Das deutsche Kaiserreich eignete sich von 1884 bis zum Ersten Weltkrieg sogenannte Schutzgebiete, in der Praxis Kolonien, an. Diese erstreckten sich von Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika über das chinesische Kiautschou bis hin zu Neuguinea und Samoa in der Südsee. Die Spuren dieser kolonialen Geschichte finden sich auch in Leipzig – von den Beständen im GRASSI Museum für Völkerkunde bis hin zu Straßen, die nach Akteuren der Kolonialzeit benannt sind. Daher lud das Kulturdezernat am 30. September zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion in der Aula der Volkshochschule ein.

Als Gäste waren die Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke, die Afrikanistik-Professorin Rose Marie Beck, der Projektleiter des Zukunftsprogrammes „ReInventing Grassi 2023“ Kevin Breß sowie Zoodirektor Jörg Junhold und Vorsitzender des Migrant/-innenbeirates Mohamed Okasha geladen. Im Zentrum der Veranstaltung sollten unterschiedliche Perspektiven auf historische Aufarbeitung von Stadtgeschichte, städtische Erinnerungskultur und Erwartungen an eine vielfältige städtische Kultur, die der Diversität ihrer Einwohner/-innen gerecht zu werden vermag, stehen. Doch schnell fokussierte sich die Debatte auf die koloniale Vergangenheit des Zoos und die fragwürdige Zusammenstellung des Podiums.

„Den Nationalsozialismus schreiben wir ja auch nicht dem damaligen Zeitgeist zu“

Zu Beginn stellten erst einmal alle Anwesenden in den Vordergrund, wie wichtig ihnen die Debatte um koloniale Geschichte und Postkolonialismus sei. Oft würde die deutsche Kolonialzeit relativiert werden, so die wichtigste Botschaft aus Breß’ Anfangsstatement. Dabei würde vom damaligen Zeitgeist gesprochen werden. Als ob die Leute in ihrer Zeit verhaftet gewesen wären, ohne zu wissen, was sie taten, als sie das drittgrößte Kolonialreich gründeten und einen Völkermord an den Herero-Nama begingen.

Professorin Beck kommentierte: „Den Nationalsozialismus und die Verbrechen, die damit einhergingen, schreiben wir ja auch nicht dem damaligen Zeitgeist zu und akzeptieren das einfach.“ Die jetzigen Generationen seien zwar nicht Schuld an der Geschichte, sie trügen aber trotzdem eine Verantwortung.

So sah es auch Skadi Jennicke, die in diesem Zusammenhang für eine respektvolle Diskussionskultur warb: „Ich möchte vor allen Dingen, dass wir die Debatten um Postkolonialismus produktiv führen, dass wir mit Erkenntnissen daraus gehen“, so die Leipziger Kulturbürgermeisterin. „Es nützt nichts anzuklagen. Ich wünsche mir einen Modus des gegenseitigen Verstehenwollens und Respekts.“

Dass sie als Aufsichtsratsvorsitzende des Zoos damit auch auf die emotionale Debatte um den Leipziger Zoo anspielte, liegt nahe.

Bisherige Kritik am Leipziger Zoo

Zur Erinnerung: Nachdem der Antrag „Leipziger Kolonialgeschichte in die Erinnerungskultur aufnehmen“ im November 2020 von der Stadt beschlossen wurde, wiesen sowohl das Jugendparlament als auch der Migrant/-innenbeirat auf die besondere Bedeutung des Zoos hin.

Vor allem die sogenannten „Völkerschauen“, die zwischen 1876 und 1931 im Leipziger Zoo stattfanden, stehen für eine koloniale Vergangenheit, die dringender Aufarbeitung bedarf. Bei diesen „Menschenzoos“ wurden nicht-weiße Menschen zur Schau gestellt – teilweise in eigenen „Gehegen“ neben den Zootieren.

Kritiker/-innen werfen dem Zoo heute vor, durch Abendveranstaltungen wie den „Hakuna Matata Abend“ oder das Afrika-Dinner rassistische Stereotype zu reproduzieren. Die Diversität afrikanischer Kultur, ein Kontinent mit 54 Ländern, wird auf einige wenige Klischeebilder reduziert, so der Migrantenbeirat. „Das Unternehmen Mövenpick-Marché betreibt die Kiwara-Lodge und kocht dort etwas „Afrikanisches“ zusammen, eine weiße Kabarettistin macht ein Bühnenprogramm. Das ist Erlebnisgastronomie, kein interkultureller Abend.“

Interkulturelle Abende an sich stelle man nicht infrage. „Diese können aber nicht in Zoos stattfinden. Dafür gibt es verschiedene Kulturräume, Gewandhäuser und Bibliotheken.“

Einige gebuchte Künstler/-innen, so die Copacabana Sambashow aus Berlin, stellten sich gegen die Ansichten des Migrant/-innenbeirates und warben für Respekt vor den Traditionen als Kunstform: „Wir sind keine naiven Schaustücke in den Händen eines diskriminierenden Auftraggebers!“

Und auch der Historiker Mustafa Haikal, der eng mit dem Zoo zusammenarbeitet, kritisiert die Schrift des Migrant/-innenbeirates: „Jeder, der sich für den Natur- und Artenschutz engagiert, weiß, dass dies ohne die Berücksichtigung der Interessen der vor Ort lebenden Bevölkerung nicht geht, ganz gleich, ob in Europa oder in Afrika.“

Daraufhin antworteten die Vertreter/-innen des Migrant/-innenbeirates, dass der Bildungsauftrag des Zoos vor allem im Bereich der Tierwelt und des Artenschutzes liegt und „in keinem asiatischen und afrikanischen Land deutsche oder englische Volkstänze in den dortigen Zoos aufgeführt“ werden, um Debatten über das Mensch-Natur-Verhältnis anzustoßen.

Geleakte Gutachten und keine kritische Aufarbeitung

Und so konzentrierte sich die Podiumsdiskussion am 30. September auch recht schnell auf den Antrag des Migrant/-innenbeirates. Zoodirektor Jörg Junhold sah die dadurch angestoßene Debatte mit gemischten Gefühlen: „Zweifelsohne ist das eine sehr wichtige Debatte und wir müssen uns als Stadt der Verantwortung stellen und uns dabei auch selbst hinterfragen. Aber mich hat trotzdem überrascht, mit welcher Heftigkeit und emotional aufgeladenen Stimmung wir als Zoo quasi über Nacht da reingerutscht sind.”

Und dabei habe man sich als Zoo schon eingehend mit der eigenen Geschichte beschäftigt, so Junhold. Dabei verwies er auf eine 2003 in Zusammenarbeit mit Mustafa Haikal erschienene Publikation mit dem Namen „Auf der Spur des Löwen. 125 Jahre Zoo Leipzig” und ein 2020 veröffentlichtes Gutachten zu den „Völkerschauen”.

Mohamed Okasha, der Vorsitzende des neuen Migrant/-innenbeirates, der hinter dem Antrag des vorherigen Beirates steht, versuchte daraufhin etwas klarzustellen: „Niemand im Migrant/-innenbeirat behauptet, dass der Zoo oder Sie, Herr Junhold, Rassismus reproduzieren möchten, dass die Absicht da ist.”

Sonst würde man ja erst gar nicht mit ihm reden. Nicht jeder, der etwas Rassistisches sagt, ist Rassist. Trotzdem müsse man sich mit den Vorwürfen auseinandersetzen.

Etwas weniger versöhnlich dann der Kommentar einer Zuschauerin. Sie erklärte, dass im Band von 2003 nur sechs der knapp 250 Seiten den menschenverachtenden Praktiken während der Kolonialzeit gewidmet sind. Und davon seien nur eineinhalb Seiten Text: „Das ist keine kritische Aufarbeitung!”

Das Gutachten von 2020 sei wiederum gar nicht für die Öffentlichkeit gedacht gewesen. Nur weil es geleakt wurde, habe man es zwangsläufig veröffentlicht: „Sich das jetzt auf die Fahne zu schreiben, verstehe ich nicht.” Außerdem sei das Zooarchiv nie für eine kritische Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.

„Eine Safari, wie sie heute stattfindet”

Eine Safari-Darstellung im Zoo Leipzig. Foto: LZ

GRASSI-Projektleiter Breß fügte hinzu, dass neben der lückenhaften Aufarbeitung und dem misslungenen Wording der interkulturellen Abende auch einige Darstellungen im Zoo kritisch zu betrachten sind. So soll es ein Diorama mit der Replik einer afrikanischen Hütte in einem ehemaligen Raubtierkäfig geben: „Das ist doch mindestens ungünstig oder?”

Das Stichwort für Okasha, der daraufhin ein Foto herumreichte, auf dem die Zoo-eigene Kindereisenbahn „Safari-Train” zu sehen ist. Auf der Außenseite ein Bild: ein weißer Mann mit moderner Kameraausrüstung und zwei People of Colour in traditioneller Tracht. Eine Frau hatte das Foto am 19. Mai 2019 an den Zoo geschickt und gefragt, was das Bild ihren beiden schwarzen Kindern vermitteln soll.

Für den größten, nett formuliert „Fauxpas” des Abends sorgte Junhold daraufhin selbst. Er könne die Kritik nicht verstehen: „Das ist die Darstellung einer Safari, wie sie heute stattfindet.” Professorin Beck zeigte sich bestürzt und argumentierte, dass Safaris heutzutage ganz sicher nicht so stattfinden würden und das einfach nur eine „herabwürdigende Zeichnung” sei.

Die Wut verstehen

Außerdem, so Beck, habe weder sie noch Herr Junhold zu definieren, was rassistisch ist und was nicht. Nur die Betroffenen könnten dies und das müsse man akzeptieren. Skadi Jennicke pflichtete ihr bei, stellte aber auch noch einmal klar, dass Pauschalvorwürfe, so auch die gegenüber dem Zoo, nichts bringen.

Man habe bereits ein einstündiges Gespräch mit dem Migrant/-innenbeirat geführt, um einen Diskurs aufzubauen und damit auch die Sicht der Betroffenen einzubeziehen: „Wir haben versucht einander zu verstehen, aber das war nicht einfach.” Emotional aufgeladen und von Schuldzuweisungen geprägt sei die Debatte gewesen. Trotzdem und gerade deshalb brauche es noch mehr solcher Gespräche, so Jennicke.

Eine weitere Zuschauerin kommentierte daraufhin, dass zum Perspektivwechsel auch gehöre, „dass man anerkennt, dass Migrantenorganisationen diese Dinge schon seit Jahrzehnten fordern und lange nichts passiert ist. Und damit auch die Wut zu verstehen, wenn dann nur eine Stunde für so ein wichtiges Gespräch bereitgestellt wird. Klar führt diese Wut nicht unbedingt zu einem Ergebnis, aber sie ist auch Teil des Prozesses und der verletzten Gesellschaft. Zu fordern, dass man als betroffene Person immer ganz cool bleibt und pragmatisch, ist schon sehr anmaßend. Ich möchte da für Verständnis werben.”

Podiumsdiskussion ohne Betroffene?

Auch Okasha stellte noch einmal die Wichtigkeit des Perspektivwechsels in den Vordergrund und kritisiert in diesem Zusammenhang die Zusammensetzung des Podiums. Er sei die einzige Person mit Migrationshintergrund, aber für eine ertragreiche Debatte zu postkolonialen Strukturen und Verletzungen müsse man doch noch viel mehr Betroffene zu Wort kommen lassen.

Außerdem sei der einzige aktivistische Ansprechpartner für Stadt und Zoo bisher die „AG Postkolonial” gewesen, so eine weitere Zuschauerin. Sie ist Teil der AG und verwies darauf, dass darin nur weiße Menschen vertreten seien. Eine Zusammenarbeit mit Initiativen wie „Schwarze Menschen in Deutschland” sollte angestrebt werden.

Und so verließen Podiumsgäste und Zuschauer/-innen sichtlich mitgenommen erst einmal die Aula. Weitgehend ungeklärt, aber im Gespräch. Oder wie Skadi Jennicke resümierte: Es braucht noch viel mehr solcher Diskussionen. Und viel mehr Sensibilisierung.

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Es gibt 2 Kommentare

Für so eine Art “interkulturelle Sensibilisierung” (ich erfinde dieses Wort einfach mal) wäre es sehr hilfreich, wenn im Arbeitsleben auf “Interkulturalität” auch bei “besseren” Berufen als nur Paketfahrer hingewirkt würde. Mir scheint aber, dass nach wie vor die urleipziger Personalchefs diejenigen Bewerber aussortieren, wenn sie den Namen nicht gleich aussprechen können.

Die Konzernzentralen leben diese Vielfalt schon lange, es nimmt überhaupt nicht wunder, dass keine in das “weiße” Leipzig kommen wollte.

Leipzig ist hier definitiv nicht das bessere Berlin.

Da habe ich aus eigenem Erleben mal einen Tipp: In den USA einen Freizeitpark besuchen (gibt es dort wie Sand am Meer) und dort nach einem “deutschem” Erlebnisrestaurant suchen.

Was wird der Sachse dort finden? Natürlich: ein Oktoberfestzelt, blauweiß, Frakturschrift und (steinharte) “Pretzels”. Da sieht der nichtbayrische Germane mal selbst, wie sich so eine kulturelle Reduktion auf einfache Klischees anfühlt. Wir hatten uns (u.a. mit echt bayrischen Verwandten) da bei aller Spaßigkeit leicht unwohl gefühlt – das hatten wir so gar nicht erwartet.

Mir sind diese “afrikanischen” Anmutungen in Leipzig auch schon längst peinlich. Der Zoo meint das ja ernst und ohne Ironie.

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