Macht macht Menschen dumm. Und rücksichtslos. Sie weckt den Sadisten in uns. „Der Untertan“ liest sich auch nach 100 Seiten noch immer so modern, weil er zeigt, wie das funktioniert. Wie ein völlig unsicherer Mensch dazu kommt, sich das eiserne Korsett eines rabiaten Machtdenkens anzuziehen und so – erstaunlich schnell für den Leser – zu einem Menschen wird, der andere Menschen wie Lumpen behandelt. Und dabei fiebert man ja eigentlich mit. Denn ein verkorkstes Elternhaus haben ja viele Menschen. Aber nicht aus allen werden Menschenschinder.

Tut mir leid, dass ich jetzt etwas heftiger werde. Aber auf diesen nächsten Seiten erzählt Heinrich Mann von etwas, was ihn schon 1906 zutiefst erschreckt hat. Es war ja nicht nur so, dass ein ganzes Land, dem es – an damaligen Maßstäben gemessen – blendend ging, mit klirrenden Schwertern aufzurüsten und von imperialen Kriegen zu träumen begann. Zu so einem Säbelrasseln gehören Menschen, die mitmachen. Die schon frühzeitig selber das Lied vom „bedrohten Vaterland“ singen.

Wir haben ja hier schon die große, kenntnisreiche Biografie von Alfred Graf von Schlieffen besprochen, dem Mann, der als Generalstabsplaner die Grundzüge eines möglichen Zweifrontenkrieges, in den Deutschland hineingeraten könnte, zeichnete. Der Plan galt bis zum August 1914. Aber das war nicht das Entscheidende. Das Entscheidende war die Denkweise, die dahintersteckte, die einen Krieg mit den größten Mächten Europas geradezu für zwingend erklärte, was auch damit zu tun hat, dass das Deutsche Reich eben keine Demokratie war, bestenfalls eine amputierte.

Worauf im „Untertan“ nicht nur Wolfgang Buck zu sprechen kommt, sondern auch dessen Vater, der alte liberale Lokalpolitiker Buck, den Diederich schon als lockiger kleiner Junge bewundert hat und den er nun besucht, nachdem er Hals über Kopf aus Berlin geflohen ist. Natürlich vor Agnes und ihrem Vater Göppel. Göppel hat ihn ja auch in seiner zweiten Berliner Fluchtwohnung gefunden, wohin Diederich ausgebüchst war, nachdem ihm Agnes quasi zu Füßen lag.

Es ist jene Szene nach dem Besuch des jungen Buck, in der es Diederich tatsächlich fertigbringt, das Mädchen, das stundenlang in der Dunkelkammer gewartet hatte, bis der Besuch endlich weg war, regelrecht zu erniedrigen. Und diesmal behielt er seine Gedanken nicht im Kopf, sondern spuckte sie Agnes regelrecht ins Gesicht. Mit so einer könne sich einer wie er nicht einlassen.

Preußischer Standesdünkel trifft sich in seinem Kopf mit etwas, was für die Zeit noch neu ist: dem Kalkül eines gnadenlosen Unternehmers, der selbst Frauen daraufhin abschätzt, ob sie für sein Unternehmen und seine Karriere förderlich sind.

Standesdünkel + Nützlichkeitsdenken = Menschenverachtung. Schlimme Menschenverachtung. Wir haben Diederich ja schon ein paar Mal zugehört, wenn er seine Verachtung für Göppels und Agnes’ Menschenliebe aussprach. Den respektvollen Umgang der Göppels mit ihm verwechselt er mit Heimtücke. Als wollten sie ihn einfangen. Man merkt, wie der Prozess fortgeschritten ist: Man sieht den zutiefst verunsicherten Jungen Diederich nicht mehr. Er hat sich eine Rüstung zugelegt, die aus purem Misstrauen gegenüber Freundlichkeit und Liebe besteht.

„Zu Ihnen hab ich nämlich auch Vertrauen gehabt“, sagt Göppel.

Und was macht Diederich daraus? – „Das heißt: Sie hielten mich für naiv.“

Auf Gefühle lässt er sich gar nicht mehr ein. Gefühle zerstören Machthierarchien. Sie machen Menschen sensibel. Das aber will er nicht mehr sein. Lieber zeigt er dem beinah bettelnden Göppel all seine Verachtung und unterstellt ihm, dass er ihn mit Geld in eine Ehe mit Agnes locken wollte.

Wahrscheinlich merkt der alte Mann jetzt wirklich zum ersten Mal, dass er sich in Diederich getäuscht hat. Endlich, endlich nennt er ihn einen Schubjak.

Aber für Diederich ist das kein Gespräch mit einem mitleidenden Vater, der für seine Tochter kämpft, sondern eine Machtfrage. Und dann so ein Spruch, schlimmer als eine Ohrfeige: „Kein Mensch kann von mir verlangen, daß ich so eine zur Mutter meiner Kinder mache. Dafür hab ich zuviel soziales Gewissen.“

Er hat den Geist der neuen Zeit verinnerlicht. Oder besser: den Ungeist. Mit Leuten, die tatsächlich ein sozialeres Gewissen haben, wird er in Netzig noch zu tun bekommen. Aber er hat sich entschieden, zu den Machtmenschen zu gehören. „So muß man sein!“, sagte er hernach zu sich selbst. Und dann kommt ein Spruch, den man irgendwie jüngst erst wieder gehört hat. Diese Nützlichkeitsmenschen gibt es noch immer.

Sie sind der Kern einer Gesellschaft, in der alles allein dem Primat des Marktes unterworfen wird. Und genau aus dieser ölverschmierten Rücksichtslosigkeit stammt der Begriff „Gutmenschen“. In dem steckt die ganze Verachtung für alle Menschen, die nicht radikal nach Nutzen-Kriterien denken. „Umso schlimmer für die, die nicht so waren: sie kamen eben unter die Hufe.“

Nur in Diederichs eiliger Flucht aus Berlin erkennt man noch, dass ihn ein sehr, sehr schlechtes Gewissen plagen muss. Er steht nicht zu dem, was er gesagt hat.

Das ist der Moment, in dem er sich einen Bart à la Wilhelm II. barbieren lässt.

Und es ist der Moment, in dem er im Zug Guste Daimchen begegnet, die er noch aus Kleinkindertagen kennt. Und die ihn so schnodderig nimmt, wie es Agnes nie gewagt hätte. Und als er gar noch erfährt, dass Guste eine Million Mark geerbt hat, sieht man in seinem Kopf die Zählmaschine rattern.

Denn Diederich hat große Pläne, will die Papierfabrik des Vaters ausweiten, obwohl er das Geld dazu nicht hat, aber vor allem will er den konkurrierenden Papierfabrikanten im Ort vom Markt fegen. Denn das ist das, was oft so gern als Wettbewerb verklärt wird: Alles dafür tun, dass andere aus dem Markt gefegt werden. Diese Art Marktdenken kennt nur die komplette Vernichtung der Konkurrenz. Kommt Ihnen modern vor, nicht wahr?

Jetzt ist Diederich der Herr im Hause Heßling und will erst mal aufräumen. Und gleich den ersten Tag nutzt er dazu, die Belegschaft herunterzuputzen. Eine Stelle, die auch Tucholsky typisch und unausstehlich fand: „Leute! Da ihr meine Untergebenen seid, will ich euch nur sagen, daß hier künftig forsch gearbeitet wird. Ich bin gewillt, mal Zug in den Betrieb zu bringen.“

Und wer jetzt den einen oder anderen Macher in Nachwendezeiten vor Augen hat, der mal Zug in den für 1 Mark übernommenen Laden bringen wollte, der hat wohl recht. In der Regel sorgen solche Typen dafür, dass das Geschäft binnen kurzer Zeit in Scherben liegt, weil diese Feldwebeltypen es sich auch gleich noch mit Geschäftspartnern, Lieferanten, Abnehmern und Betriebsrat verderben.

Was bei Diederich daraus wird – abwarten. Denn auch wenn er es nicht wahrhaben will: Sein erster Tag ist eine Niederlage. Denn dass er ein miserables Theater spielt, merken die Arbeiter sofort. Sein Auftrumpfen als Herr kommt gar nicht gut an: „Einer ist hier der Herr, und das bin ich. Gott und meinem Gewissen allein schulde ich Rechenschaft.“

Man muss sich immer vergegenwärtigen: Das wurde vor 1914 geschrieben. Es ist der klirrend-falsche Ton seines Kaisers. Aber es ist auch der Ton, den später ein auftrumpfender Gefreiter anschlagen würde. Genau derselbe Ton. „Ich werde euch stets mein väterliches Wohlwollen entgegenbringen, Umsturzgelüste aber scheitern an meinem unbeugsamen Willen.“

1919 konnte Tucholsky sich bei diesem Ton noch an den nach Holland geflüchteten Kaiser erinnert fühlen. Ab 1933 dürfte jeder den kleinen, aufgeblasenen Hitler darin wiedererkannt haben, denn das ist Hitler-Vokabular. Das er auch nur geklaut hat. Politische Schauspielerei mit einem zum Gottgleichen aufgeblasenen Ego. Ein schnarrendes, augenblitzendes Ich, das immer dann zur großen Phrase greift, wenn es sich als großen Macher erscheinen lassen will: „Sollte sich ein Zusammenhang irgendeines von euch“, motzt Diederich seine Arbeiter an, „mit sozialdemokratischen Kreisen herausstellen, so zerschneide ich zwischen ihm und mir das Tischtuch.“

Da rollt man von ganz allein das „R“.

Und man ist erschrocken wie Sötbier, denn Diederich droht ja gerade an, die besten Leute einfach auf die Straße zu setzen. Also so einen richtigen Scherbenhaufen anzurichten und die kleine Fabrik im Handstreich in die Pleite zu führen.

Irgendwie erinnert er dabei auch an das Großmaul Donald Trump. Helf’ mir einer. „Er machte schroff kehrt und ging schnaufend davon. In dem Schwindelgefühl, das seine starken Worte ihm erregt hatten, erkannte er kein einziges Gesicht mehr. Die Seinen folgten ihm, bestürzt und ehrfurchtsvoll …“

Und dem Leser wird bange: Was wird dieser Bengel jetzt im verschlafenen Netzig eigentlich alles kaputtmachen, weil er die Lust an der Schikane entdeckt hat?

Das „Untertan-Projekt“.

1.000 Seiten über den Mann, der den „Schlieffen-Plan“ so 1914 garantiert nicht ausgeführt hätte

1.000 Seiten über den Mann, der den „Schlieffen-Plan“ so 1914 garantiert nicht ausgeführt hätte

 

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