Es gibt Themen, die kann man gar nicht oft genug auf die Tagesordnung bringen. Und so stand am 13. Oktober auch wieder ein Antrag der Grünen zur Erinnerungspolitik in der künftigen Parkstadt Dösen im Programm. Scheinbar überflüssigerweise, wie Linke-Stadträtin Mandy Gehrt meinte. Aber manchmal brauchen Themen auch Zeit, bis sie wirklich zu Allgemeingut werden. Denn 2019, als es schon einmal darum ging, standen die bedrohten Bäume im Gelände ganz oben in der Dringlichkeit.

Eigentlich beides recht eigenwillige Themen, bei denen man sich als landläufiger Stadtbewohner fragt: Warum muss sich eigentlich der Stadtrat um so etwas kümmern? Gibt es dafür keine Regularien in der Verwaltung, an die sie sich halten muss? Auf die man sich also einfach verlassen kann?Dass dem nicht so war, wurde 2019 in sehr heftigen und langen Stadtratsdebatten deutlich. Auch dass das eher nicht die „Schuld“ der Verwaltung ist, sondern die eines windelweich geklopften deutschen Baurechtes, das die Regulierungsmöglichkeiten der Kommunen massiv beschnitten hat und gleichzeitig den Schutz von Biotopen und Artenvielfalt drastisch erschwert hat.

Im Grunde haben es Generationen von Gesetzgebern geschafft, die Grundgesetz-Formel „Eigentum verpflichtet“ regelrecht auf den Kopf zu stellen und zu einem „Eigentum hat Vorrecht“ zu machen. Wobei die Parkstadt Dösen ein Beispiel dafür ist, wie der Druck aus dem Stadtrat auch eine Kommunalverwaltung dazu bringen kann, mit einem Investor etwas intensiver darüber zu verhandeln, was auf dem Gelände geschieht und was nicht. Das Ergebnis ist trotzdem ein Kompromiss. Beim Erhalt des historischen Grüns genauso wie bei Stellplätzen und bezahlbarem Wohnraum.

Umso mehr fällt auf, dass das Leipziger Kulturdezernat bei den Verhandlungen zu einer sichtbaren Erinnerung an die Geschichte des Ortes schon recht weit ist und den Investor dazu gebracht hat, die Erinnerung auch mit in die Vermarktung des Geländes einzubinden.

Weshalb dann die Stellungnahme des Kulturdezernats zum Antrag der Grünen, die Erinnerung vor allem an die Kinder-„Euthanasie“ auf dem Gelände wachzuhalten, eher eine zustimmende Erweiterung und Bestätigung war, dass man schon lange am Thema dran ist und auch schon vertragliche Vereinbarungen getroffen hat.

Man ist also schon viel weiter, als die Grünen beantragten, stellte dann auch Linke-Stadträtin Mandy Gehrt fest, die an eine ebenso emotionale Rede der damaligen Linke-Stadträtin Margitta Hollick erinnerte, die 2019 schon genau diese Erinnerungskultur anmahnte. Damals wurde das Anliegen als Notiz mit ins Protokoll übernommen und damit von OBM Burkhard Jung durchaus auch als Arbeitsauftrag verstanden, auch wenn es damals im Antrag der Grünen zum Baumerhalt noch keine Rolle spielte.

So gesehen kam der Grünen-Antrag jetzt wirklich etwas spät, den Jürgen Kasek am 13. Oktober einbrachte: „Auf dem Gelände der ehemaligen Nervenheilanstalt Dösen in Leipzig soll in angemessener aber deutlich sichtbarer Form an die Geschichte der Nervenheilanstalt unter besonderer Berücksichtigung der NS-Zeit und den Opfern der Kindereuthanasie gedacht werden. Hierbei ist unter anderem auch die Errichtung einer Tafel, die an die Geschichte erinnert, zu prüfen.“

Denn prüfen muss die Verwaltung ja jetzt nichts mehr. Eher geht es um die Themen, die auf den geplanten Gedenkstelen sichtbar gemacht werden sollen. Wozu auch – dazu schrieb ja die SPD-Fraktion einen eigenen Antrag – auch die kurze Geschichte des Eitingon-Krankenhauses gehört. Den Antrag übernahmen die Grünen übrigens genauso wie den Verwaltungsstandpunkt. Vom Streit, den Jürgen Kasek befürchtet hatte, war wirklich nichts zu sehen.

Aber man versteht die – wenn auch späte – Dringlichkeit des Antrags, der einmal mehr das schwärzeste Kapitel der Heilanstalt in die Aufmerksamkeit hebt: „Zwischen 1918 und 1928 und nochmals von Januar bis April 1940 leitete Hermann Paul Nitsche die Klinik. Zum 1. Januar 1940 kam Direktor Hermann Paul Nitsche von Pirna-Sonnenstein für vier Monate wieder nach Leipzig-Dösen zurück und übernahm am 1. Februar 1940 die dortigen Amtsgeschäfte. Nitsche entwickelte und ‚erprobte‘ im Vorfeld der nationalsozialistischen Kinder-‚Euthanasie‘ mit Assistenz der Oberärzte Georg Renno und Herbert Schulze in Dösen ein Vergiftungsschema mit Luminal, wonach den Kindern über mehrere Tage leicht überdosierte Luminalgaben in Tablettenform oder intravenös verabreicht wurden. In Verbindung mit einer zeitgleich stattfindenden systematischen Unterernährung führte dies in kurzer Zeit zum Tod der Kinder durch Lungenentzündung.“

Mandy Gehrt nannte dann auch noch einmal die Zahl der Kinder, die auf diese Weise getötet wurde: 624. Was eben auch Jürgen Kaseks Forderung unterstreicht, dass wir alles tun müssen, „damit so etwas nie wieder geschieht“. Auch deshalb war der Antrag – der übrigens durch eine intensive Diskussion im Stadtbezirksbeirat Südost ausgelöst wurde – noch einmal wichtig. Auch als ein weiterer Moment der Öffentlichkeit für das Thema „Euthanasie“, das in Leipzig erst sehr spät überhaupt öffentliche Aufmerksamkeit erhielt.

Der Antrag wurde dann auch von der Ratsversammlung einstimmig angenommen. Ohne Streit. Dazu ist das Thema zu wichtig.

Die Debatte am 13. Oktober 2021 im Stadtrat

Video: Livestream der Stadt Leipzig

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