Kirchenbauwerke gehören in Mitteldeutschland zu fast jedem Ort. Im Alltag sind sie bekannt als Wahrzeichen, Ortsmittelpunkt oder Orientierungsmarke, sie haben architektonisch, kunsthistorisch und regionalgeschichtlich vielfältige Bedeutung. Doch die Zukunft vieler Kirchen ist bedroht: Dutzende von ihnen haben ihre Funktion verloren, einige sind bereits spurlos aus dem Ortsbild verschwunden. Zeit zur Erinnerung an verschwundene Kirchen – und was mit ihnen unwiderruflich verloren gegangen ist.

Die Paulinerkirche – korrekt Universitätskirche St. Pauli genannt, volkstümlich „Unikirche“ – war eine evangelische Kirche in der Innenstadt von Leipzig am Augustusplatz.

Das 1240 geweihte Bauwerk war als Klosterkirche St. Pauli das Gotteshaus des dortigen Dominikanerklosters. Die Universitätskirche war im Zweiten Weltkrieg unbeschädigt geblieben. Sie wurde 1968 gesprengt – auf Betreiben der Universität Leipzig und nach Beschluss der SED-geführten Stadtverwaltung Leipzig.

Enge Bindung an Universitätsgeschichte

Nach Ansiedlung der Dominikaner innerhalb der Stadtmauern von Leipzig begann 1231 am Platz neben dem Grimmaischen Tor der Bau als Konventskirche, ihre Weihe war im Jahr 1240. Entsprechend der Architektur der Bettelorden im 13. Jahrhundert hatte die Klosterkirche einen einschiffigen Chor und ein dreischiffiges Langhaus.

Seit Gründung der Universität Leipzig 1409 ist die Geschichte der Paulinerkirche eng mit der Universität verbunden: Die Klosterkirche war jahrhundertelang begehrter Begräbnisort für Universitäts-Angehörige, auf sie gehen viele ihrer Epitaphien zurück. Mit der Reformation kam es 1539 zur Auflösung des Dominikanerkonvents. Das Kloster wurde säkularisiert und 1543 der Universität Leipzig übereignet.

Paulinerkirche Leipzig am Augustusplatz 1948. Foto: Deutsche Fotothek, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6535351
Paulinerkirche Leipzig am Augustusplatz 1948. Foto: Deutsche Fotothek, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6535351

Das Gotteshaus wurde zur evangelischen Kirche umgestaltet. 1545 weihte Martin Luther die Paulinerkirche als evangelische Universitätskirche. Der Kirchenraum diente seitdem jahrhundertelang sowohl als Gottesdienstraum als auch als Aula für Festakte der Universität.

Nach 1785 erfolgte die Schleifung der Stadtbefestigung – damit stand der ehemals der Stadtmauer zugekehrte Kirchengiebel in Richtung des späteren Augustusplatzes frei. 1813 während der Völkerschlacht diente das Gotteshaus als Gefangenenlager und Lazarett.

Zur Errichtung des Augusteums als neues Hauptgebäude der Universität Leipzig von 1831 bis 1836, das Albert Geutebrück gestaltet hatte, wurden die an die Kirche im Süden angrenzenden einstigen Klostergebäude abgerissen.

Die Schaufassade der Kirche zum Augustusplatz hin wurde 1836 der klassizistischen Fassade des Augusteums angepasst. Felix Mendelssohn-Bartholdy führte dort am 7. November 1836 Händels Oratorium „Israel in Ägypten“ auf. Um 1841 schuf Johann Gottlob Mende eine neue Hauptorgel.

Mit der Umgestaltung des Augusteums im Jahr 1897 im Stil der Neorenaissance von Arwed Roßbach erhielt auch die Kirche eine neogotische Schaufassade. Als Übergang der Kirche an ihrem Westgiebel zum neu erbauten Albertinum wurde ein campanileartiger Turm errichtet.

Rück-Ansicht 1951. Foto: Von Deutsche Fotothek, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7950250
Rück-Ansicht 1951. Foto: Von Deutsche Fotothek, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7950250

Dieses kontrastierend-harmonische Gebäude-Ensemble von Paulinerkirche und Augusteum bestimmte von 1836 bis zu seiner Zerstörung die Westseite des Augustusplatzes. Die Universitätskirche war ab 5. Mai 1946 wichtiges Gotteshaus für Protestanten und für Katholiken: Bis zur Sprengung 1968 fanden dort auch die Gottesdienste der katholischen Propsteigemeinde Leipzig statt.

Leipzig und die Utopie der sozialistischen Vorzeigestadt

Der Augustusplatz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Karl-Marx-Platz umbenannt – und die Universität 1953 in Karl-Marx-Universität. Die Stadtverwaltung Leipzig plante, den Universitätsbereich am historischen Augusteum zum politisch-kulturellen Zentrum umzugestalten, um so Leipzig nach ihren Vorstellungen als sozialistische Großstadt herauszustellen.

Mit Beginn der 1960er Jahre wurde der Abriss des alten Universitätsbereichs beschlossen. Jedoch verzögerte sich der Neubau der Universität von Jahr zu Jahr. Im Januar 1968 kam es zum Architektenwettbewerb. Der Neubaukomplex war ein Kompromiss-Entwurf aus Arbeiten eines Dresdner Büros und des Architekten Hermann Henselmann.

Im Mai 1968 bestätigte das Politbüro des ZK der SED unter Vorsitz von Walter Ulbricht den Bebauungsplan des Leipziger Karl-Marx-Platzes – einschließlich des Abrisses der Paulinerkirche. Der Senat der Universität stimmte dieser Umgestaltung am 16. Mai 1968 zu, Leipzigs Stadtverordnetenversammlung tat dies am 23. Mai 1968. Die einzige Gegenstimme im Universitäts-Senat war die von Ernst-Heinz Amberg, die einzige Gegenstimme in der Stadtverordnetenversammlung die von Hans-Georg Rausch.

Proteste gegen Beschluss der SED-Obrigkeit

An der Universität regte sich daraufhin Widerspruch, vor allem in der Theologischen Fakultät. Der Theologiestudent Nikolaus Krause wurde wegen „inneren Protestes“ gegen den Abriss zu 22 Monaten Haft verurteilt. Eine Gruppe von Studenten des Theologischen Seminars Leipzig protestierte am Tage der Sprengung und wurde zu Haftstrafen verurteilt.

Den Mitarbeitern des Instituts für Denkmalpflege wurde der Zugang zur Kirche untersagt. Doch Peter Findeisen, ein freier Mitarbeiter, war von dem Verbot nicht betroffen. Er organisierte in kürzester Zeit, dass Teile der Kirchen-Innenausstattung gerettet wurde.

Innerhalb einer Woche vor der Sprengung gelang es ihm und einer Gruppe Steinmetzen, viele sakrale, ideell bedeutsame Zeugnisse aus der Kirche zu retten: 80 Ausstattungsstücke – darunter mehrere Epitaphien, Grabplatten aus dem 15. Jahrhundert, Holzstatuen aus dem 14. Jahrhundert, ein Kruzifix und 18 liturgische Gerätschaften – blieben so erhalten. Der Flügelaltar wurde in der Thomaskirche Leipzig aufgestellt.

Die Jahn-/Eule-Orgel entkam dank der Initiative von Winfried Schrammek der Vernichtung – sie konnte jedoch wegen Zeitdrucks nicht sachgemäß demontiert werden.

Am Himmelfahrtstag, dem 23. Mai 1968, fand abends in der überfüllten Kirche die letzte Messe statt. Danach sperrte die Volkspolizei das Gebäude für die Öffentlichkeit.

Ein letztes Orgelkonzert und Grabräuberei

Am 25. Mai 1968 konnte der Küster Kurt Grahl noch einmal hinein, um Noten und Liturgiegegenstände zu bergen. Und was tat der Küster? Während der Sprengtrupp außen Löcher für die Sprengladungen in die Mauern der altehrwürdigen Kirche trieb, spielte Grahl letztmalig die Hauptorgel – bis er aus der Kirche vertrieben wurde. Die Hauptorgel mit dem Prospekt von Mende konnte nicht mehr ausgebaut werden und fiel der Sprengung zum Opfer.

In den Mai-Nächten 1968, als niemand mehr außer den offiziellen, die Sprengung vorbereitenden Leute in das Gotteshaus gelangen konnte, wurden die Bodenplatten in der Kirche herausgerissen und die dortigen etwa 800 Gräber der dreistöckigen Gruft unter der Kirche systematisch nach Gold, Schmuck aller Art und anderen Wertgegenständen durchsucht – und geplündert. Grabräuberei im staatlichen Auftrag …

Beispielloser Kulturfrevel

Der Zeitpunkt der Sprengung der Paulinerkirche ist auf die Minute genau überliefert: Donnerstag, 30. Mai 1968 um 09:58 Uhr. Jegliche Menschenansammlung um den Tatort war ebenso untersagt wie Fotografieren und Filmen. Einige mutige Bürger Leipzigs ignorierten mit List und Tarnung das letztgenannte Verbot – ihnen verdankt die Nachwelt Fotos und auch Schwarz-Weiß-Filmaufnahmen jenes in Sachsen beispiellosen Kulturfrevels.
In diesen Tag kam es immer wieder zu vereinzelten Protestbekundungen – sie führten zu mehreren Festnahmen und teils mehrjährigen Ermittlungen des DDR-Staatssicherheitsdienstes.

Drei Wochen später folgte weiterer Protest: Beim III. Internationalen Bachwettbewerb in Leipzig entrollte sich am 20. Juni 1968 ein großes, gelbes Plakat vor Konzertbeginn dem Publikum in der Kongresshalle Leipzig. Darauf zu sehen: Die Umrisszeichnung der Paulinerkirche, die Jahreszahl 1968 mit einem Kreuz dahinter und der Botschaft „Wir fordern Wiederaufbau“. Dieser Plakatprotest fand internationale Aufmerksamkeit.

Heftige Kontroversen nach 1989/90

Ein Zeitsprung von dreißig Jahren in das Jahr 1998, der selbsternannte „Arbeiter-und-Bauernstaat“ DDR und damit die SED-Diktatur hatten acht Jahre zuvor ausgespielt: Der Künstler Axel Guhlmann baute am nun wieder Augustusplatz genannten Tatort seine „Installation Paulinerkirche“ an die Fassade des nach der Sprengung errichteten DDR-Universitäts-Hauptgebäudes. Die 34 Meter hohe Stahlkonstruktion zeichnete zur Erinnerung an die Zerstörung der Paulinerkirche deren Kirchengiebel nach.

2007 begann – nach jahrelangen kontroversen Diskussionen um die Neugestaltung des Universitätsgeländes – der Neubau des Universitätscampus am Augustusplatz nach Plänen des Architekten Erick van Egeraat.

Bestandteil ist auch ein kirchenähnliches Gebäude, das Paulinum – Aula und Universitätskirche St. Pauli. Es steht nun an der Stelle der gesprengten Paulinerkirche und greift in seiner Architektur Elemente der Vorgänger-Kirche auf.

Am 1. Advent 2017 weihte Sachsens evangelischer Landesbischof Carsten Rentzing die neue Universitätskirche St. Pauli mit einem Festgottesdienst. Am 18. August 2018 gab es dort nach 50 Jahren Pause die erste kirchliche Trauung.

Die Jahn-/Eule-Orgel fand nach der Kirchensprengung im Gemeindesaal der Peterskirche ihr neues Zuhause. Orgelbauer Gerd-Christian Bochmann aus Kohren-Sahlis restaurierte sie später umfangreich. Seit 1995 ist sie eine Dauerleihgabe der Universität Leipzig an die Peterskirchgemeinde, wo sie als Begleitinstrument genutzt wird.
Die Sprengung der Paulinerkirche, sie ist bis heute am Tatort zu sehen.

Beim genauen Blick auf das Paulinum ist in der Kirchen-Silhouette eine gewisse Symmetrie-Störung zu erkennen: Die Fassade des Gotteshauses kippt optisch nach links – so wie die Paulinerkirche tatsächlich bei ihrer Sprengung am 30. Mai 1968 um 09:58 Uhr.

Koordinaten: 51° 20′ 20,1″ N, 12° 22′ 47,9″ O

Quellen und Weblinks
https://de.wikipedia.org/wiki/Paulinerkirche_(Leipzig)
http://www.paulinerkirche.org/
https://www.leipzig-lexikon.de/KIRCHEN/PAULINER.HTM

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