Sie haben gewählt? Dann haben Sie es überstanden. Die Lichtung des März vor sich sehend, durchgedrungen, durch den Wald der plakatebehangenen Lichtmasten mit den aufmunternden Botschaften. Und fühlen Sie sich jetzt „zukunftsfest“ mit mehr „Netto vom Brutto“? Wenn diese Zeilen die Leserinnen und Leser erreichen, ist das Schlimmste oder das Wichtigste – je nachdem – wohl schon vorbei. Viel ist geschrieben, diskutiert, polemisiert, beleidigt und wieder relativiert worden in den vergangenen Wochen und Monaten vor der vorgezogenen Wahl zum 21. Deutschen Bundestag.
Es war eine eigenartige Mischung aus Altem und scheinbar Neuem, was man in der Winterzeit und vor dieser Wahl von den Vertreterinnen und Vertretern der Parteien übermittelt bekam. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass in den Diskussionsrunden von Maischberger bis Illner – von letzterer weitergereicht zu Markus Lanz – die gesellschaftlichen Probleme des Landes zwar thematisiert, aber nie wirklich genau analysiert wurden. Von echten Lösungsversuchen ganz abgesehen.
Oft bekam man das Gefühl, dass hinter einem Vorschlag zwar eine politische Absicht dahinterstand, aber die Lösung sich immer mehr an zunehmend inhumanen Zielen orientiert. Alles griff zu kurz, wenn über Abschiebungen geredet, Mehrarbeit und Leistung gesprochen und über Kriegstüchtigkeit und Wehretat schwadroniert wurde. Die Gegenstimmen sind kaum zu zählen gewesen, da musste schon eine gealterte linke Olsenbande der Silberlocken antreten, damit soziale Auswege aus der demokratiegefährdenden Dauerkrise gehört werden.
Politisch chancenlos sind anti-neoliberale Lösungsstrategien in der Gegenwart ohnehin. So als hätte es vor ein paar Jahrzehnten nie ein antifaschistisches Vermächtnis, antikoloniale Befreiungsbewegungen, erfolgreiche Volksfrontprojekte in Lateinamerika oder einen 68er-Frühling, „Love & Peace“-Bewegungen nie gegeben. Nach einem Viertel 21. Jahrhundert ist eines klar geworden: Nach den verheerenden Weltkriegen der Vergangenheit sind wir wieder dort angelangt, wo wir vor ihrem Beginn standen.
Eine Völkerbundorganisation (die UNO) praktisch tot, das Völkerrecht definiert der Sieger oder der Stärkere. Demonstrierte Macht, Militärbündnisse und ganz zuletzt imperiales Streben sind wieder angesagt. Der Linksliberalismus unterstützt die Mächtigen dabei, in Form eines beklagten Sachzwanggehabes, er kann das Ruder der inhumanen Hatz nach ökonomischen Ressourcen und deren Ausbeutung aber nicht im Geringsten aufhalten.
Beinahe dem Goethe-Mantra entsprechend, nur falsch verstanden. Wenn du deinen Feind nicht besiegen kannst, umarme ihn. Das mutet an wie ein politischer „Burgfrieden“ 2.0 innerhalb der herrschenden bürgerlichen Klasse.
Das Ergebnis heißt dann Große Koalition aus Neoliberalismus und Linksliberalismus. Wir wollten es in der Vergangenheit wohl nur nicht wahrhaben, obwohl wir als Wahlvolk an die Akzeptanz dieser unbeweglichen Regierungsmasse schon länger gewöhnt wurden. Jetzt hat man sich innerhalb des demokratischen Spektrums (Stimmt das eigentlich?) auf den aber wirklich allerkleinsten gemeinsamen Teiler geeinigt, mit dem man Koalitionen zusammenwürfelt, um sich in der nächsten Legislatur durchzuwursteln.
Das „Gute-Nacht-Bonbon“ zum leichteren Einschlafen heißt dabei: Seid froh, dass es so gekommen ist, mit den Rechtsradikalen wäre alles noch schlimmer. Wie armselig ist das eigentlich, wenn regierenden Parteien zur Rechtfertigung ihrer unvollkommenen Politik des Sozialstaatsabbaus und ernsthafter Gefährdung einer Daseinsvorsorge nur das Hinterherlaufen hinter sozialdarwinistischen, rechten Politikvorschlägen („Remigration“) und parallel die Drohung mit der Nazikeule einfällt? (Paradox eigentlich.)
Ein „Nie wieder!“ verhindert man nicht nachhaltig mit Demonstrationen, sondern nur mit einer besseren Politik, die vereint und nicht spaltet. Einer wirklichen und sozialen Alternative.
Da ist mir nicht wohl dabei. Was wir brauchen, ist neben einer anderen politischen Erzählung auch eine andere Poesie der Kommunikation in unserem Land. Wie ist es sonst zu erklären, dass es in der Bevölkerung zu einer beispiellosen politischen Orientierungslosigkeit einerseits, aber andererseits zu einer stärkeren Hinwendung zu rechtsautoritären Erklärungen und turbokapitalistischen Beschleunigungsversuchen gekommen ist?
Der Glaube an die Gestaltungskraft linker (vielleicht sagt man zeitgemäßer „progressiver“?) Politikentwürfe scheint in ganz Europa verloren gegangen zu sein. Fast möchte man wie die besiegten deutschen Bauern nach ihrer Niederlage vor fast 500 Jahren singen: „Geschlagen ziehen wir nach Haus, doch unsre Enkel fechten’s besser aus.“
Nicht Stärke gilt es wiederzuentdecken, welche übrigens die DNA des Faschismus darstellt, sondern die weiche Macht der Mitmenschlichkeit. Nicht Leistungsfähigkeit im egoistischen Sinne, ohne das geringste Maß an Solidarität, gilt es zu „stärken“, sondern die intelligente Fähigkeit der Antizipation eigener Schwäche, die jeden und jede irgendwann erreichen wird. Weg vom „Stammesdenken“ der eigenen „Blase“, sei es nun die Familie, die „Parteigruppe“ oder der Verein von Gleichgesinnten. (Letztes Wort klingt irgendwie gefährlich, finde ich.)
Wir definieren uns nicht nur über Stärken und dem „Immer-Besser-Sein“, sondern über unsere Schwächen im gleichen Maß. Nicht alles hat Sinn und Verstand, was wir tun, und nur die Besten verdienen das und das. „The Winner takes it all“ – das mag für ein Popsong-Ranking taugen – in unserer Welt sollten die Botschaften, die zum Kampf und Sieg über das „Böse“ aufrufen, auf höchste Vorsicht und positiv bezeichnete Verunsicherung stoßen. (Heute kommt es, dieses „Böse“, wieder aus dem Osten. Und uns Deutschen geht komischerweise alle historische Demut.)
Mich stört die „Weiter so!“-beharrliche Sicherheit, mit der die verantwortliche Politik, auch aus dem „demokratischen Spektrum“ der Parteien, einer zunehmend unsicher und gefährlich am Abgrund stehenden Welt begegnet. Da bleibt auch mit Blick auf die eingangs erwähnte Lichtung des März keine Zuversicht übrig. Wenn man sie beschwört.
Was ich will, sind ehrliche Zeugnisse der Verunsicherung, von mir aus der Angst, des Zweifels, auch der Schwäche. Dann, vielleicht dann rührt man die Herzen der Mitmenschen, die sich ähnliche Gedanken eingestehen und öffentlich zu ihnen stehen. Was mir bleibt, ist die Hoffnung. Und ein Gedicht.
Mir ist nicht wohl dabei
Wenn Pappfiguren mutig zeigen,
Wahlwünsche stets Versprechen bleiben,
dass Alles gut beim Alten sei –
Mir ist nicht wohl dabei.
Wenn Kindern hässlich wird erklärt,
dass Fremdes nicht dazugehört,
fährt man im Urlaub auch vorbei –
Mir ist nicht wohl dabei.
Wenn Richtig-Sein neurotisch wird
hingeschaut, wohin man tritt,
„normales“ Spiel das Sichere sei –
Mir ist nicht wohl dabei.
Ich mag den Hinterdiekulissenblick,
manchmal wirft es auch zurück.
Ja, dass ich mir Schwächen selbst verzeih,
Dann ist mir wohl dabei.
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