die pro Woche für ein paar Stunden an der neuen Schule ohne eigenes Schulgebäude unterrichten. Alle Kollegen der neuen Schule teilen sich derzeit einen fünften Raum.

„Das ist Büro, Lehrerzimmer und Vorbereitungsraum in einem.“ Hier steht das Skelett der Biologen neben den Utensilien für den Matheunterricht und der Kaffeemaschine. Noch ist alles beengt. „Aber es ist natürlich auch cool, so bekommt man gleich mit, was in den Klassen los ist und alle kennen alle Schüler.“

Im zweiten Halbjahr soll es dann rüber nach Sellerhausen auf den Schulcampus der Quartiersschule Ihmelsstraße gehen. Aber was ist das überhaupt, eine Quartiersschule? Die Antwort ist komplex. „Zum einen ist unsere Schule auch für die Bewohner des Stadtteils da. Unsere Mensa ist offen für sie. Die Musikschule und die Familienhilfe haben in unserem zukünftigen Mehrzweckgebäude eigene Räumlichkeiten, die sie unabhängig vom Schulbetrieb nutzen können“, so Bußmann.

Oberschule Ihmelsstraße
Das zukünftige Oberschulgebäude. Foto: Marko Hofmann

„Idealerweise entstehen dann kurze Wege für die Kinder und Jugendlichen und wir können leichter miteinander kooperieren. Schön wäre es, wenn auch die Eltern dann die Musikschule besuchen und vielleicht sogar im selben Raum lernen, in dem auch ihre Kinder ein Instrument lernen.“

Zum anderen hat eine Quartiersschule auch eine pädagogische Dimension. Auf beiden Seiten des 115 Jahre alten Schulgebäudes entstehen gerade neue Gebäude. Eins für die Oberschule, in der bei Volllast 500 Schüler lernen sollen und eins für die 900 Schüler des Gymnasiums, die es in sieben Jahren sein sollen.

Alle teilen sich eine Mensa, einen Schulhof und das große alte zentrale Gebäude. Die derzeitigen Außenstellenleiter, Bußmann und Robert Hausotte, stellen auch an sich selbst die Erwartung, dieses Konzept Quartiersschule besonders zu gestalten und die Hoffnungen des Sozialdezernats zu erfüllen.

Das hatte 2015, als die Reaktivierung des Schulstandorts geplant wurde, Folgendes formuliert: „Die größere Herausforderung und Voraussetzung zur Erreichung der beabsichtigten Wirkung – mit dieser Investition werden zunächst nur bauliche Hüllen geschaffen – ist der Inhalt. Gefunden werden muss eine Struktur, die das Zusammenwirken der Bildungseinrichtungen im Stadtteil und speziell das Management des Campus Ihmelsstraße und seiner Angebote in den Blick nimmt.

Diese Aufgabe braucht Personal, das parallel zur Bauphase die inhaltlichen Konzepte auch in Verbindung mit der Bildungsagentur vorbereitet.“ Bußmann ist bewusst, dass der Standort nicht nur aufgrund des Campus-Gedankens anders ist, denn der gebürtige Thüringer hat selbst mit seiner Familie in der Gegend gewohnt.

„Vor 10, 11 Jahren, habe ich gesehen, wie die Schule immer weiter verfällt. Irgendwann wurde angefangen, sie wiederaufzubauen, und ich dachte, die Schule hat Potenzial mit diesem Türmchen da oben.“ Sein Blick richtet sich gegen die Sonne, die knapp über dem Schulgebäude steht. Vor drei Jahren kündigt er seine Anstellung am Montessori-Schulzentrum in Grünau, um zum Staat zu wechseln. Sein Ziel wird es, diese Schule, aus der vor zehn Jahren noch die Birken aus dem Dach wuchsen, mit aufzubauen. „Genau deswegen bin ich zum Staat gegangen, weil ich hierher wollte.“

Ihmelsstraße Campus
Ein Teil des Schulcampus. Foto: Marko Hofmann

Sein Amtskollege Hausotte ist im selben Alter, gemeinsam haben sie schon mehr als genug Ideen ausgetauscht, wie diese Verzahnung zwischen den Schulen vonstattengehen könnte. „Wir haben jetzt am Gymnasium schon angefangen, selbst organisiertes Lernen einzuführen. Da könnte man Oberschüler und Gymnasiasten klassenweise zeitgleich am selben Ort arbeiten lassen.

Dann kann ein Kind auch mal schauen: Pack ich das Aufgabenniveau am Gymnasium und umgedreht, fällt es mir an der Oberschule leichter“, so Bußmann. „Wir wollen den Wechsel zwischen den Schulen eigentlich auch gerne, wenn wir die Kapazitäten haben, sehr durchlässig halten, sodass wenn Schüler wechseln, sie wirklich nur im Gebäude wechseln, und nicht, wie es heutzutage ist, quer durch die Stadt an die neue Schule fahren müssen. Das wäre für die Kinder natürlich eine Superchance.“

Beide leben die Gemeinschaft vor, der Außenstellenleiter fürs Gymnasium war unlängst erst bei der Dienstberatung in der Oberschule. Auch bei der Namensgebung wollen beide zusammenarbeiten. „Die Stadt hat uns schon den Auftrag gegeben, in den nächsten ein, zwei Jahren einen Namen zu finden. Das wollen wir natürlich zusammen machen. Es wäre cool, wenn man einen Schulnamen hat und dann nur die Schulform ergänzt wird.“ Der Name Hermann Liebmann könnte reaktiviert werden. Die beiden sind für alle Vorschläge offen. Ein Bezug zur Gegend wäre ideal.

Es ist später Nachmittag im Leipziger Osten. Der Wind pfeift hinter dem Gebäude, noch ist Baulärm zu hören, auf dem Schulhof suchen Bänke noch ihren Platz. Hinter der Schule beginnt die neu entstandene Rietzschke Aue, die der Schule als grünes Klassenzimmer dienen könnte. Hier hatte Bußmann seinen ersten Auftritt als Außenstellenleiter als er die neuen Eltern mit einem Video für die Homepage begrüßte.

Das LZ Titelblatt vom Monat Oktober 2022. VÖ. 28.10.2022. Foto: LZ

Der 36-Jährige müsste das hier nicht machen. Andere Schulleiter haben sich deutlich länger nur um sich und ihren Unterricht gekümmert, sind erst mit Mitte 40 oder gar 50 die Karriereleiter emporgeklettert. Sellerhausen und das angrenzende Anger-Crottendorf sind nicht die leichtesten Stadtteile, um eine Schule aufzubauen.

2015 konstatierte das Sozialdezernat: „Mit Blick auf die Gesamtstadt erkennt man, dass der Leipziger Osten der Stadtteil mit höchster Schulabbrecherquote, geringsten Bildungsempfehlungen und der Ballung der schärfsten sozialen Probleme ist.“

Warum also das Ganze? „Es liegt tatsächlich an der Schule. Ich bin in der Nähe zehn Jahre sozialisiert worden, meine Kinder sind in Anger-Crottendorf in die Schule gegangen und hier groß geworden. Ich habe mich immer mit diesem Teil Leipzigs identifiziert. Aber nicht jeder im Stadtteil identifiziert sich mit dem neuen Schulcampus wie Bußmann. Dort wo schon die Turnhalle steht, war bis vor kurzem ein Wertstoffhof.

„Das war für die Anwohner schwierig zu akzeptieren, dass dieser nun nicht mehr da ist. Auch die Garagen und ein paar Kleingärten mussten weichen. Sehr zum Unmut mancher Anwohner.“

Davon lässt er sich nicht entmutigen. „Ich will, dass diese Schule wieder ein positives Bild bekommt. Ich finde, in so einem Quartier muss die Schule das schönste Gebäude in der Ecke sein und die Schüler müssen stolz sein, in so ein schönes Gebäude gehen zu können. Dazu möchte ich gerne beitragen und gleichzeitig die etwas älteren Menschen, die sich weggestoßen fühlen, weil die Garagen und der Wertstoffhof weg sind und sie deshalb weitere Wege haben, mit dazuholen.“

Eine Quartiersschule eben. Der Lehrer denkt an Angebote, die die Schüler mit den Menschen in der Schule wahrnehmen können oder eben den Zweck, den die Quartiersschule ohnehin haben soll: das Bildungszentrum des Stadtteils.

Noch hat er seine neue Arbeitsstelle nicht von innen betreten, sondern jahrelang, auch jetzt, von außen betrachtet. „Der einstige Zustand war wirklich schlimm. Das Dach war eingestürzt, die Fenster waren eingeschlagen, auf dem Dach standen Birken. Man konnte sich nicht vorstellen, dass man dieses Haus wieder instand setzen kann.“

Zukünftig sollen sich Oberschule und Gymnasium das Haupthaus teilen. Hier werden die Lehrerzimmer für beide Schulen sein und auch Gruppenräume für Profil- und Kursunterricht sowie Sprachgruppen.

Die 44 Schüler, die bereits am Barnet-Licht-Platz unterrichtet werden und die zehn Kollegen sollen nach den Winterferien erst mal mit der ebenfalls seit diesem Schuljahr aufgebauten Oberschule in deren Gebäude ziehen. Jedes Jahr sollen dann idealerweise vier neue Klassen für beide Schulformen aufgenommen werden.

Noch hat sich nicht herumgesprochen, welche Chance diese Schule für den Osten ist. Die 44 Schüler haben es dafür gemütlich. Sie verteilen sich auf drei Klassen, die aus nicht mehr als 16 Schüler bestehen. Kleinere Gymnasialklassen gibt es an einer staatlichen Schule in Leipzig wohl kaum.

Bußmann hat bei den Bewerbungsgesprächen im Sommer genau hingehört, welche Lehrer an seine Schulen kommen wollen. Seit neuestem bewerben sich Kollegen direkt an der Schule, an der sie unterrichten wollen und nicht mehr zentral.

„Ich habe die Lehrer bewusst nicht nur nach den Fächern ausgesucht, sondern danach, welche Ideen sie von Schule haben, wie sie auf Menschen wirken und ob sie die zusätzliche Arbeit, die bei einer neuen Schule anfällt, mittragen wollen und nicht davor zurückschrecken.“

Noch fehlt ein Mathelehrer, der Lehrermangel macht sich nunmehr auch in Leipzig bemerkbar. Die Quartiersschule macht es allerdings möglich, dass Kollegen der einen Schulform, auch bei der anderen unterrichten. Den fehlenden Mathelehrer kompensiert der Außenstellenleiter persönlich, der sich selbst demnächst bewerben muss, denn wer eine Außenstelle leitet, wird nicht automatisch auch der Schulleiter der Schule, sobald sie der Mutterschule entwachsen ist.

17 Uhr. Wir beenden unsere Runde rund um den Schulcampus. Nicht ein einziges Mal haben wir einen Schritt auf das Gelände gewagt. Noch ist hier Baustelle. Nur für das Foto passieren wir den Bauzaun. Der Außenstellenleiter fragt höflich einen Bauarbeiter, ob es ok wäre, wenn wir ein Foto vom Baucontainer rüber zur Schule machen würden. Noch hat Bußmann hier sein Quartier nicht aufgeschlagen, aber er hat schon viele Ideen, was er machen wird. Bauarbeiter wird er für die Umsetzung dann nicht um Erlaubnis fragen müssen.

„Alle unter einem Dach – Eine Quartiersschule entsteht: Bildung statt Birken (Teil 1)“ erschien erstmals am 28. Oktober 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 107 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops sowie bei diesen Szenehändlern.

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