Auf der Tafel „Ehrenbürger und Ehrenbürgerinnen von Leipzig“ im Neuen Rathaus stehen 83 Männer, null Frauen und keine queeren Personen. Mandy Gehrt hat darum zum Klebeband gegriffen und das „innen“ überklebt. Künftig soll der Zusatz dort aber zu Recht stehen, fordert Gehrt. Die Stadträtin der Linksfraktion hat einen Antrag gestellt, durch den die Stadt Leipzig nach 190 Jahren männlicher Geschichtsschreibung Gleichstand herstellen soll.

Was hat man davon, Ehrenbürger/-in der Stadt Leipzig zu sein?

Das ist die höchste zu verleihende Würde in Leipzig. Es gibt noch eine Ehrennadel und eine Ehrenmedaille –und eben das Ehrenbürgerrecht. Das wird einer Person zu Lebzeiten verliehen. Es gibt einen öffentlichen würdigen Festakt, aber in erster Linie ist es eine Ehrung, die die Zeit überdauert. Ich finde, das ist etwas Erstrebenswertes. Schließlich geht es darum, dass man sich für das Gemeinwohl eingesetzt und etwas für die Bürger/-innen und die Entwicklung der Stadt geleistet hat. Als Ehrenbürger ist man für lange Zeit sichtbar in der Stadt. Ich sage jetzt „Bürger“, denn ich muss nicht gendern, es gibt ja nur Männer.

Wann ist Ihnen aufgefallen, dass nur Männer Ehrenbürger sind?

Das war lange gar kein Thema. Erst, als jetzt mit Herrn Magirius nach langer Zeit wieder ein Ehrenbürger ernannt wurde, habe ich mir die Tafel in der Wandelhalle im Rathaus angesehen, auf der steht „Ehrenbürger und Ehrenbürgerinnen der Stadt Leipzig“. Da habe ich gesehen, dass man sich das „innen“ hätte sparen können. Seit 1832 wurde keiner einzigen Frau diese Würde verliehen. Ich finde, dass das für eine Stadt wie Leipzig ganz schön peinlich ist.

Warum ist das peinlich?

Ab 1918 durften Frauen Politik machen, durften wählen und sich aufstellen lassen. Trotzdem hat es nie eine Frau geschafft, diese hohe Würdigung zu bekommen. Das ist doch ein schlimmes Zeichen für die Stadtgesellschaft. Das Peinliche ist ja auch, dass das weitergetragen wird. Im 21. Jahrhundert kann man sich nicht mehr darauf berufen, dass Männer früher aktiver waren und darum auch Männer das Ehrenbürgerrecht bekommen haben.

Was ist denn das für ein Zeichen an Kinder und Jugendliche, an Mädchen und an Frauen und FLINTA* Personen, dass wir keine würdigen? Wir wollen doch Gleichstellung vorleben. Das müssen wir dann auch in allen Bereichen machen. [Anmerkung der Redaktion: Die Abkürzung „FLINTA*“ steht für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen]

Sie haben beantragt, die Satzung der Stadt über die Verleihung des Ehrenbürger/-innenrechts zu ändern. Wie genau?

Im ersten Punkt geht es darum, dass die Ehrenbürgerwürde auch posthum an Frauen verliehen werden kann. Bisher sieht die Satzung vor, das Ehrenbürger/-innenrecht nur zu Lebzeiten zu verleihen. Sie beruft sich allerdings auf einen Erlass der sächsischen Gemeindeordnung. In der steht nichts davon drin, dass die Ehrung zu Lebzeiten stattfinden muss. Der Rat könnte die Satzung also einfach ändern.

Und wie wird dann entschieden, wer posthum geehrt wird?

Im Antrag fordere ich, dass man ein Gremium einrichtet, das auswählt, welche Frauen gewürdigt werden. Ich finde, dass es wichtig wäre, die Würdigung mindestens paritätisch nachzuholen. Die Stadt Leipzig, also wir, können doch unsere Geschichte selbst schreiben – und Frauen mit reinschreiben. Das Referat für Gleichstellung von Frau und Mann hat eine Liste von 200 Frauen veröffentlicht, die wichtig für die Stadt waren. Die fängt schon im 15. Jahrhundert an und darauf sind ganz viele Frauen, die die Ehrenbürgerinnenwürde verdienen würden.

Sie fordern auch, dass die Stadt sich aktiv bemüht, FLINTA* die Ehrenbürger/-innenwürde zu verleihen. Wie soll das ablaufen?

Ehrenbürger/-innen können von den Fraktionen und aus der Zivilgesellschaft vorgeschlagen werden. Ich fände eine Kampagne gut, durch die aus der Stadtgesellschaft mehr FLINTA* Personen vorgeschlagen werden. Der Vorschlag geht dann in den Ältestenrat und in den Stadtrat, der darüber entscheidet. Aber im Stadtrat sitzen ja auch nur 30 Prozent Frauen. Wir können froh sein, dass es nicht null Prozent sind, wie bei den Ehrenbürger/-innen. Aber wenn so viele Männer in einem Gremium sind, das über die Ehrenbürger/-innenwürde entscheidet, ist das ein Schiefstand.

Ist deshalb bisher auch kein Vorschlag für eine Ehrenbürgerin in den Stadtrat gelangt?

Es ist nicht so, dass es für die Ehrenbürger/-innenwürde keine Vorschläge gegeben hätte. Letztendlich hat es aber keine Frau geschafft. Da schreibt sich eine Geschichte und Tradition fort: Auch wenn Frauen mit dabei sind, wird am Ende ein Mann gewählt. Wie wollen Sie das ändern? Wir könnten uns das als Stadträt/-innen natürlich als freiwillige Aufgabe mitnehmen, dass wir entweder eine FLINTA* Person ernennen oder wir, wenn ein Mann gewählt wird, immer auch eine FLINTA* Person wählen. Das habe ich aber nicht in den Antrag geschrieben. Ich denke, es wird schon schwierig sein, durchzusetzen, die Ehrenbürger/-innenwürde posthum zu verleihen.

Was sind Ihre Argumente dafür, die Ehrenbürger/-innenwürde nach Lebzeiten zu verleihen?

Der Titel der 100. Ausgabe der LZ, seit 1. April 2022 im Handel. Foto: LZ

Warum sollten wir es nicht machen? Die Argumente dagegen, die an mich herangetragen werden, finde ich fadenscheinig. Posthum haben die Frauen persönlich nichts mehr davon – das stimmt. Aber wir als Stadt haben etwas davon. Wir könnten vorangehen und zeigen, dass wir die Lebensleistung von FLINTA* Personen würdigen. Das ist eine wichtige Aussage an die Stadtgesellschaft.

Wir schreiben damit auch nicht die Geschichte um, sondern holen vielmehr nach, was Männer in der Vergangenheit verpasst haben. Meinetwegen könnte man auch kennzeichnen, dass die Frauen posthum die Ehrenbürger/-innenwürde erhalten haben. Da gibt es tausende Möglichkeiten. Ich denke, der Gewinn für die Stadtgesellschaft an dieser Stelle wäre ein großer und wichtiger.

Was ist so bedeutsam an dieser Ehrung?

Wir als Stadt Leipzig setzen ein Zeichen und sagen: Uns ist das wichtig. Wir wollen aktiv für Gleichstellung eintreten. Es werden Themen hervorgehoben, die die Personen mit der Ehrung oder mit der Stadt Leipzig verbinden. Bestimmte Ehrungen finden immer wieder statt, zum Beispiel zu Jubiläen oder in Themenjahren. Meistens sind es aber die Jubiläen von Männern. Letztes Jahr hatten wir das Themenjahr der sozialen Bewegungen.

Da musste ich als Stadträtin extra beantragen, dass die Frauenbewegung als Schwerpunktthema aufgenommen und dafür Geld bereitgestellt wird. Dieses Jahr ist das Thema „Freiraum für Bildung“ und Henriette Goldschmidt wurde nur im Begründungstext der Stadtratsvorlage erwähnt, aber nicht mit einer konkreten Maßnahme und Finanzmitteln untersetzt. Wir Stadträtinnen müssen immer wieder aktiv dafür eintreten, dass die Stadt auch Frauen ehrt. Deswegen sage ich auch: Ich bin nicht als Feministin in den Stadtrat gegangen, aber ich bin im Stadtrat zur Feministin geworden.

Haben Sie Ideen, um die geehrten Personen sichtbarer zu machen?

Ich könnte mirvorstellen, dass die Stadt die Bürger/-innen mit einer Kampagne ganz offensiv auffordert, Vorschläge für die Vergabe Ehrenbürger/-innenwürde zu machen. Zur Verleihung könnte es einen sehr öffentlichen Festakt geben. Wenn historische, weiblich gelesene Persönlichkeiten geehrt werden, kann das auch öffentlichkeitswirksam geschehen. Das Referat für Gleichstellung hat mit den Frauenporträts schon angefangen: Erst sollten es hundert Personen sein.

Jedes Jahr wurden mehr Personen ergänzt und mittlerweile sind 200 Frauen auf dieser Liste. Und natürlich könnte man das Thema in Bildungsformaten mit verbreiten, an Schulen oder im Bereich der Demokratieförderung. Außerdem gibt es ein Projekt namens „Eine neue Bewegung: Re*mapping Leipzig“. Das ist eine App, mit der man an Orte der Frauenbewegung gehen kann. Dazu gibt es dann nicht nur Text oder Porträts, sondern künstlerische Aktionen. Meine Aktion, das „innen“ auf der Tafel der Ehrenbürger und Ehrenbürgerinnen abzukleben, ist Teil davon.

Sie sprechen manchmal von Frauen, manchmal von FLINTA* Personen, die geehrt werden sollen. Warum?

Ich finde es schwierig, FLINTA* zu sagen, wenn wir über die Vergangenheit reden. Die meisten haben sich wahrscheinlich als Frau identifiziert, aber das kann ich nicht hundertprozentig sagen. Darum sage ich, dass es mir wichtig ist, weiblich gelesene historische Personen zu ehren. Für die Zukunft würde ich mir wünschen, das noch mehr zu öffnen und FLINTA* Personen zu ehren.

Haben Sie schon Vorschläge für Ehrenbürger/-innen?

Ich möchte keine konkreten Personen nennen, um keine Vorschläge vorwegzunehmen. Ich habe auch noch kein Gefühl, ob der Antrag durchgehen wird oder nicht. Das wird wahrscheinlich ein Ringen um jede Stimme.

Was sind Ihre Erwartungen?

Ich gehe davon aus, dass der Antrag eine heftige Diskussion auslösen wird. Als ich ihn eingereicht habe, haben die anderen Fraktionen das ja gesehen und es gab schon einzelne Reaktionen. Es ist auch kein Fraktionsantrag, sondern ein Einzelantrag meiner Person. Ich gehe nicht davon aus, dass alle hinter mir stehen, ich hoffe aber, es wird die Mehrheit meiner Fraktion sein.

Außerdem bin ich außerhalb des Stadtrats viel darauf angesprochen worden, von Leuten, die aus der Presse davon erfahren haben. Das freut mich auch, weil viele darüber nachdenken und jetzt überhaupt erst wissen, dass es keine einzige Frau unter den Ehrenbürgern gibt. Ohne den Antrag und das Presseecho darauf hätte es vermutlich kaum jemand gewusst.

„Wir schreiben die Geschichte nicht um – wir holen nach, was Männer verpasst haben“ erschien als Schwerpunktthema erstmals am 1. April 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 100 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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