Sie scheint weit mehr als vier Wochen zurückzuliegen – die Bundestagswahl. Denn ihr Ergebnis hat zu einer politischen Konstellation geführt, die ich mir vor vier Jahren von der Ampel-Koalition erhofft hatte: ein Zusammenwirken von politischen Parteien, die programmatisch das Meinungsspektrum eines großen Teils der Bevölkerung abbilden, eben der demokratischen Mitte, und gerade deshalb notwendige Weichenstellungen vollziehen können.
Schon vor Beginn der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD ist ein Bündnis zwischen diesen drei Parteien zustande gekommen – einschließlich Bündnis 90/Die Grünen. Damit konnten finanzpolitische Bedingungen geschaffen werden, um im Bereich der europäischen Sicherheits- und Friedenspolitik, der Sanierung von Bildungseinrichtungen und maroder Infrastruktur, des Klimaschutzes und der sozialen Gerechtigkeit notwendige Investitionen zu ermöglichen.
Diese so nicht zu erwartende Entwicklung hat die beiden Parteien (SPD, Bündnis 90/Die Grünen), die bei der Bundestagswahl abgestraft wurden, zum bestimmenden Faktor werden lassen – und das aus zwei Gründen:
- Zum einen haben CDU und CSU im Wahlkampf auf das Thema gesetzt, das allein der AfD genutzt hat: die Migration, in ihren Augen die „Mutter aller Probleme“. Gleichzeitig haben CDU und CSU im Wahlkampf die Augen davor verschlossen, dass das, was dringend politisch umgesetzt werden muss, nur möglich ist, wenn die Schuldenbremse reformiert wird. Für beide, wider besseres Wissen vollzogene Fehler wurden CDU/CSU damit bestraft, dass sie die notwendige Korrektur nur durch einen Schulterschluss mit Bündnis 90/Die Grünen vornehmen konnten – also mit der Partei, die vor allem die CSU zotig bekämpfte.
- Zum andern dämmert es auch der CDU/CSU, dass der rechtsextremistischen AfD nur dann das Wasser abgegraben werden kann, wenn es in der Gesellschaft gerechter zugeht und die Narrative der AfD nicht bedient werden. Das setzt voraus, dass zum einen das Thema Migration vor allem und in erster Linie als Bedingung für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt kommuniziert wird. Dazu müssen die Bürger/-innen sehr bald und vor Ort spüren, dass Bildungseinrichtungen saniert werden, bezahlbarer Wohnraum entsteht, Renten auskömmlich sind und die medizinische Versorgung wie die Pflege älterer Menschen gewährleistet ist. Dieser Handlungsdruck hat die SPD schon in den sog. Sondierungsgesprächen in eine starke Verhandlungsposition gebracht.
Der öffentliche Diskurs in den vergangenen vier Wochen hat zwei Dinge offenbar gemacht:
- Sobald das Thema Migration, als Angsttreiber kommuniziert, im öffentlichen Diskurs an die hintere Stelle rückt, wird es still um die AfD. Denn eines haben die Diskussionsrunden im Wahlkampf deutlich ans Tageslicht gebracht: Außer Lügen und demokratie- und europafeindliche Parolen hat die AfD zu allen anderen Politikfeldern nichts beizutragen – es sei denn, dass sie für alle Missstände in der Gesellschaft die Migration verantwortlich macht und in einer ausländer- und europafeindlichen Politik den Schlüssel für alle Probleme sieht. Darum ist es unerlässlich, dass bei den Koalitionsverhandlungen das Thema Migration die Überschriften erfährt, die es verdient:
- Deutschland braucht Migration und fördert deshalb Willkommenskultur und Integration vor Ort.
- Deutschland bettet seine Asyl- und Flüchtlingspolitik in den rechtlichen Rahmen der EU ein.
- Straftäter, die einen Migrationshintergrund haben, werden wie jeder straffällig gewordene Mensch im rechtsstaatlichen Verfahren zur Rechenschaft gezogen.
- Seit 1990 ist die europäische Sicherheits- und Friedenspolitik immer mehr verkümmert. Das hat zu zwei bedenklichen Entwicklungen geführt:
- Die EU spielt in der internationalen Politik kaum eine eigenständige Rolle und trägt wenig bis nichts dazu bei, internationale Konflikte jenseits militärischer Intervention zu lösen (siehe Naher Osten).
- Die Länder der EU sind seit mindestens 10 Jahren Zielscheibe destabilisierender Einflussnahme sowohl des Putin-Russland wie der beiden Trump-Administrationen und ihrer ideologischen Vorkämpfer (Steve Bannon). Beide haben ein offensichtliches Interesse daran, dass Europa wieder in sich befehdende Nationalstaaten zerfällt. Darum werden rechtsnationalistische Parteien wie die AfD und autokratische Regierungen wie in Ungern massiv unterstützt.
Auf diesem Hintergrund ist es geradezu fahrlässig, sich den Herausforderungen, denen sich Europa durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und durch die Trump-Administration ausgesetzt sieht, allein mit einem gigantischen Aufrüstungsprogramm stellen zu wollen. Das verkennt viele Probleme und überlagert notwendige Aufgaben:
- Jede Waffe, die produziert wird, wird eines Tages eingesetzt. Nur weiß heute niemand, durch wen, wann, wo und zu welchem Zweck. Allein das muss zur größten Vorsicht bei der Rüstungsproduktion führen.
- Die Erfahrung zeigt: Der Rüstungssektor (Produktion wie Handel) ist besonders anfällig für jede Art von Korruption, Verschwendung und Misswirtschaft.
- Die Resilienz einer demokratischen Gesellschaft wird nicht durch Hochrüstung und zur Ideologie getriebene „Kriegstüchtigkeit“ erzeugt, sondern durch die Bereitschaft der Bürger/-innen, die freiheitliche Demokratie zu leben und zu verteidigen. Die Alternative zur Hochrüstung ist nicht Diplomatie (wie es AfD und BSW suggerieren). Vielmehr muss in demokratischen Gesellschaften Bildung und gerechte Teilhabe Vorrang vor allem Militärischen haben.
- Die EU muss sich zunehmend als Vereinigte Staaten von Europa verstehen. In ihrem Entstehen aus einem langwierigen, schwierigen, aber erfolgreichen Friedensprozess heraus sollte die EU dazu veranlassen, in diesem Sinn in der internationalen Politik zu wirken.
Schon die ersten Wochen nach der Bundestagswahl haben gezeigt: Die neue Bundesregierung wird nur dann Erfolg haben, wenn sie nicht den Narrativen der Rechtsnationalisten folgt. Sie muss das in den Mittelpunkt stellen, was die Demokratie stärkt: Klimaschutz und Ertüchtigung des Industriestandorts Deutschland, Erneuerung der Infrastruktur, gerechte Teilhabe an Bildung, Einkommen, Wohnen, Aufbau einer europäischen Friedensordnung.
Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und ist gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens engagiert. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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Es gibt 3 Kommentare
Die Wirklichkeit überholt Christian Wolff. Schafe gibt es wohl immer, gern mit Knoblauch abgeschmeckt. Mjamjam.
Der Herr Pfarrer scheint Sie ja regelmäßig hart zu triggern. Wohnt da irgendwo in Ihrem opportunistischen Wendehalsherzen etwa doch noch ein Rest Gewissen und kämpft ums Überleben? Halten Sie uns auf dem Laufenden!
Der Artikel verdreht völlig die Tatsachen. Es ist doch wohl klar wer hier im Wahlkampf gelogen hat.