Graue Wolken hängen über Leipzig, es liegt ein Gewitter in der Luft. Das Wetter am 16. Mai 2022 unterstreicht die schwermütige Stimmung, die in der Funkenburgstraße im Westen der Stadt herrscht. Vor der Hausnummer 4 spielt ein Musikerduo Akkordeon und Violine. Sie verstummen, als ein Mann mit Hammer und Meißel sich dem Haus nähert und aus den Lautsprechern der erste Redebeitrag ertönt: „Eine ganze Familie, die hier lebte, wurde ausgelöscht. Sorgen wir dafür, dass sie in unserer und der Erinnerung vieler Menschen weiterlebt.“

An diesem Montag, 16. Mai, verlegt Künstler Gunter Demnig, Initiator der Stolpersteine, im Leipziger Westen insgesamt zehn davon in Gedenken an die Familie Rotter – sowohl in der Funkenburgstraße als auch in der Jahnallee. Die Geschichte der Rotters nachzuvollziehen, haben sich 17 Fußballer der U15-Mannschaft des 1.FC Lokomotive Leipzig zur Aufgabe gemacht.

Unterstützt wurden sie dabei vom Erich-Zeigner-Haus, einem Leipziger Zentrum und Begegnungsort für gelebte Zivilcourage und Demokratie. Außerdem verschaffte ihnen die Publikation „Mit Sportgeist gegen die Entrechtung. Die Geschichte des jüdischen Sportvereins Bar Kochba Leipzig“ (von Gerlinde Rohr, langjährige Leiterin des Sportmuseums Leipzig, und Yuval Rubovitch) einen ersten Einblick in die Thematik.

Was die jungen Menschen während ihres Trainingslagers im Sommer 2021 herausfanden, geht weit über die Lebensdaten der einst hier wohnenden Familie hinaus. Die historischen Dokumente aus dem Staatsarchiv belegen: Die Rotters zeichneten sich durch großes Engagement in der jüdischen Gemeinde und der Leipziger Stadtgesellschaft aus.

Gründer von Bar Kochba

Seit 1903 betrieben sie die Firma „Rotter Rauchwarengroßhandlung und Kommission“ im Leipziger Zentrum, vor deren Adresse „Brühl 33“ (ehemalig „Brühl 45“) bereits 2020 eine Gedenktafel zu Ehren des Engagements und der Arbeit der Familie angebracht wurde. Außerdem war das Familienoberhaupt, Adolf Rotter, gemeinsam mit 50 Sportbegeisterten maßgeblich an der Gründung des jüdischen Sportklubs „Bar Kochba Leipzig“ im Jahr 1920 beteiligt.

Die Jugendfußballmannschaft von Bar Kochba (1922)Die Jugendfußballmannschaft von Bar Kochba (1922). Foto: Pierre Gildesgame Maccabi Museum, Ramat Gan, Israel

Bevor Adolf Rotter den später mitgliederstärksten jüdischen Sportverein Deutschlands gründete, hatte er drei seiner Söhne beim VfB Leipzig angemeldet – dem Vorgängerverein von Lok. „Karl Josef trat im Oktober 1916 in den Verein ein; Fritz Egon und Curt zwei Jahre später. Sie spielten im Punktspielbetrieb des VfB“, erklärt die Rednerin Gerlinde Rohr, langjährige Leiterin des Sportmuseums Leipzig.

Nachdem Adolf Rotter im Jahr 1930 eines natürlichen Todes gestorben war, übernahm seine Ehefrau Eugenie mit den gemeinsamen Söhnen Curt, Fritz Egon, Otto und Karl Josef die Leitung der Rauchwarengroßhandlung. Adolf Rotter erfuhr nie, dass seine Familie in den folgenden Jahren von der Schreckensherrschaft des NS-Regimes betroffen war – durch Verhaftungen, Flucht, Deportation und zum Teil auch durch Ermordung.

Das Schicksal einer jungen Familie

In der Funkenburgstraße 4 nimmt das Schicksal der Familie seinen Anfang. Hier lebte der älteste Sohn von Adolf und Eugenie, Otto Rotter (*1896), mit seiner Ehefrau Marianne. „1927 wurde dann hier ihr Sohn Heinz geboren. Im Dezember 1931 folgte Klaus Adolf“, erzählt Gerlinde Rohr. „Ihr gemeinsames Glück an diesem Ort währte jedoch nur sehr kurze Zeit.“

Der Titel der 102. Ausgabe der LZ, seit 27. Mai 2022 im Handel. Foto: LZ

Denn nach der Machtübernahme der Nazis 1933 nahmen Diskriminierung, Ausgrenzung und Demütigung der jüdischen Bevölkerung rapide Fahrt auf. Otto flüchtete deshalb bereits 1933 nach Frankreich. Marianne folgte ihrem Mann mit den beiden sechs und zwei Jahre alten Söhnen am 2. April 1934.

Sechs Jahre lebte die Familie in Frankreich, wog sich in Sicherheit, schrieb Briefe an den Rest der Familie in der Jahnallee 14. Mit dem Internierungsgesetz konnten ausländische Familien jüdischer Herkunft, wie auch die Familie Rotter, ab 1940 in Frankreich durch die deutsche Wehrmacht jederzeit verhaftet werden. „Wir kennen den Tag der Verhaftung der Rotters nicht. Wir können nur vermuten, dass sie sich an diesem Tag zum letzten Mal gesehen haben“, so Gerlinde Rohr.

Otto Rotter wurde am 7. Juli 1942 gemeinsam mit 928 weiteren Personen nach Auschwitz deportiert. Seine Frau Marianne und sein Sohn Heinz wurden am 8. August, knapp einen Monat später, auch dorthin gebracht und direkt nach ihrer Ankunft ermordet. Der jüngste, erst 10 Jahre alte Klaus-Adolf verstarb bereits im Übergangslager Beaune-la-Rolande südlich von Paris.

„Das Leben war längst ein Kampf ums Überleben“

Gerlinde Rohr beendet ihre Rede, als die Stolpersteine für die vierköpfige, junge Familie vor der Haustür verlegt sind. Nach einer Schweigeminute ziehen die knapp 40 Anwesenden still weiter Richtung Jahnallee 14, vorbei an dem Eckhaus, in dem Adolf Rotter einst „Bar Kochba“ gründete, vorbei an dem Gehweg, den seine Jungs jede Woche zum Fußballtraining entlangliefen.

Die ersten Regentropfen erreichen den Fußboden, als die Prozession vor dem prächtigen Gebäude am Waldplatz anhält. Wahrscheinlich beobachteten einige Nachbarn an einem ebenso diesigen Tag im November 1938 die Verhaftung von Karl-Josef und Fritz Egon. Auch Eugenie musste mit ansehen, wie ihre Söhne grundlos inhaftiert wurden.

Zwar kamen sie kurze Zeit später zunächst wieder frei, doch das bedeutete erst den Anfang vom Ende, erzählt Gerlinde Rohr: „Das Leben der Familie Rotter war längst ein Kampf ums Überleben geworden. Es lag nahe, dass ihre Söhne Eugenie dazu drängten, 1939 zu ihrem Sohn Otto nach Paris zu fliehen.“ Eugenie starb 1942 in Paris. Ob sie von dem Schicksal ihrer zurückgebliebenen Söhne erfuhr, ist unklar.

Dem jüngsten Sohn der Rotters, Curt (*1904), gelang 1941 die Flucht in die Vereinigten Staaten mit seiner Frau Minna und dem gemeinsamen, dreijährigen Sohn Adolf Pinkas Rotter. Curt verstarb 1981 in New York. Währenddessen musste Karl Josef, als Mitglied des letzten Bar Kochba-Vorstandes, den Verein auflösen. Auch die Rauchwarenfirma seines Vaters wurde Ende der 1930er Jahre aus dem Handelsregister gelöscht.

Lok-Stammtorhüter in Auschwitz ermordet

Auch das Leben von Fritz Egon, dem Fußballtalent der Familie, drehte sich schon lange nicht mehr um Sport. „1933 erhielt Fritz Rotter für sportliche Leistungen beim VfB Leipzig eine Auszeichnung. Der VfB meldete dann im Februar 1934 den Austritt Fritz Rotters aus dem Verein“, erzählt VfB-Präsident und Lok-Aufsichtsratsmitglied Jens-Peter Hirschmann. „Was brachte einen 32 Jahre alten Mann, der 16 Jahre lang dem VfB treu war – ob als Stammtorhüter zwischen den Pfosten oder als Mitglied im Jugendausschuss – dazu, seinen Verein zu verlassen?“

Nach 50 Meisterschaftsspielen zwischen Nationalspielern und Legenden des Lok-Vorgängervereins hieß es in der VfB-Mitteilung, dass Fritz Egon aufgrund von „finanziellen Schwierigkeiten“ aus dem Verein austreten musste. Tatsächlich war der VfB gezwungen, seine jüdischen Mitglieder aus dem Verein zu schmeißen, so Hirschmann. Eine kleine Pappkarte meldete schließlich: Fritz Egon und Karl Josef, verstorben am 16. Dezember 1941 in Auschwitz.
„Nicht nur Technik und Taktik, sondern Werte fürs Leben“

Der VfB-Präsident Jens-Peter Hirschmann, der die Zusammenarbeit zwischen Lok und dem Erich-Zeigner-Haus angestoßen hat, beendet seine Rede: „Damit Jugendliche heute frühzeitig erkennen, wenn Leute aus ihrer Mitte gedemütigt und ausgegrenzt werden, haben wir dieses Projekt gestartet. Habt den Mut, gegen Intoleranz und Diskriminierung so früh wie möglich das Wort zu erheben!“

Auch die Mitarbeiter/-innen des Erich-Zeigner-Hauses bedanken sich noch einmal für die Zusammenarbeit. Zwar sei man bei einigen Seiten auf Desinteresse gestoßen, die beteiligten Aufsichtsräte, Trainer und auch die Jungs seien aber sehr engagiert bei der Sache gewesen. „Und man muss hervorheben, dass Lok Leipzig einen Großteil der Spenden für das Projekt selbst zusammengesammelt hat“, so Henry Lewkowitz, Vorsitzender des Erich-Zeigner-Hauses. Die über 1.000 Euro für die Stolpersteinverlegungen kamen vor allem durch Durchsagen bei den Lok-Spielen zusammen.

Die U15-Mannschaft von Lok Leipzig vor den Stolpersteinen für Familie Rotter. Foto: Antonia Weber

„Lok Leipzig hatte seine dunklen Zeiten und wir wollen diese nicht ignorieren. Dieses Projekt ist keine reine Symbolik. Die Geschichte unseres Vereins reicht lang zurück und wir wollen die umfangreiche Historie gemeinsam mit unseren Jüngsten aufarbeiten“, so Vizepräsident und Sportvorstand des 1. FC Lok Leipzig, Torsten Kracht. „Wir wollen den Jungs nicht nur Technik und Taktik mitgeben, sondern auch Wissen und Werte fürs Leben.“

Stolperstein vor dem Lok-Stadion?

Das nächste Projekt sei schon in Planung: Bereits im Sommer 2022 soll die Geschichte von Gyula Kertész gemeinsam mit der Jugendmannschaft recherchiert werden. Der gebürtige Ungar mit jüdischen Wurzeln war der erste professionelle Fußballtrainer Deutschland. 1932 wechselte er von Union 03 Altona zum VfB Leipzig. Kertész war maßgeblich an der Erfolgsserie des dreimaligen Deutschen Meisters und Sieger des Tschammerpokals (heute DFB-Pokal) VfB Leipzig beteiligt.

„Jetzt liegt es noch an uns, eine Förderung zu finden. Die Stadt Leipzig wollte das Projekt nicht fördern“, betont Henry Lewkowitz vom Erich-Zeigner-Haus. Wenn man jedoch einen Förderer findet, werde das Projekt definitiv umgesetzt. „Interessant hieran wäre, dass wir uns ja mit einem verfolgten Trainer beschäftigen und deshalb seine letzte Arbeitsstätte der Ort für die Stolpersteinverlegung wäre. Und das ist dann nun mal das Lok-Stadion. Zumindest der Aufsichtsrat hat dem Projekt schon zugestimmt.“

Das letzte Wort an diesem Mittwochnachmittag haben die Jungs der U15-Mannschaft. Sie zitieren Frank-Walter Steinmeier, der im Mai 2020 zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus sagte: „Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft.“

Es gibt kein Ende des Erinnerns: Lok-Fußballer erforschen das Schicksal der jüdischen Familie Rotter“ erschien erstmals zum Schwerpunktthema am 27. Mai 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 102 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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