Wer heute in Städten Orientierungspunkte sucht, kann diese nach wie vor in Kirchen und ihren Türmen finden. Das gilt vor allem für kleinere Ortschaften. Da ist zum Teil noch die Anordnung des mittelalterlichen Städtebaus sichtbar: Marktplatz, Rathaus, Kirche – also das in Architektur abgebildete Dreiecksverhältnis von Ökonomie, Politik und Glauben.

Auf dem Marktplatz werden Waren getauscht, da herrscht Handel und vollzieht sich Wandel; im Rathaus werden die öffentlichen, politischen Angelegenheiten verhandelt; in der Kirche wird die Wahrheitsfrage gestellt, wird durch Wort und Tat an Gottes Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und die Ehrfurcht vor dem Leben als Grundlage für ein friedliches Zusammenleben erinnert.

Doch dieses Bild einer Stadt hat sich offenbar überlebt. Wer heute Bilderbücher kauft, mit denen Kindern das städtische Leben nahegebracht werden soll, stellt schnell fest: Kirchen mit ihren Türmen sucht man da vergebens. Sie sind verschwunden – so wie vielen Menschen das Bewusstsein darüber abhandengekommen ist, dass städtisches Leben aus mehr als Feuerwehr, Polizei und Bäckerei besteht.

Ob es am Verlust des alten Stadtbildes liegt, dass sich Menschen – wie behauptet wird – zunehmend unwohl fühlen in Städten bzw. dass ihnen eingeredet werden kann, sie könnten sich nicht mehr frei und sicher bewegen? Dabei hat es die unsicheren Zonen in Städten immer schon gegeben. Ich kann mich gut erinnern, wie unsere Eltern uns schon in den 50er Jahren vor bestimmten Straßenzügen warnten. Diese sollten wir unbedingt meiden.

Es waren die Straßen, in denen Familien in prekären sozialen Verhältnissen lebten, die der heilen Welt von Bürgerlichkeit nicht entsprachen. Es waren Straßen, in denen Kinder ihr Zuhause hatten, mit denen wir gemeinsam auf der Schulbank saßen. Gleichzeitig beherrschten dort die „Halbstarken“ die Szene. Damals beschworen nicht wenige Bürger/-innen vergangene Zeiten: So etwas hätte es unter Hitler nicht gegeben; da konnten Frauen ohne Angst auch bei Dunkelheit auf die Straße gehen können.

Das Traurige heute: Es sind genau diese Ressentiments, die Bundeskanzler Friedrich Merz heraufbeschwört, wenn er ein von Migrant/-innen gereinigtes Stadtbild insinuiert und dabei Menschen mit dunkler Hautfarbe pauschal verdächtigt, Angst zu erzeugen und eine potenzielle Bedrohung für Frauen darzustellen; wenn nach wie vor so getan wird, als sei „die Migration die Mutter aller Probleme“.

Es könnte ja auch sein, dass die Mutter aller Probleme der Verlust eines angstfreien und hoffnungsvollen Zusammenlebens ist – in dem Bewusstsein, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist, mit Recht und Würde gesegnet.

Es ist also höchste Zeit, auch in der politischen Diskussion an das Stadtbild anzuknüpfen, das Prosperität, Vielfalt, Sicherheit ausstrahlt: ein lebendiges, respektvolles Zusammenleben von sehr unterschiedlichen Menschen, die sich die Verschiedenheit ihrer kulturellen und religiösen Herkunft nicht vorwerfen, die keine völkische Homogenität einklagen, die in der Vielfalt keinen Unsicherheitsfaktor sehen, sondern sich in einem lebensfreundlichen Umfeld gemeinsam um ein menschliches Miteinander bemühen.

In einem solchen Zusammenleben können dann auch all die Verwerfungen im wahrsten Sinn des Wortes aufgehoben, eingesammelt, unschädlich gemacht werden, die zum irdischen Dasein gehören: Herrschsucht, Gewalt, Überheblichkeit, Ausbeutung.

Ein solches Zusammenleben will das Dreiecksverhältnis von Marktplatz, Rathaus, Kirche versinnbildlichen – zu ergänzen noch mit Schule und Gotteshäusern anderer Religionen. Sie stehen für Bildung und Kultur, Wirtschaftlichkeit und eine die Menschenwürde und Menschenrechte achtende Politik.

Allerdings: Das funktioniert nur, wenn sich alle Bereiche städtischen Lebens aufeinander beziehen, ohne einen Macht- oder Alleinvertretungsanspruch zu stellen; wenn sie ein demokratisches Miteinander praktizieren. Die Kirchgemeinden vor Ort können dabei an die drei Errungenschaften der Reformation anknüpfen: Freiheit, Bildung, Verantwortung.

Sie können durch Wort und Tat das in das Dreiecksverhältnis einbringen, wozu ein getröstetes Gottvertrauen ermutigt: ohne Angst und ohne Menschenfurcht, ohne religiös aufgeheizte oder rassistisch konnotierte Ressentiments das Zusammenleben gestalten und dabei vor allem auf die Menschen zu achten und sie zu würdigen, die es mit sich selbst und wir mit ihnen schwer haben.

Im Umfeld des Reformationstages sei allen Kirchenmitgliedern ins Bewusstsein gerufen: Mit dieser Aufgabe hätten alle Kirchgemeinden genug zu tun, anstatt ihre Kräfte in endlosen Strukturdebatten und absurden Verwaltungskonstrukten zu vergeuden und dabei materielle wie Glaubensgüter zu verbrennen oder brach liegen zu lassen. Denn wenn städtisches Leben gelingen soll, dann benötigen wir die Glaubensüberzeugung, die das ganze menschliche Leben in den Blick nimmt:

  • nicht nur das Gelingen, sondern auch die Möglichkeit des Versagens und Scheiterns, die Begrenztheit und Vergänglichkeit alles Lebens;
  • die gute Nachricht, dass wir eben nicht alles in den engen Grenzen von Geburt und Sterben erreichen und auskosten müssen;
  • dass kein Mensch ohne die Kategorie der Dankbarkeit gegenüber Gott, der jedem Menschen das Leben schenkt, auskommt, damit Anspruchshaltung und soziale Zuwendung sich ausgleichen;
  • dass Gottvertrauen ein Motor ist, der uns nicht nur antreibt, sondern vor Überheblichkeit und ängstlichem Rückzug bewahrt.

Diese Botschaften sind für das Zusammenleben unerlässlich. Sie müssen nicht von jedem Menschen geteilt werden. Aber Christ/-innen und Kirchenmitglieder haben die schöne Möglichkeit, von ihnen wie vom täglichen Brot zu leben und sie vor Ort durch das offene Wort, diakonisches Handeln, Bildung, Musik und Pflege der Tradition zu kommunizieren und damit Teil einer lebendigen Stadt zu sein.

In diesem Sinne haben die Kirchen auch für diejenigen die Tür zu öffnen, die als Migrant/-innen ihren Ort im Ort suchen. Die Kirchen der Reformation können getrost migrantischer werden.

Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und ist gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens engagiert. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/ 

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Das Stadtbild hat sich extrem verschlechtert. Prekäre Verhältnisse sind offensichtlich. In der DDR gabe es keine Bettler, niemand musste Betteln, ein Auskommen war gesichert, auch durch die Arbeitspflicht. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kapazitäten zur Beherbergung, Versorgung, “Integration” sind überdehnt und erschöpft. Die Industrieproduktion sinkt. Man merkt es mittlerweile massiv auf dem eigenen Konto und eben auch beim Wandeln durch die ” Große Handelsstadt”. Gleichzeitig hält Deutschland daran fest seine woke Weltverbesserungsideologie lautstark weiter zu verbreiten und Geschenke ob Ukraine, Kolumbien, China, Afrika kostenlos zu verteilen. Kurz vorm Einmarsch der Goten in Rom, wurden nochmal die Lager geräumt und Spiele veranstaltet für das herum lungernde, verwöhnte und wehrlose eigene Volk. Der Gottesglaube schützte die Römer und ihre Stadt nicht vor den heidnischen Barbaren. Geträumt wird aber in jeder Zeit. Einen Unterschied gibt es aber, die Gefahr des Einmarsches der Barbaren war in Rom nicht erkannt worden, heute beschwört man die Gefahr des Krieges durch jemanden, der sich dieses Chaos nun wirklich nicht aneignen will, den zu plündern gibt es hier nichts mehr, wie man im Stadtbild sieht.

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