LeserclubWelche Chance hat ein kleiner, ganz kleiner Zeilenschinder in L. eigentlich, noch heute herauszufinden, was eigentlich los ist mit der Akte zu jenem mal wieder für Wirbel sorgenden Grundstück, wo einmal die legendäre Soßenfabrik von Marinade-Heinrich stand? Eigentlich hat ein flinker Hase wie L. nur eine Chance: Er weiß, wer Verlieswächter ist im Rathaus. Und weiß auch, wann Frühstückspause ist.

Verliese unterm Rathaus? Natürlich waren das niemals Verliese, was sich da als Katakomben unter dem gesamten alten Steinhaufen von Verwaltungstrutzburg erstreckt. Und es war eine Legende, dass unwillige Stadtbürger, die in längst vergangenen Zeiten ihre Steuern nicht zahlten, hier unten bei Wasser und schimmligem Brot gehalten wurden, bis ihnen das Moos aus den Ohren wuchs oder die Ratten selbst um Nachschub bettelten. Alles nur Legenden. Wo wird denn die gestrenge Obrigkeit die Bürger, die sie ausnimmt wie Weihnachtsgänse, in tiefer Finsternis verhungern lassen? Hier doch nicht. Wo ein paar schief getretene krumme Treppen immer weiter hinunterführen.

Bombensicher seien diese tiefen Keller, hat L. mal von einem mutigen Mann gehört, der ein Häuflein tapferer Liebhaber alter Gemäuer mit zitternden Taschenlampen in diesen Bauch von L. geführt hatte, schwere Stahltüren aufgestemmt hatte, die satt in ihre Füllungen zurückfielen, wenn man weiterging.

Irgendwo tropfte es beharrlich, wie man so etwas erwartet unten in den Eingeweiden eines alten Burgbaus, der nur deshalb zur Festung der städtischen Verwaltung geworden war, weil man in diesen meterdicken Mauern in Ruhe und vom Volke ungestört arbeiten konnte. Und wer richtig hinhörte in den weiten Gängen des Hauses, hörte auch das Stöhnen und Schnaufen und Rascheln und das Blubbern der Espressoautomaten, ohne die auch die staubigste Verwaltungstransaktion nicht zustande kommt. Ohne Kaffee kämpfte hier niemand. Nur dann und wann rollte ein Wägelchen mit frisch gebrühtem Kaffee über die Gänge.

Früher, da war sich L. sicher, hätte ihn ein so beim Schieben erwischter Mitarbeiter angeschnauzt: „WOHIN WOLLEN SIE DENN?!“

Heute wurde das Huschen nur etwas geschäftiger. Und L. fragte lieber nicht nach dem Weg. Den kannte er schon, weil er vor Jahren so gewitzt war, eine große Reportage über die Eingeweide dieses Verwaltungsbauches zu schreiben. Von ganz oben, der Türmerwohnung, bis ganz unten zu den Verliesen, wo heute in stahltürverwehrten Gewölben die Akten der Stadt vor sich hintuschelten. Manchmal knisterten sie auch oder raspelten, wie holzfreies Papier nun mal raspelt, wenn kleine, verwöhnte Muridae versuchten, sich daraus ein nettes Zuhause zu gestalten. Diese kleinen  kreativen Biester.

Natürlich hätte der schmale Mann mit den grauen Haaren ihn nie und nimmer mit hier herunter nehmen dürfen. Nicht ohne Laufzettel und Anmeldung beim Chef des Pressebüros, wo man in der Regel nach fünf Wochen und drei Nachfragen eine Sicherheitserklärung unterschreiben musste und sich quasi schon mal auf die Abholung durch die höhere Justiz vorbereiten durfte, wenn dort unten auch nur ein Blättchen …

Ja ja, hatte der innere Herr L. zum äußeren Herrn L. gesagt. Ein Blättchen. Soso.

Und ganze Akten?

Wo waren denn die Akten zum Prinzenpalais? Und die zu den Ferienheimen der damaligen Nomenklatura? Nie angefertigt? Nie aufgezeichnet? In diesem unseren Lande? Man könnte ganze Serien schreiben über die Lücken im Archiv. Die ganz alten, mit denen sich auch schon die Polizei beschäftigt hatte. Und den jüngeren.

Aber der schmale Aktenverweser, der in einem ganz normalen Straßenbahngedränge natürlich aufgefallen wäre, weil er sich noch immer im dezenten graublau eines braven Archivmitarbeiters kleidete, was vor vielen Jahren mal üblich war, nahm L. dennoch nach einem kurzen Geplänkel mit hinunter in die Gedärme des Riesenbaus. Denn wenn einer im jährlichen Programm des Karnevalvereins von L. als lustiger Narr eine Büttenrede hielt und Herr L. jedes Jahr wunderschöööööne Geschichten über den Verein und die viele Arbeit an den Karnevalskarren und den Programmen mit den Funkenmariechen schrieb … Ach ja, die Funkenmariechen! L. liebte tanzende Frauen im netteren Alter. Und vergaß auch nie den Bäcker zu erwähnen, der die lustigen Spritzgebäcke anfertigte (Ja, die mit den Nasen. Das muss hier nicht weiter ausgeführt werden) und den Fleischer, der die Mettwürste spendierte. Und natürlich …

Na, Sie wissen ja: Wer seine Bekanntschaften nicht frisch hält, kommt nirgendwo hinein. Der wartet zehn Wochen auf ein „Achnöö“ aus dem Chefbüro. Und eine Liste von Absagen mit Ausreden.

Wäre jetzt nicht wieder Zeit, mal wieder neue Funkenmariechen … ?

„Ach, wissen Sie, mit Funkenmariechen haben wir echt kein Problem. Da wollen alle Mädchen mitmachen. Alle. Und ich meine wirklich alle …“

Wenn er wollte, hatte der schmale Mann in seinem grauen Kittel auch in den ziemlich trübe erhellten Kellern manchmal dieses leicht sarkastische Hicksen drauf wie der Bursche, der im bunten Kostüm auf der Bütte lümmelte und den Bürgermeister zehn Strophen lang durch den Kakao zog, ohne eine einzige schlechte Pointe…

„Wirklich alle?“

„Wirklich alle. Deswegen gibt es diesmal auch kein Seniorenballett.“

Ein kleines Räuspern.

„Tschuldigung. Muss ich gendern: SeniorInnenballett.“

„Und was machen die – ähm – älteren Herren? Oder schlüpfen die auch in …“

„Die wollen diesmal lieber singen. Wanderlieder.“

„Und dabei marschieren sie dann so von links nach …“

„Hast du bei den Proben geillert?“, rutschte es dem schmalen Mann verblüfft heraus. Und dann schluckte er das „Du“ ganz schnell wieder herunter. Zumindest er war ja hier im Dienst. Die Schlüssel klirrten. Die Muridae waren mal kurz erschrocken. Aber als sie dann merkten, dass A und B und C heute nicht dran waren, machten sie emsig weiter, während der nun doch etwas vorsichtigere Archivar und L. sich durch die Gänge vorarbeiteten, in denen es leicht schimmlig roch und auch ein bisschen nach Essig. Eine Legende ging ja so: Hier hatte der Rat der Stadt einst seine Weinvorräte gelagert, schwere fränkische und ungarische Weine. Bis zu dem Tag, an dem ein abendlicher Absacker ein bisschen aus dem Ruder lief …

Seitdem war ein Teil des Gemäuers ein bisschen weinselig und alkoholhaltig.

Das letzte grüne Leuchtschild mit dem Männlein, das Richtung Notausgang flitze, passierten sie zwischen K und L. Die Regalmeter verloren sich rechts und links in Dunkelheiten. Einige ein bisschen gelangweilt, weil niemand sie kaufen wollte. Andere etwas zappelig, weil sie hofften, Dr. Jürgen S. würde nach Jahren der tief empfundenen Vernachlässigung endlich kommen und alles kaufen, was auch nur vage nach Eau de Soleil roch. Versprochen hatte er es ja. Die halbe Stadt glaubte daran. Und wartete.

Ein paar Leitungen führten über den Köpfen der beiden Archivgänger ins Dunkle. Manchmal stöhnten sie. Oder ein keuchendes Rauschen war zu hören, als würde sich die schwer plackende Verwaltung ab und zu ihrer schwersten Gedanken entledigen. Dann gab es irgendwo ein Plopp. Und die Lampen knisterten. Und zumindest L. schaute vorsichtig zurück zur letzten Tür, abschätzend, ob er sie auch in stockdunkler Finsternis finden würde.

„Keine Bange“, sagte der schmale Mann vor ihm. „Hier gibt es Notbeleuchtung …“

Und wenn auch die?

Das fragte L. lieber nicht.

Denn sie waren bei M, Maa und Mae angelangt. Auch hier standen die Regale deckenhoch und waren prall gefüllt mit grauen Schubern. Saubere graue Reihen, die die Erinnerung daran bewahrten, wem in dieser Stadt eigentlich was gehörte. Oder auch nicht. Denn so manches war, wie man ja nun wusste, herrenlos und auf Abwege geraten. Vielleicht, weil manche Mitarbeiter des zuständigen Amtes diese Höhlen unter der Festung mieden, so weit es ging. Und sich auf Anfragen beim Wächter der Verliese verließen. Der lief ja vor L. Schmal, staubtrocken und, wie er wusste, ein Verwaltungsmitarbeiter, wie ihn sich Verwaltungen wünschten. Kein Wort zuviel. „Ist eine Akte da?“ – „Nein. Es ist keine da.“

Damit war dann der Vorgang fünf Etagen höher meist schon beendet. Und der schmale Mann  verzichtete schulterzuckend auf die ausbleibende Nachfrage: „Aber wo ist die Akte dann?“

Das konnte er meistens zimmergenau sagen. Aber in so einem Haus stellte niemand unnötige Nachfragen. Nur bei Mar wie Marinade-Heinrich war es jüngst etwas anders gewesen, weil auch der schmale Mann nicht wusste, wo die Akten abgeblieben waren.

Hat denn noch jemand Zugang zu den Verliesen? Das hatte L. ganz oben in der Chefetage gefragt. Da hatte man ihm geantwortet: „Nicht dass wir wüssten.“

Der schmale Mann hatte ihm zumindest erklärt, dass es für so eine Schließanlage auch immer Generalschlüssel gäbe. Mindestens bei der Hausfeuerwehr.

Und so gähnte da, wo die Aktenschuber zu „Marinade-Heinrich“ stehen sollten, tatsächlich ein Loch. Na gut, es gähnte nur kurz, rieb sich verwundert die Äuglein und huschte dann lieber ins Dunkle, um der Verwandtschaft Bescheid zu sagen, dass es Besuch aus der Oberwelt gab. Sofort hörte irgendwo bei N wie „Neues Wohnen“ das Rascheln und Wispern auf und man hörte, wie ein paar unsichtbare Bewohner des Dunklen die Ohren spitzten und die Luft anhielten.

„Nur der Laufzettel liegt noch da.“

„Ist aber keiner.“

„Ach, ich dachte.“

Als L. vor einigen Monaten den Löchern in diesem Bauch der Verwaltung nachforschen wollte, hatte er schnell gemerkt, dass er an seinem Computer nicht weiter kam.

„Da kommse mal lieber vorbei …“, hatte man ihn vertröstet.

„Brauch ich einen Laufzettel?“, hatte er gefragt.

„Na ja, war die Antwort gewesen, kriegen sie.“ Und das hatte sich dann wie „Vielleicht“ angehört. Und war auch ein „Vielleicht“ geblieben. Deswegen war L. eigentlich ziemlich froh, dass er den Archivar damals auch nach seiner Freizeitbeschäftigung gefragt hatte. „Ich bin der Narr“, hatte der mit ernster Miene gesagt.

Und eh wir hier anfangen, daraus kleine Kalauer zu schmieden, nehmen wir das so hin. Für L. entstand so eine dankenswerte neue Bekanntschaft (plus viele schöne Bilder von tanzenden Funkenmariechen über die Jahre) und für den kleinen Mann so etwas wie ein nerviger Quälgeist, der manchmal komische Dinge wissen wollte (die doch eigentlich alle unter das Dienstgeheimnis fielen), den man öffentlich im Amt aber nie gesehen hat. Aber mit dem man in einer Kaffeepause doch ganz unverhofft vor dem Regal Mar bis Mas stehen konnte, andächtig vor einer breiten Lücke, in der kein Laufzettel lag, sondern – „Kann ich mir auch nicht erklären, ist vielleicht rausgefallen.“

Und dann schauten beide den vergilbten Zettel an, der so etwas wie ein Beleg war über 2 Mark 68. „Der ist wirklich schon etwas älter.“ Die Tinte des Stempels war entsprechend verblasst. Aber wenn man – wie der gewissenhafte Archivar – seine richtige Brille dabei hatte, konnte man den Namen des Kopiershops erkennen, der bestätigte, für 2,68 DM 20 Blatt Grundbuchauszug kopiert zu haben. Gegengezeichnet.

„Kann ich nicht lesen“, sagte der Kleine.

„Aber ich“, sagte L., der den arroganten Schnörkel, der sich buckelte wie zwei Mammutstoßzähne, nur zu gut kannte von ungefähr sieben, acht, neun Abmahnungen aus dem Büro eines kolossalen Anwalts, der in dieser Stadt so gut verbandelt war, dass er nicht mal seine Mandanten fragen musste, wenn er irgend so einem Presseschreiberling eine Abmahnung hinrotzte mit utoptischen Streitwerten und der Drohung: Sollte der bekannte Herr X. oder der hochgeachtete Dr. Y auch nur mit einer Zeile in IHREM LÄCHERLICHEN PRESSEORGAN …

Den Ton hatte L. nur zu gut im Ohr. Und so mancher graumelierte Kollege munkelte von Zeiten, als das Mammut …

Aber wer so aufs Geld verfuchst war, der war kleinlich und genau. Der vergaß auch das Datum nicht.

Und wenn L. alles noch richtig in Erinnerung hatte, dann lag das Datum auf dem Kopierschein nur ein oder zwei Wochen nach der Sache mit dem Mann im Löwengehege, von dem L. mittlerweile ja wusste, wer es war.

Aber wo waren die verflixten Akten?

Ein ungeduldiger Wassertropfen ließ sich irgendwo hinten bei O oder P auf ein Techtelmechtel mit der Schwerkraft ein. Und zwölf oder vierzehn zitternde kleine Ohren hörten auf zu zittern, weil das Licht wieder erlosch und sich die Schritte der Störenfriede entfernten Richtung K und H und G. Und dann machten es sich alle wieder gemütlich, während in der Ferne die schweren Brandschutztüren in ihre Fassungen schnappten. Und dann ging ein Seufzen durch die Gänge, als hätte auch das alte Gemäuer die Luft angehalten.

Zumindest an dem Punkt, als L. kurz davor war, in den düsteren langen Gang mit Her wie „herrenlos“ abzubiegen. Schwarze Räderspuren auf dem Boden erzählten davon, dass hier kürzlich eine ganze Menge abgefahren worden sein musste. Oder gebracht. Aber der schmale Mann räusperte sich nur. Es war so ein feines, narrensicheres Räuspern, das normalerweise bedeutet: „Das wollen Sie jetzt gar nicht wirklich wissen.“

Weswegen L. dann, als er draußen war, ziemlich wütend war auf sich selbst. Denn sein kleines, nerviges Gewissen pfiff es ihm laut genug in die Ohren: „Das hättest du schon gern wissen wollen …“ Und sein emsiges Kurzzeitgedächtnis funkte dazwischen, denn wie beiläufig hatte der schmale Mann ihn zur Kostümprobe eingeladen. „Kostümproben für einen Narren. Ist das nichts?“ Und er hatte nicht gelächelt, sondern ihn nur so staubtrocken verabschiedet, als hätte sich L. nur reineweg aus Zufall in seine Kaffeepause verirrt. Die nun zu Ende war. In den nun lichtlosen Gängen wisperte es wieder.

Sie haben den Anfang verpasst?
Alle Teile bisher:

Hier ist Teil 1, in dem Herr L. eine heiße Geschichte vergießt und aufbricht zu einem noch viel heißeren Termin
Warum Herr L. immer wieder aus seiner Arbeit gerissen und eine Geschichte wieder nicht geschrieben wird

In Teil 2 geht es um ein Knappdaneben, über das sich Herr L. gewaltig ärgern dürfte.
Entgleitet Herrn L. auch diese Geschichte wie ein Fisch?

Und in Teil 3 wurde die höchst misstrauische Staatsmacht aufmerksam auf sein Treiben.
Die nicht ganz unwichtige Rolle von Zerstreutheit und Koffein im Leben des Herrn L.

Und in Teil 4 gab’s auf einmal Ärger für zwei misstrauische Beamte
Eine ziemlich frustrierende Begegnung auf Bahnsteig 7 – aber für wen eigentlich?

In Teil 5 hat es ordentlich gescheppert und Herr L. bekam es mit einem misstrauischen Kollegen zu tun.
Gibst Du wohl her!

In Teil 6 ließ sich Herr L. mit einem Kaffee schon gar nicht erpressen.
Mit einem Kaffee lässt sich Herr L. nicht erpressen, aber das macht das Leben nicht leichter

In Teil 7. versuchte Herr L., die ganze Chose trockenzubügeln.
Herr L. bügelt jetzt endlich ein paar durchfeuchtete Aktenstücke

In Teil 8 hat L. irgendjemanden aufgeschreckt.
Da hilft alles Bügeln nichts, Herr L.s Wohnung wird gestürmt

In Teil 9 fiel zum ersten Mal das Stichwort „Marinaden-Heinrich“.
Herr L. erinnert an eine staubalte Geschichte und muss mit Oleg Blochin aufs Dach

In Teil 10 ging es um leckeren Fisch und eine Frau voller Herzensggüte.
Diesmal steht L. ohne Unschuldsmiene, aber mit Tulpen im Flur

In Teil 11 tauchte die Frage auf: Bekommt es L. jetzt mit schweren Jungs aus Moskau zu tun?
Herr L. will eigentlich nicht nach London und irgendwer hat die Fischlein gemaust

In der 12. Geschichte badete Herr L. in Schweiß und gefährlichen Träumen.
Irgendjemand hat Herrn L. zum Fressen gern

In Teil 13 hat L. auf einmal eine Frage zu einer 20 Jahre toten Geschichte.
Den Löwen zum Fraß vorgeworfen …

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