In ihrem Auftritt bei „Lanz“ betonte die als Bundesverfassungsrichterin vorgeschlagene Juristin Frauke Brosius-Gersdorf: „Ich vertrete absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft.“ Sie trat damit den Vorwürfen entgegen, ihre Ansichten insbesondere zum § 218 seien linksradikal und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Doch was ist „die Mitte“?
Inzwischen zählen sich die Parteien zur Mitte, die als demokratisch gelten: CDU, CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und selbst Die Linke. Ein Grund für dieses Gedrängel in der Mitte ist, dass sich mit der rechtsnationalistischen AfD eine verfassungs- und demokratiefeindliche Partei gebildet hat, deren Verbot in Erwägung gezogen wird.
Mehr noch: Die AfD und der mit ihr nach rechts verschobene gesellschaftliche Diskurs sorgen dafür, dass sich unzählige rechtsradikale Gruppierungen gebildet haben bzw. aus der Verborgenheit herausgetreten sind. Diese knüpfen bewusst an den gewalttätigen Nationalsozialismus an und arbeiten mit den gleichen Methoden wie die NSDAP: einschüchternde Gewalt, völkischer Nationalismus, rassistische Umtriebe.
Hinzu kommt, dass mit dem BSW am eher linken Rand eine Partei um Wählerstimmen wirbt, die sich in Vielem als kompatibel mit der AfD erweist. Auf diesem Hintergrund sehen sich die Parteien der Mitte zur Zusammenarbeit verdammt. Gleichzeitig nimmt aber die Bereitschaft unter den Wähler/-innen eher zu als ab, der AfD die Stimme zu geben. Auch liegen insbesondere für die junge Generation die katastrophalen Folgen des nationalsozialistischen Terrorregimes in Deutschland inzwischen zu lange zurück, um als gegenwärtige Gefahr wahrgenommen zu werden.
Also stellt sich noch einmal die Frage: Was ist „die Mitte der Gesellschaft“? Zählen zu ihr alle, die die Grundwerte der Verfassung für unveräußerlich halten? Oder zeigt die gescheiterte Wahl von drei neuen Bundesverfassungsrichter/-innen nicht sehr deutlich, dass „die Mitte“ gar nicht in der Lage ist, alles abzudecken, was gesellschaftspolitisch notwendig ist und gedacht werden sollte? Mehr denn je habe ich den Eindruck, dass mit dem Begriff „die Mitte“ die politische Debatte verschwommener wird.
Darum plädiere ich dafür, „die Mitte“ anders zu definieren. Vom Mystiker Meister Eckhart (um 1260-1328) stammt der schöne Gedanke: „Wer um seine Mitte weiß, kann weite Kreise ziehen.“ Mitte bedeutet also nicht, eine konturlose Mittelposition einzunehmen. Im Gegenteil: Es kommt darauf an, sich über seine eigene Lebenshaltung, sein Selbst gewiss zu werden, um angstfrei dem anderen begegnen zu können.
Eckhart fordert dazu auf, sich über seine innere Haltung, seine Überzeugungen, seine eigene Mitte Gewissheit zu verschaffen, um auf diesem Fundament mit anderen kommunizieren zu können. Ein solches Verständnis von „Mitte“ ermöglicht zweierlei: sich selbst klar zu werden über sein inneres Wertegerüst und gleichzeitig dem anderen, wer immer dies auch sein mag, mit Offenheit zu begegnen.
Wenn wir das auf die gegenwärtige gesellschaftspolitische Situation übertragen, dann benötigen wir gerade in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft einen offenen und immerwährenden Diskurs über das, was uns trägt und hält. Einige Fundamente, von dem aus sich der Diskurs führen lässt, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes in den Grundrechtsartikeln versucht festzuhalten – nach der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrorregimes. Dieses hat bewusst und gezielt alle Werte zerstört, die Menschen Lebensgewissheit vermittelt und die Achtung des nahen und fernen Nächsten gefördert haben.
Gleichzeitig waren sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes darin einig, dass bei der Bildung „der Mitte“ den Religionsgemeinschaften eine herausragende Rolle zukommt – allerdings unter der Maßgabe, dass gerade die Religionsgemeinschaften Menschen dazu befähigen sollen, weite Kreise zu ziehen. Wer sein Leben vor Gott und den Menschen verantwortet, kann gar nicht anders, als in dieser Weise zu glauben, zu denken und zu handeln.
Denn alles Tun und Lassen der Menschen ist darauf ausgerichtet, Gott (für Christen: Jesus Christus) als die Mitte alles Seins, als Ausgangspunkt des Lebens zu betrachten, um mit Gottvertrauen in die Welt zu gehen, sich dem Nächsten zuzuwenden und voller Dankbarkeit ins Zentrum zurückzukehren.
Derzeit deute ich viele politischen Vorgänge als Ausfluss des Verlustes dieser Mitte – seien es die Nein-Stimmen im ersten Wahlgang der Bundeskanzlerwahl, die vielen Nein-Stimmen bei der Wahl von Lars Klingbeil zum SPD-Vorsitzenden, die skandalösen Vorgänge bei der gescheiterten Wahl von drei neuen Bundesverfassungsrichter/-innen, die bewusste und gezielte Missachtung des Rechts in der Migrationspolitik – alles Ausdruck eines gefährlichen Opportunismus und Egoismus.
Auch die absurde Aufrüstungsspirale, in die unser Land durch groteske Beschlussfassungen auf Initiative eines Politganoven geraten ist, oder der fatale Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ zeigen an, dass wir derzeit die Mitte, das Fundament einer auf Frieden und Verständigung ausgerichteten Politik aus den Augen verloren haben.
Damit ist dem Opportunismus, aber auch dem Anwachsen des Rechtsnationalismus Tür und Tor geöffnet. Es ist also höchste Zeit, dass wir uns alle mehr um „die Mitte“ kümmern müssen, die uns beides ermöglicht: Haltung und eine im Gottvertrauen verankerte Selbstgewissheit auf der einen und Offenheit und Vielfalt auf der anderen Seite.
Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und ist gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens engagiert. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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