Im vergangenen Jahr hat sich das öffentliche Leben stark verändert. Die Pandemie hat den bekannten Alltag auf den Kopf und auf die Probe gestellt. Sie hat aber auch Dinge sichtbar gemacht, die man davor für selbstverständlich gehalten hatte. Infrastrukturen sind eines davon: wenn sie funktionieren, gestalten sie unser Leben aus dem Hintergrund mit, wir nehmen sie kaum bewusst wahr. Erst wenn sie versagen, wird ihre Omnipräsenz deutlich. Auch in der Kunst sind solche Mechanismen und Organisationsstrukturen vorhanden und werden in der aktuellen Ausstellung „Broken relations – Infrastruktur und Unterbrechung“ in der Galerie der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) thematisiert.

„Infrastrukturen sind ein komplexes Netzwerk. Ein wichtiges Moment für uns war, zu fragen: Wie können wir diese Netzwerke sichtbar machen?“, erklärt Ilse Lafer, Leiterin der Galerie der HGB. „Unterbrechung ist so ein Moment.“

Dies ist die zweite Episode der Ausstellung, die bereits im Januar ihre Anfänge nahm. Zu Beginn wurde von Theoretiker/-innen, Künstler/-innen und Kurator/-innen versucht, den Begriff der Infrastruktur auf die Kunst hin zu adressieren. Die Form der Ausstellung ist ebenso komplex wie ihr Thema und umfasst drei Elemente: Environment, Building Relations und Inserts.

Das „Environment“ bildet die Umgebung und setzt sich aus vier künstlerischen Arbeiten von Martin Beck, Thomas Locher, Tanja Widmann und Anna Witt zusammen. Hierzu zählen unter anderem ein Vorhang, ein Farn und mehrere Stühle, aber auch eine Geräuschkulisse: Bei meinem Besuch werde ich von Grillenzirpen durch die weißen Räume begleitet.

Ausgehend davon setzen Studierende mit ihren eigenen Arbeiten weitere Schwerpunkte, treten in eine Beziehung mit dieser Umgebung und verändern sie. „Studierende haben die Möglichkeit zu sagen, mit diesem Werk konnte ich keine Beziehung herstellen, also kann es den Ausstellungsraum temporär verlassen. Ein anderer holt es wieder rein“, beschreibt Ilse Lafer den Prozess. Die

Inserts fügen der Ausstellung weiteres Material hinzu wie beispielsweise Workshops und Vorträge, aber auch Kollaborationen mit dem Artspace Ideal (Leipzig), dem Kulturort M1 Hohenlockstedt und der Akademie für bildende Künste Wien.

Eine thematisierte Infrastruktur ist die Zeit – als das Regime schlechthin, da sie unserem Leben im Allgemeinen, aber auch den anderen Infrastrukturen vorliegt. Verschiedene Arten von Zeit und Zeitlichkeit werden von Werken verhandelt, durchziehen aber auch die Ausstellung durch ihre ständige Veränderung selbst.

Dies wird mir auch selbst bei einem Gang durch die Ausstellung klar: „Sie kommen immer schon zu spät“, wird mir erklärt. An der Wand sehe ich die gesammelten Labels der Werke, die ich bereits verpasst habe. Eine der neueren Veränderungen in der Ausstellung ist die Arbeit von Christian Kölbl „O2 can do“, bestehend aus aufblasbaren Plastikhaie, die – weiß angestrichen – einen skulpturalen Anschein machen. Jedoch wurde die Luft wieder entlassen, auch blättert die Farbe stark ab, sodass sie etwas kläglich wirken – und damit ein ruinöses Verhältnis darstellen. Was aber hat ein Plastikhai nun mit Infrastruktur zu tun?

„Der nächste, wichtige Schritt bei der Infrastruktur wäre die Frage, wer sie repräsentiert und wer die Macht darüber hat“, beschreibt Ilse Lafer bereits zu Beginn. Die Haie repräsentieren also einen Moment der Macht, der gebrochen wurde – die Verbindung zu einem Immobilienhai mag einem dazu einfallen, insbesondere in Kombination zu der in der Nähe installierten Arbeit von Johanna Eckhardt und Tobias Fabek, welche eine Revolte gegen die Gentrifizierung des Stadtteils Connewitz thematisiert.

Die Studierenden gehen also mit der Umgebung um, setzen die Werke zueinander in Beziehung oder verändern deren ursprüngliche Bedeutung, fügen etwas hinzu oder nehmen etwas weg. Es ist unmöglich, alle Werke in ihrer Gänze zu beschreiben oder nur zu sehen.

Selbst die vorhandenen Werke sind nicht mehr im selben Zustand wie zu Beginn der Ausstellung: Ich sehe es anhand einer Installation mit ausgetrocknetem, brüchigem Ton. Um ihn nass und formbar zu erhalten, müsste ständig etwas hinzugefügt werden. Eine Erinnerung an die meist unsichtbare, aber permanente Wartungsarbeit, die Infrastrukturen brauchen, um ihre Funktionalität aufrechtzuerhalten.

Die Einflüsse der Pandemie sind auch bei Fragen über die Rolle von sozialen Begegnungen für den Kunstprozess spürbar. Wie so viele wurden auch die Kunstschaffenden nicht von digitalen Ersatzmodellen verschont und hinterfragen diese in Bezug auf ihre eigene Arbeit.

„Wie ist die Abhängigkeit des virtuellem vom physischen Raum? Braucht es den physischen Raum überhaupt?“, fragt Ilse Lafer. Sie zeigt mir die Instagram-Seite der HGB-Galerie, auf der die Ausstellung dokumentiert wurde. Hier sind die vergangenen Werke festgehalten, die den physischen Raum bereits verlassen haben.

Ich verlasse die Ausstellung nachdenklich und fasziniert. Die unterbrochenen Infrastrukturen sind in den Kunstwerken deutlich spürbar und zeigen die verborgenen Hintergründe unseres alltäglichen Lebens. Gleichzeitig ist die Ausstellung unglaublich komplex und vielfältig, eine Momentaufnahme aus der ständigen Bewegung, in der sich das Leben befindet. Die Ausstellung bleibt in dieser Form bis zum 29. Juni geöffnet, doch für die Zukunft sind weitere Formate geplant, unter anderem eine Publikation.

„Broken relations – Infrastruktur und Unterbrechung. Kunst unter pandemischen Bedingungen“
Ein zeitbasiertes Ausstellungsprojekt für situative Ereignisse
HGB Galerie
6. Mai bis 29. Juni 2021, 15-19 Uhr
Finissage und Führung durch die Ausstellung: Donnerstag, 24. Juni, 18:00 (mit tagesaktuellem Test oder Impfnachweis)

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