Eine Stadt braucht stille Orte. Orte, an denen man die Uhr im Kopf ausschalten kann und einfach herunterdimmt ins Schlendertempo. Davon hat Leipzig einige. Aber diese Orte sind meist versteckt. Man muss wissen, wo sie sind. Und wann sie öffnen. Denn größtenteils sind es Friedhöfe. So wie der Alte Johannisfriedhof. Oder vielmehr das, was davon noch zu erleben ist.

Denn Leipzig hat lange gebraucht, den Wert dieses ältesten städtischen Friedhofs zu begreifen. Weshalb es ein Friedhof mit Lücken und Fehlstellen ist.

Begründet wohl schon im 13. Jahrhundert als Friedhof der im Johannishospital gestorbenen Kranken. Und erst einmal nur für sie. Denn damals wurden die Bewohner der Stadt noch auf den Friedhöfen direkt an oder in ihren Kirchen beerdigt. Wovon gerade die jüngsten Funde an der Nikolaikirche erzählen, die im Rahmen von archäologischen Grabungen freigelegt wurden.

Auch der Nikolaikirchhof wurde bis 1536 als Begräbnisplatz genutzt, bevor Herzog Georg anwies, dass fortan nicht mehr in der Stadt beerdigt werden durfte, sondern nur noch auf dem Friedhof außerhalb der Stadt, der jetzt die einzige offizielle Begräbnisstätte war. Und das war der Johannisfriedhof, der seinen Namen nach der Johanniskirche bekam, die bis zum Zweiten Weltkrieg auf jenem Rasendreieck stand, das heute vor dem GRASSI-Museumskomplex liegt.

Die Kirche ist verschwunden. Einige Tafeln auf der Umfassungsmauer erinnern daran. Und sie erinnern auch daran, dass auch diese Rasenfläche einst zum (Alten) Johannisfriedhof gehörte. Hier waren auch Johann Sebastian Bach und Anna Magdalena Bach beerdigt, bevor Bachs Gebeine hier 1894 geborgen und erst in einer Gruft in der Johanniskirche aufbewahrt wurden, bevor sie letztlich in die Thomaskirche kamen.

Die einstige Abteilung I des Alten Johannisfriedhofs, wo einst auch die Johanniskirche stand. Foto: Ralf Julke
Die einstige Abteilung I des Alten Johannisfriedhofs, wo einst auch die Johanniskirche stand. Foto: Ralf Julke

Kaum noch vorstellbar, dass man hier einst den (Alten) Johannisfriedhof betrat, der im Lauf der Zeit immer weiter wuchs und zuletzt aus fünf Abteilungen bestand, die sich bis zum heutigen Gutenbergplatz erstreckten. Die Gutenbergschule steht heute auf dem Gelände dieser fünften Abteilung. Aber auch die zweite Abteilung ist im Grunde verschwunden, weil auf ihr 1925 bis 1928 der Komplex des (Neuen) GRASSI-Museums entstand.

Ein stiller Ort mitten in der Stadt

Und damit hörte die Vernachlässigung dieses Friedhofs nicht auf, auf dem Heiligabend 1883 die letzte Beerdigung stattfand. So recht wollte in Leipzig das Bewusstsein nicht gedeihen, dass so ein Begräbnisplatz auch historische Bedeutung hat, weil hier zahlreiche Leipzigerinnen und Leipziger beerdigt wurden, die für die Stadt und darüber hinaus Bedeutung hatten – von Adam Friedrich Oeser über Timotheus Ritzsch bis zu Wilhelmine von Zenge, der Verlobten von Heinrich von Kleist, und einer gewissen Anna Katharina Kanne, welche die Literaturgeschichte als Käthchen Schönkopf kennt.

Grab Charlotte von Zenges, der einstigen Verlobten von Heinrich von Kleist. Foto: Ralf Julke
Grab Charlotte von Zenges, der einstigen Verlobten von Heinrich von Kleist. Foto: Ralf Julke

Wer hier wandelt – und man verlangsamt ganz automatisch den Schritt, egal durch welche Pforte man den alten Friedhof betritt – läuft durch Leipziger Geschichte. Er sieht aber auch, dass mit dieser Geschichte Jahrzehnte lang nicht pfleglich umgegangen wurde. Und es waren nicht nur die hier lagernden Soldaten der Völkerschlacht, die hier Schäden verursachten.

Es waren ebenso späterer Vandalismus und lange Zeit auch Gleichgültigkeit. Vielleicht fehlten auch – anders als in anderen alten Städten, die ihren „campo santo“ hegten und pflegten – der nötige Enthusiasmus und das nötige Geld. 1981 musste der Friedhof wegen fortschreitenden Verfalls für die Öffentlichkeit geschlossen werden.

Wirklich ernsthaft an den Erhalt der noch verbliebenen Grabmäler ging die Stadt erst vor 30 Jahren. Heute sind auf dem verbliebenen Friedhof noch rund 400 Grabmäler zu sehen, außerdem 58 von einstmals 120 Grabsteinen in einem als Lapidarium eingerichteten Teil: Diese stammen alle vom Neuen Johannisfriedhof, der im 19. Jahrhundert den Alten Johannisfriedhof ablöste und vor der Eröffnung des Südfriedhofs zum Begräbnisort der berühmten und nicht so berühmten Leipziger wurde.

Ein paar Tafeln helfen beim Spaziergang, die noch auffindbaren Grabstellen der hier Beerdigten zu lokalisieren. Und wenn man das Gefühl hat, dass dieser Friedhof für eine Stadt wie Leipzig eigentlich viel zu klein ist, dann täuscht das Gefühl nicht. Auch bei der Verbreiterung von Prager Straße und Täubchenweg wurden Teile des Friedhofs abgeschnitten.

Nicht jeder Grabstein steht dort, wo einst das Grab lag. Doch es ist ein erstaunlich stiller Ort, fast im Herzen der heutigen Stadt, ein Ort, an den man gehen kann, wenn man mit seinen Gedanken einmal allein sein möchte.

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